08.06.2017

Sinn

Gedanken über das eigentlich Wesentliche.


Wie ist es möglich, dass die Welt die Gestalt hat, die sie heute hat? Dass chaotisierende und zerstörende Kräfte so zunehmen?

Die Menschheit lebt rein äußerlich und nach außen – und die Seelen lassen sich bestimmen von ganz nach außen ziehenden Kräften. In unserer Zeit leben neue Götter oder Götzen, und vollkommen unbewusst für die wirkliche Bedeutung des Geschehens lassen die Seelen sich überwältigen.

Rudolf Steiner schilderte in einem Vortrag einmal, wie sich dem Geistesforscher schon damals die Seelen darstellten, die über die Schwelle des Todes gingen. Jene Seelen, die sich ganz an das äußere Leben verlieren, die keine Beziehung zum realen Geistigen finden, gleichen nach dem Tod einem dünnen Gerippe. Ihre ganze Leere und Substanzlosigkeit wird dann offenbar werden. Sie können sich dann nicht mehr in einer leeren, substanzlosen Umwelt verstecken. Das Wirkliche wird dann offenbar sein.

Welchen Sinn hat die ganze ins Äußere und Oberflächliche gerissene Hektik des modernen Lebens? Eine Seele, die noch einen Rest an Bewusstsein bewahrt hat, fühlt unmittelbar, dass es keinen Sinn hat – keinen als ebendiesen: sie zu zerreißen. Sie wegzureißen von dem, wovon sie fühlen könnte, dass es Sinn hat. Hektik und Oberflächlichkeit ist Wegreißen von dem, was überhaupt erst Sinn haben würde.

Das ganze „moderne“ Leben ist eine ungeheure Sinn-Vernichtungs-Maschinerie – aber nicht im abstrakten, nicht-entscheidenden Sinne, sondern im Sinne einer wirklichen, wirkenden Vernichtung des Seelischen überhaupt. Die Seele wird sich selbst entrissen und vernichtet – und dies ohne es zu merken, weil sie hervorragend abgelenkt und sogar unterhalten wird. Sinnlosigkeit kann einen ungeheuren Unterhaltungswert haben. Die Seele ist längst konditioniert auf eine Sucht nach Eindrücken. Ob diese Sinn in sich bergen, spielt dann keine Rolle mehr.

Und moderne „Geistes“-wissenschaften und „Geistes“-wissenschaftler gefallen sich darin, die Sinnlosigkeit noch zu zelebrieren. Etwa die Linguistik, die alles in beliebige „Sprachspiele“ dekonstruiert. Diese völlig sinnentleerten Theorien sind selbst bloße Sprachspiele, ohne es zu bemerken. Der sinn-freie Intellekt, der zu einem völlig toten Gerippe zerflattert ist, gebärdet sich hochmütig mit Theorien, die alles Sinnhafte einebnen, relativieren, zu etwas Beliebigem machen. Doch womit wird dann die Gültigkeit einer solchen Theorie gestützt? Nicht etwa mit Plausibilität – sondern allein mit dem Hochmut, der dem zerflatternden Intellekt innewohnt. So, wie das Ich, das keine Substanz hat, sich gerade mit dem größtmöglichen Selbstbezug stützen muss. Bloße Luft, die sich zum Ballon aufbläst...

Die Auszüge aus Vinenz Eraths Buch, die ich vor wenigen Tagen hier wiedergab, sprechen von einer Zeit, in der noch Sinn empfunden wurde. Ich spreche nicht von Dogmen. Ich spreche davon, dass die Seele noch ein Organ für Sinn hatte. Und nicht nur das – auch eine Sehnsucht, in Übereinstimmung mit diesem Sinn zu leben. Die Seele spürte noch Sinn – und sie hatte noch eine damit verbundene Sehnsucht.

Das wird einmal deutlich in dem Abschnitt „Engel des Lebens“, in dem der Ich-Erzähler den ganzen Zauber des Erlebens als kleines Kind beschreibt – das tiefe Eintauchen in die heilige Mystik der umgebenden Natur. Es wird aber auch deutlich in dem Wesen seiner Mutter, von der es heißt:

Aber hinter der strengen Frömmigkeit und Sittlichkeit tat sich mir bald, wie eine blühende Wiese, ein Reich auf von so zauberhafter Weite, Schönheit und Strahlenfülle, daß ich mit der Zeit mehr und mehr in seinen Bann geriet. Es war das Reich des Religiösen schlechthin, das Reich der Gottesfreiheit. Hier ergingen sich seltsame Gedanken und Gefühle wie Wesen von einem andern Stern. Hier lebte etwas, ein Erbe der Menton, ein geisterndes Suchen und Finden, Sichvereinen und Lösen von Vorstellungen, die ihr nicht aus der engen dörflichen Glaubenswelt zugewachsen waren. Von hier kamen mir auch die ersten tiefen Gedanken über die Dinge, die rätselhaften Erscheinungsformen. [...]
Frömmigkeit ist eine Kunst wie Weisheit. Sie ist ein Geschenk und nicht nur Herzensübung. Mutter verstand sich auf die Kunst, fromm zu sein. [...] Woher hatte sie, die einfache Bauersfrau, ihre Gottesweisheit? Wer nicht um das Geheimnis einer wahren, schenkenden Frömmigkeit weiß, wird es nie begreifen. Aus Büchern kam sie ihr nicht. Mutter las wenig. Aber wenn sie irgendwo ein Goldkorn gefunden hatte, sei es in einer Predigt, einem Gespräch, einem Zeitungsroman, behielt sie es, sann darüber nach und liebte die kleine Weisheit so lange und beinah schwärmerisch, bis sie ihr zur großen Weisheit, zur Offenbarung wurde. [...]
Mutter liebte das Leben und wollte es in edler Form genießen. Diese Form, angefangen beim sauberen Tuch, das sie als Mentontochter über alles schätzte, über den besinnlichen Gang zur Kirche, über die langsam sich öffnende Blüte einer Liebe, den Duft hingebender Frömmigkeit, bis zu der größten Form, dort, wo der Mensch in seinem körperlichen Sein auslischt und nur noch lauscht und schaut und sich an das Wunder der Gottheit verliert, bis sie ihn segnet mit Glaube und Zuversicht, diese Form vermißte sie bei ihren Kindern.
Einmal warf sie meinen Brüdern ins Gesicht: „Ihr freßt das Leben, wie eine Kuh Krautplatschen hineinfrißt.“

Der letzte Satz trifft das moderne Leben mit der ganzen Weisheit einer noch tief innerlichen Seele. Der modernen Seele ist nichts mehr heilig. Sie kann nicht mehr tief empfinden. Sie „frisst“ das Leben, „wie eine Kuh Krautplatschen hineinfrisst“...

Die Heiligkeit des Lebens verschwindet – nicht etwa, weil das Leben nicht heilig wäre, sondern weil die Seele nichts davon mehr empfinden kann. Die Seele selbst wäre das Organ, die Fülle des Heiligen zu empfinden. Aber wenn sie selbst leer und dünn wie ein Gerippe geworden ist, kann sie auch nichts mehr empfinden. Dann aber zieht die Heiligkeit an ihr vorüber wie ein Engel Gottes – und sie bemerkt es nicht einmal.

Heute muss man sagen: Die Romantik war ihrem wahren Wesen nach nicht etwa Gefühlsübertreibung – sie wäre Seelenrettung. Nur muss sie in ihrem Wesen verstanden werden. Die „Krautplatschen-Seelen“ können nichts davon mehr empfinden. Dennoch ist es wahr, was Novalis sagte: „Die Reise geht nach innen“. Geht die Reise der Seele nicht nach innen, geht sie ins Nirgendwo. Entweder die Seele vertieft ihr Wesen – oder sie verliert es. Entweder wird sie ein „tiefes Wasser“ ... oder ein Gerippe.

Heute haben viele Seelen schon extremste Schwierigkeiten, auch nur den äußersten Sinn der Worte zu erfassen, auf die alles ankäme. Was soll denn das sein, „Ernst“? Oder was soll das sein, „Tiefe“? Oder „Ehrfurcht“? Oder ... „Unschuld“?

Die moderne Seele wehrt sich bereits gegen all das, weil sie ganz und gar angefressen oder sogar durchtränkt ist von der Leere des Nichtbegreifens, aber auch von dem Hochmut, mit dem sie überhaupt nicht mehr tief, ernst, substantiell sein will. Sie liebt längst ihr Luft- und Gerippe-Sein und kann sich etwas anderes gar nicht mehr vorstellen. Sie liebt ihren eigenen Hochmut, und sie liebt immer mehr die Sinnlosigkeit, die wunderbar mit ihrem Selbstbezug zusammengeht. Es gab einmal das Wort „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“. Heute kann es vielmehr heißen: „Stell dir vor, die Welt könnte gerettet werden und keiner hat Lust“.

Das ist nur möglich, wenn die Seele den Sinn, den substantiellen Sinn, längst unendlich verloren hat. Und nicht nur ihn – sogar die Sehnsucht danach. Dann ist sie erst völlig gottlos geworden. Nicht, wenn sie Gott verloren hat. Sondern wenn sie sogar die Sehnsucht nach der göttlichen Welt, die voller Sinn ist, verloren hat. „Sinnlos geht die Welt zugrunde“. In Lust an der Sinnlosigkeit. In einer versteckten Todessehnsucht, in einer Lust am Sinnlosen, die noch immer dem eigenen Hochmut schmeichelt. Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. In der Dekadenz der Veräußerlichung stirbt der Spaß zuletzt. Den Spaß liebt die Seele viel mehr als ihr eigenes Sein... Gerade das zeigt ihre ganze Leere.

Der veräußerlichte Kult der Oberflächlichkeit ist nichts als ein Zudecken der völligen Seelenleere. Der andere Weg führt hinein in die Suche nach einer verlorenen Tiefe. Dort, in dieser verlorenen Tiefe, lebt noch immer der Sinn ... der die Welt überhaupt in ihrer Existenz hält, noch immer.

In etwa zwei Wochen erscheint ein neues Büchlein von mir, das den Weg in diese verlorene Tiefe wiederum mit einem heiligen Ernst suchen wird.