21.12.2017

Sprache und Macht – und das Heilende

Von Hate Speech, Gesinnungspolizei, Beleidigungen, reinem Denken und gutem Willen.


Inhalt
Das entfesselte Monster der „Political Correctness“
Hexenjagd auf Kinderbücher
Die Macht der „Opfer“
Der unsichtbare Dritte
Die Lösung des Dilemmas
Das reine Denken und der gute Wille
Der Friede der Himmel
Friede auf Erden
Das Herz des Mädchens


Das entfesselte Monster der „Political Correctness“

Früher haben sich die Menschen mit wirklichen Keulen die Köpfe eingeschlagen, heute tun sie es verbal – diese Wahrheit ist fast schön sprichwörtlich. Auf der anderen Seite haben schon die eigenen Eltern einem bisweilen beigebracht, was bei einem verbal aggressiven Menschen der Fall zu sein scheint: „Der hat’s nötig...“ Es ist ja deutlich, dass die Tatsache, einer gedanklichen Diskussion intellektuell oder zeitlich oder wie auch immer nicht gewachsen zu sein, ein Ohnmachtserlebnis erzeugt – dem man dann durch verbale Aggressivität entflieht, um sich trotzdem nicht als „Verlierer“ oder gar „Opfer“, sondern als „Gewinner“ zu fühlen. Man demütigt den Anderen, um nicht demütig (bescheiden) eine eigene Niederlage hinnehmen zu müssen.

In einem äußerst erhellenden Aufsatz „Political Correctness: Die Macht der Opfer“ [o o] betrachtet Bernd Stegemann einen anderen Aspekt der ungeheuren „Macht der Sprache“. Der Aufsatz ist ein etwas überarbeiteter Auszug seines Buches „Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie“ (er selbst ist Professor für Dramaturgie an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“).

Stegemann analysiert scharfsinnig, wie ein ursprünglich sinnvoller Impuls, nämlich, die Sprache von potenziell rassistischen Anteilen zu befreien, ausufert und als „Political Correctness“ völlig über die Ufer tritt und alle Grenzen überschreitet. Wie also das (christliche) Gleichgewicht gesucht und doch fanatisch völlig wieder verlassen wird – nun auf der anderen Seite. Er verweist auf die Tatsache, dass oftmals nicht mehr Minderheiten Opfer einer rassistischen Sprache werden – sondern längst zahllose Gesinnungspolizisten im Netz und in der realen Welt überall die kleinsten Abweichungen der „neuen“ Sprachregelungen aufspüren und ihrerseits oftmals mit blankem Hass diejenigen verfolgen, die ihrer Meinung nach „Täter“ sind, „Rassisten“ und so weiter. Jede kleine „Unkorrektheit“ löst so einen Orkan an „Shitstorm“ und „Hatespeech“ aus.

Bildlich gesprochen könnte man sich vorstellen, wie ein Kind ein wenig Pudding auf den Tisch kleckert und die Mutter hasserfüllt brüllt: „Wie oft habe ich Dir gesagt...“, wobei sie selbst auf die Tischdecke geifert... Solche Bilder sind hilfreich, um wieder empfinden zu können, was eigentlich verhältnismäßig ist – und um sich auf den ursprünglichen Sinn einer Sache zu besinnen.

„Political Correctness“ sollte die strukturelle Gewalt der Sprache beenden. Man sollte also meinen, sie wäre Menschen ein Anliegen, die den Frieden und das Gute lieben. Aber die „Hasspolizei“, die nun teilweise jede Abweichung von der „weißen Weste“ verfolgt, unterscheidet sich in nichts von einem gefühllosen, gnadenlosen Vollstrecker. Es wird dann in keiner Weise mehr der Frieden und das Gute geliebt – vielmehr werden eigene Gewalt- und Machtimpulse zügellos ausgelebt, ermächtigt von einem Gesetz, das sogar über dem Gesetz steht: dem ungeschriebenen Gesetz der „Political Correctness“, dessen Schergen sich gleichsam selbst ermächtigen.

Hexenjagd auf Kinderbücher

Ulrich Greiner bringt in seinem Aufsatz „Die kleine Hexenjagd“ [o] eher harmlose, aber eindrückliche Beispiele aus dem Bereich der Kinderbücher. So ist etwa Pippi Langstrumpf nicht mehr „Negerprinzessin“, sondern „Südseeprinzessin“. Und da, wo sich in Otfried Preußlers „Die kleine Hexe“ Kinder zur Fastnacht als Neger, Chinesenmädchen und Türke verkleiden, wird dies in künftigen Ausgaben ebenfalls verschwinden. Man empfinde einmal, was hier wirklich geschieht. Literarische Meisterwerke werden ungerührt angetastet, um sie – zu verfälschen! In das geistige Erbe berühmtester Autoren wird eingegriffen, um ihre Werke dem Geschmack und den sprachlich-stilistischen Auflagen der jeweiligen Gegenwart anzupassen, sie dahin zurechtzubiegen.

Es wird den Menschen die Fähigkeit und sogar das Recht abgesprochen, sich in die jeweiligen Bücher und deren ganze Welt hineinzuversetzen. Es wird nicht erlaubt, sondern unmöglich gemacht, sich in der „kleinen Hexe“ in eine Zeit hineinzuversetzen, wo die Kinder noch vollkommen unschuldig sich in Neger, Chinesenmädchen und Türken verkleidet haben, weil dies für sie einen aufrichtig exotischen Zauber hatte. Diese Kinder wollten damit niemanden erschrecken – sie wollten sich einfach in etwas möglichst Fremdes verwandeln. Kaum etwas ist so unschuldig wie die Szenerie der kleinen Hexe, solche Meisterautoren wie Preußler gibt es heute überhaupt nicht mehr. Anstatt sich um die überbordende Gewalt oder die coolen Oberflächlichkeiten in der übrigen Literaturflut oder aber um die strukturelle Gewalt und Seelenleere der normalen Alltagssprache zu scheren, werden unschuldigste Szenen aus Kinderbuch-Klassikern brutal gegen neue Formulierungen ausgetauscht, die einem absurden „Correctness“-Wahn gerecht werden.

Greiner weist völlig zu Recht darauf hin, dass brutal-dumpfe Neonazis sicher nicht aus der Lektüre der „Kleinen Hexe“ hervorgehen – im Gegenteil! Und bezogen auf Pippi Langstrumpf fragt er: „Sollte man die pädagogische Energie nicht besser auf das Heer jener Illiteraten richten, die von Pippi Langstrumpf noch nie etwas gehört haben und trotzdem genau wissen, wer der Neger ist?“ – Das ist der Punkt: Die Gesinnungspolizei richtet ihren brutalen Blick auf die Worte und verliert völlig den Blick für die eigentliche Realität.

Die Macht der „Opfer“

Doch zurück zu Stegemanns Aufsatz. Er fragt: „Was passiert aber, wenn eine bestimmte Gruppe in der Gesellschaft die Macht bekommt, die Regeln für das Sagbare bestimmen zu dürfen?“ – und weist darauf hin, dass dies ein Merkmal totalitärer Regime ist.

Im völlig entbrannten Kampf um die „Political Correctness“ hat immer mehr der die Macht, der sich als Opfer einer „Incorrectness“ sieht – und es gilt immer weniger die Unschuldsvermutung. Wer vom vermeintlichen Opfer als Täter stigmatisiert wird, trägt das Stigma, und immer mehr wird das vermeintliche Opfer Kläger und Richter in einer Person.

Dabei, so Stegemann weiter, dient die „Political Correctness“ längst nicht mehr der Befreiung des Individuums, mit der sie angetreten ist. Längst geht es umgekehrt darum, den Täterstatus der vermeintlich „Inkorrekten“ festzuschreiben – die „Rassisten“, die „Sexisten“, die „Faschisten“ und so weiter. Das Urteil aber fällt nicht etwa ein Gericht, sondern der, der die „Political Correctness“ für sich vereinnahmt, sich also als Kläger und Richter aufschwingt. Und es geht nicht um eine Verurteilung einer einzelnen Tat – sondern um die Stigmatisierung als Rassist, als Sexist und so fort. Ist man einmal in die Mühlen dieser „Selbstjustiz“ geraten, gibt es sozusagen kein Entrinnen mehr.

Während in Amerika Rassismus nach wie vor durchaus vielfach vorhanden ist, setzen sich an den Unis Strömungen durch, die eine umgekehrte Diskriminierung in die Wege leiten – worauf Artikel wie „Die Debatten-Polizei“ [o] eines anonym bleiben wollenden Dozenten einer führenden US-amerikanischen Universität schon vor zwei Jahren hinwiesen. Er beschreibt, wie etwa einem Professor „Rassismus“ vorgeworfen wurde, weil er die Namen zweier asiatischer Studentinnen verwechselte. Und er betont, dass die Kritik an diesen Auswüchsen inzwischen weitgehend tabu sei – und einer angstbesetzten Atmosphäre gewichen sei. „Insbesondere weiße, männliche, heterosexuelle Professoren können es sich kaum mehr leisten, die Proteste offen zu kritisieren.“ Auch er selbst gibt zu: „Vor allem, was ich sage, frage ich mich im Stillen, ob ein radikaler oder nur misslauniger Student mich missverstehen könnte.“

Es ist also mittlerweile dahin gekommen, dass nicht mehr frei gedacht und gesprochen, nicht mehr kontrovers diskutiert und um Erkenntnis gerungen werden darf. Die neue Gedanken-Polizei hat es geschafft, dass bereits in den Köpfen die Schere aktiv ist, um das eigene Denken zu zensieren.

Ein langer Artikel im „Atlantic”, „The Coddling of the American Mind” [o] schildert weitere Aspekte dieses „Hätschel-Kurses“, in dem schon „Mikroaggressionen“ definiert und verurteilt werden, „Trigger-Warnungen“ ausgesprochen werden, wenn etwa in Ovids Metamorphosen die Vergewaltigung der Nymphe Kallisto durch Jupiter thematisiert wird und so weiter. Man mache sich die Entwicklung einmal klar: Hierzulande werden Waldorfschulen für ihre angebliche „Kuschelpädagogik“ verspottet – in den USA setzen die Studenten an den Unis eine gleichsam alles umfassende Gedankenkontrolle durch, in der nichts mehr behandelt werden kann, was nicht die Prüfung extremer „Political Correctness“ durchlaufen hat. Es fehlt nur noch, dass Professoren wie in der chinesischen Kulturrevolution oder zu Sowjetzeiten öffentliche Selbstkritik üben müssen, wenn sie den neuen „Gesetzen“ nicht entsprochen haben.

Die Macht des Schweigens

Aber auch Schweigen ist Macht. Schon immer haben die Mächtigen die Machtlosen so lange, wie sie konnten, durch bloßes Schweigen am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Erst wird geschwiegen, dann wird gespottet, dann wird bekämpft.

Das Schweigen ist sozusagen die eindrücklichste Form absoluter Missachtung. Der selbstherrliche Herrscher hält es für unter seiner Würde, das „Geschwätz“ des vermeintlichen Pöbels auch nur bis zu seinen Ohren dringen zu lassen, geschweige denn, sich eine einzige Minute dazu herabzulassen, überhaupt hinzuhören. Die moderne Variante, dasjenige, was der vermeintlich lächerliche, minderbemittelte, pathologische, dogmatische, fanatische oder sonstwie bereits gedeutete und heruntergemachte Gegenüber zu sagen hat, dann eben als lächerlich, pathologisch usw. auch verbal abzustempeln und herunterzumachen, ist demnach geistiges Erbe und geistige Nachahmung dieses selbstherrlichen Absolutismus. Man muss sich sozusagen haushoch über den Anderen erheben – man kann gar nicht anders, als mit jeder Entgegnung die Gegenmächte des Spottes, der Abwertung und des Niedertretens mit offenen Armen in seine Seele aufzunehmen. Die Seele „hurt“ also mit den Gegenmächten, um das menschliche Gegenüber so vernichtend wie möglich zu treffen.

Das Schweigen ist dann die höchste Stufe dessen. Das Gegenüber ist nicht einmal mehr einer Reaktion würdig. Wenn eine Diskussion voranging, tritt dieses Schweigen als Kampfmittel meistens dann ein, wenn noch die rudimentärsten „Argumente“ schließlich versagen. Man hüllt sich in Schweigen, weil die Haltlosigkeit des eigenen Verhaltens gleichsam völlig offensichtlich geworden ist. Im Bilde des Märchens gesprochen: Der Kaiser ist nackt – und schnell greift er zu dem Mantel des Schweigens, hüllt sich in diese besonders boshafte Variante der Verachtung und zieht daraus von neuem ... Macht.

So kommt es mir mit den „Egoisten“ vor. Bereits die Existenz als Blog führt ja dazu, dass ohnehin nur von Kommentar zu Kommentar gehüpft wird. Selten einmal geht es ja überhaupt um ein wirkliches Gespräch. Die Blogger sind ja meistens nur Kommentatoren – und ein Kommentar hat es nun einmal an sich, ein bloßer Kommentar zu sein, in vielen Fällen bloß die Absonderung der eigenen subjektiven Meinung. So wird ein Blog ein Sammelbecken subjektiver, oberflächlicher, schneller Kommentare. Er stiftet über Jahre hinweg ein Gemeinschaftsgefühl und schenkt einem das Gefühl, wichtig zu sein – in seiner Existenz und mit seinen Meinungen. Und mit dem so schleichend sich entwickelnden Hochmut, nimmt man sich das Recht heraus, selbst ausführliche Gedankengänge mit ein, zwei nach Feierabend hingeworfenen spöttischen Sätzen abzutun – und das auf dem Blog ohnehin herrschende Bild des vermeintlichen Gegners segnet dieses Verhalten ab.

Und wenn dies alles nichts hilft, dann wird eben einfach geschwiegen. Die Karawane zieht weiter. Einige Tage später unterhält man sich kommentarmäßig über die nächsten Themen... Überall lose Fäden, nichts zuende Geführtes. Da, wo Sorgfalt und Genauigkeit, Ausdauer und vertiefte Betrachtung endlich einmal beginnen müssten, da wird gerade angefangen zu schweigen. Man hatte seine Deutungen und Spottgesänge ja längst abgesondert – selbst wenn sie vollkommen widerlegt wurden, wen interessiert’s? Der nackte Kaiser hüllt sich in abgehobenes Schweigen. Der letzte Auswurf des „Egoisten“-Blogs war der Birkholz-Kommentar zu meinem Aufsatz „Vom Sinn des Leidens“ [o], der lautete: „Oder ob er uns vielleicht nur verarscht?“ [o].

Ahrimanisch-brutaler kann Spott und Verachtung gar nicht ausgedrückt werden. In das Blog-Wir-Gefühl eingehüllt, wird hier mit einem einzigen Satz ein langer Aufsatz pervers entwertet und lächerlich gemacht – ein Aufsatz, der versucht, in das Urmysterium des Christentums einzutauchen: den Sinn des Leidens, ganz konkret. Es ist wahrhaft enthüllend und zugleich entsetzend, wie solche „Blogger“ und „Kommentatoren“ agieren. Hier ist es mehr als mit Händen zu greifen, was das ganze „Bloggen“ in der Seele eines Menschen anrichtet. Hier erlebt man wirklich unmittelbar die Mechanismen – und die dahinterstehenden Wesenheiten.

Der unsichtbare Dritte

Kehren wir zu Stegemanns Aufsatz zurück. Für die „politisch Korrekten“ lauert der „Rassist“ hinter jeder Ecke und jeder Formulierung. Aber im Sprach-Kampf um Zuschreibungen und Kategorisierungen ist auch das Umgekehrte möglich: Sich die Zuordnung zu einer „Kategorie“ zu verbitten und dies als „populistisch“ anzuprangern. In dieser Weise wird oft jede Kritik an „Eliten“ von diesen selbst bekämpft. Dabei ist es doch völlig klar, dass in einer Gesellschaft, in der die Schere der Einkommens- und Vermögensverteilung immer weiter auseinanderklafft, diese Eliten existieren – allein schon statistisch.

Stegemann macht entlarvend darauf aufmerksam, dass es die Gruppe der „Rassisten“ also geben soll, nicht aber eine „Elite“ – die sich mit dem Populismus-Vorwurf immer wieder neu unsichtbar machen kann. Der Gebildete kann jederzeit seine (Gruppen)Identität dekonstruieren – und zugleich Anderen rufschädigende Etiketten anheften. Stegemann: „Man selbst ist immer die Ausnahme, aus der man keine Regel ableiten darf. Die anderen hingegen sind nur ein Beispiel für eine Regel, die bekämpft werden muss.“

Er weist darauf hin, dass die intellektuellen Eliten „die Sprachüberwachung und ihre Codes so hegemonial ausgebaut [haben], dass man sie als die höfische Sprache unserer Zeit bezeichnen kann.“ Doch die Stigmatisierung von allem, was sich rechts der Grenze befinde, erzeuge immer mehr Wut. „Die moralische Kraft der offenen Gesellschaft reicht nicht mehr aus, um alle diejenigen auszugrenzen, die an ihr Kritik üben.“

Worauf Stegemann damit hinweisen will, ist, dass keineswegs nur Populisten Kritik an den Eliten üben – und dass die jahrelange Abwehr sehr berechtigter Kritik die Menschen erst in die Arme wirklicher Populisten treibt. Und dann macht Stegemann den eigentlichen Schritt – die Entlarvung der schweigenden Macht im Hintergrund: die Interessen des Kapitals (bzw. seiner Eigentümer). Er fragt:

Warum wendet sich die Aggression der Political Correctness [PC] nicht gegen einen sehr viel mächtigeren Feind, als es ein Mensch ist, der weniger Glück mit seiner Herkunft hatte und weniger Geld für seine Bildung ausgeben konnte? Warum traut sich die ganze Armee der PC-Könner nicht an die Sprachspiele des Kapitals? Denn ist die Diskriminierung durch Armut nicht eine ebenso brutale Ausgrenzung wie die durch Race und Gender? […] Und der Klassenrassismus, der sich in unzähligen Formulierungen findet, wäre es wert, einmal dekonstruiert zu werden.

Stegemann weist daraufhin, dass jahrzehntelang die soziale Ungleichheit verschwiegen, beschönigt und bagatellisiert wurde – und man darf hinzufügen: dass die Verlierer der neoliberalen Globalisierung selbst stigmatisiert wurden (Stichwort der „faule Arbeitslose“, wie ihn die Springer-Presse immer wieder zeichnete). Mit dem Verleugnen der Realität haben die Eliten, die von ihr profitierten, selbst die Tür für den rechten Populismus geöffnet:

Das postfaktische Sprechen ist keine Erfindung der Populisten, sondern des Neoliberalismus.

Die „Fake News“ mögen diese Entwicklung auf eine absolute Spitze treiben, doch die Wahrheitsbeugung und -brechung war schon immer das Mittel elitärer Machtkreise. Dazu bedarf es nicht einmal irgendeiner Verschwörungstheorie. Die diesbezüglichen Fakten kann einem jeder Wohlfahrtsverband erklären. Allein schon der harte Kampf um die genauen Formulierungen des Armutsberichts der Bundesregierung ist selbst ein Armutszeugnis, das genau davon Zeugnis ablegt. Stegemann resümiert in Bezug auf die Entwicklung der „Political Correctness“.

Was Diskriminierung bekämpfen wollte, produziert Ausschluss aus dem öffentlichen Sprechen, und was die Waffen der Sprache zivilisieren wollte, hat zu einer gewalttätigen Sprachpolizei geführt, vor der sich immer mehr Menschen fürchten, und was die Gesellschaft gleicher machen wollte, hat zu einem Diskurs geführt, der die Eliten vor jeder Kritik schützt.

Mit anderen Worten: Während für bestimmte Bereiche des Sprachlichen und des Verhaltens (Rassismus, Sexismus) inzwischen eine Empfindsamkeit gewachsen ist, die teilweise in eine umgekehrte Diktatur mündet, ist für den Bereich des Ökonomischen die Lethargie noch längst nicht verlassen, ja, wächst die Lähmung noch immer weiter, je mehr auch der Zuwachs der ökonomisch-politischen Macht einiger Weniger und der Umverteilung sich stillschweigend immer weiter vollzieht. Die „Political Incorrectness“ der Vermögens- und Einkommensverteilung und der schamlosen Bereicherung, individuell und strukturell, ist noch nicht einmal annähernd thematisiert, wird nicht wirklich angetastet.

Die Lösung des Dilemmas

Worum geht es also? Es geht um ein aufrichtiges Denken und Wahrnehmen – und Erkennen. Es geht darum, wieder mit offenen Augen und mit dem Herzen zu sehen. Die immer weiter zunehmende Schere zwischen Arm und Reich existiert genauso wie noch immer ein diskriminierender Umgang gegenüber Frauen und Minderheiten. Ökonomisch wird eine breite Mehrheit von den maximal profitierenden „oberen Zehntausend“ (ein Prozent oder sogar 0,1 Prozent) diskriminiert – und man darf stark davon ausgehen, dass die damit einhergehende ökonomische Unsicherheit immer breiterer Bevölkerungsschichten jede Unmenschlichkeit des Umgangs von Mensch zu Mensch weiter befördert.

Nun geht es weder um eine kommunistische Diktatur noch um eine Diktatur der „Political Correctness“. Aber fanatische Extreme kann nur eine einzige Kraft vermeiden: die Kraft des Herzens, die das eigentliche, das wahre Ziel immer im Auge behält – und im Willen.

Immer geht es um wahre Menschlichkeit. Wahre Menschlichkeit geht nicht durch Diktatur, sie kann nicht erzwungen werden, sie muss empfunden werden – als Herzenssehnsucht. Ökonomisch haben wir heute aber das Diktat des Profits – der zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Das Denken und Sprechen bekommt immer mehr Grenzen – das Kapital und die Profitinteressen bekommen immer weniger Grenzen.

Wir brauchen ein neues Augenmaß – und das radikale Neuaufwerfen der Frage, worum es eigentlich geht. Eine Gesellschaft, die nicht mehr das Wohlwollen kennt und fördert, zerbricht. Verständnis und Toleranz müssen auf allen Ebenen geübt werden – nicht als Pflichtprogramm, sondern weil es im Menschenwesen eine unmittelbare Sehnsucht danach gibt und es einfach nur darum geht, diese nicht zu verschütten. Und es bedeutet auch nicht, Diskurs, Konflikt und Kontroversen auszuschalten – aber es bedeutet eine neue Grundlegung der Menschlichkeit. Wer das Menschliche, die humanitas, lieben gelernt hat, muss die Kontroverse nicht scheuen – denn auch die Wahrheitssuche und die Unterschiedlichkeit der Ansichten und Standpunkte ist menschlich.

Indem ich all dies erkenne, empfinde und liebe, werde ich tolerant – denn dann liebe ich auch das Werden und Ringen des anderen Menschen.

Allerdings hat dieses Szenario eine Voraussetzung: Die Sehnsucht nach innerer Entwicklung darf selbst nicht verschüttet werden. In einer veräußerlichenden Gesellschaft hört das innere Werden gerade auf – dann aber ist eine Gesellschaft immer auf dem Weg in den Kampf aller gegen alle, sei es durch Gesinnungsdiktatur, sei es durch die spaltende Diktatur des Ökonomischen. Die Zukunftsfrage jeder Gesellschaft ist letztlich eine spirituelle: Wie sehr hält der Mensch noch eine letzte Verbindung zu seinem wahren Wesen? Denn hier liegt der Keim zu jeder inneren Entwicklung. Anders als mit einer fortwährenden Rückkehr zu diesem Punkt sind alle hier berührten Fragen nicht zu lösen. Es sind Fragen, die im Innersten empfunden werden müssen. Dafür aber muss die Seele, muss das Menschenwesen sich erst einmal selbst empfinden. Je mehr der Mensch sich selbst in seinem wahren Wesen verliert, desto mehr verliert er auch den Mitmenschen.

Das reine Denken und der gute Wille

Es ist unmittelbar deutlich, wie sehr dies mit einer Läuterung der Seelenkräfte zu tun hat. Ein immer reiner werdendes Denken braucht nicht zu urteilen – erst recht nicht erfüllt von Antipathien oder sogar Hass. Aber die Entwicklung eines solchen reinen Denkens setzt bereits einen guten Willen voraus. Denn wozu sollte man sein Denken von allen überschießenden, dunklen Urteilen reinigen, wenn man es gar nicht will? Es braucht die Umkehr des Willens von einem unglaublich stark selbstbezogenen, konfrontativen in jenen geheimnisvollen guten Willen...

Dem reinen Denken geht es zunächst um die Wahrheit – es ist durchdrungen von Wahrheitsliebe. Und was ist es dann nicht? Es ist nicht eine Hure der eigenen Interessen, es wird nicht benutzt, um den eigenen Willen durchzusetzen. Es wird realisiert, um Erkenntnisse zu gewinnen, um Verständnis zu vertiefen – und auch die Sprache wird nur verwendet, um das so Gewonnene in größtmöglicher Klarheit und Transparenz zu formulieren, hinzustellen, um Anderen den Weg durch die zurückgelegten Gedanken ebenfalls zu ermöglichen. So wird sich das reine Denken jeglicher wertender Urteile und Formulierungen enthalten – oder aber seine Urteile so klar wie möglich machen, ohne Formulierungen zu verwenden, die das eigene Urteil brachial in andere Köpfe treten sollen, indem schon die Worte keinerlei andere Deutung mehr zulassen. Das reine Denken enthält sich der abwertenden Vokabeln, der Beleidigungen, der Verspottung. All dies hat es nicht nötig, weil es die Erkenntnisse klar und eindrücklich in reiner Weise entwickeln kann – so dass ein anderer denkender Mensch völlig frei der Denkbewegung nachgehen und zu eigenen Schlüssen kommen kann.

Was setzt dies voraus? Eine Liebe zu dem reinen Element des Denkens – das immer mehr gefunden werden kann, wenn es von den allzu subjektiven Zutaten gereinigt wird. Wenn der Mensch immer mehr erlebt, wie er sich in diesem Denkelement wirklich in einem Element bewegt, das gleichsam wie klares Wasser ist, ein Wunder. Es ist vergleichbar mit einer Liebe zu klarem Gebirgswasser, dem alles vorgezogen wird, was das Allerreinste durch Zusätze wie „Süße“, „Alkohol“ oder „Geschmacksverstärker“ verfälscht und verdirbt. Man muss gerade die Reinheit des Denkens lieben lernen – und man lernt, sie lieben, wenn man sie kennenlernt...

Und dann gibt es noch den guten Willen. Dies ist nicht nur die Liebe zu diesem Denkelement und zur Wahrheit (aletheia), auch zur Weisheit (sophia), sondern immer mehr überhaupt zum „Nicht-Ich“, zu allem, was ist. So heißt es in einem von Rudolf Steiner gegebenen Kindergebet: „Von Kopf bis Fuß...“. Es endet mit den Worten, dass nichts, was mich umgibt, mir Furcht gibt, sondern eben „nur Liebe zu allem, was um mich ist“. Dem gehen allerdings die Worte voraus „wenn ich Gott erblick“ – es geht also zumindest um ein innerstes Empfinden, das in der Welt überall etwas Heiliges anwesend ist, in der Natur, im Mitmenschen. Jede Liebe beruht darauf – denn jeder Liebe ist das Geliebte heilig, ob ihr dies bewusst ist oder nicht.

Der gute Wille – der in seinem Innersten Liebe ist, Liebe, die immer mehr wachsen kann – ist die einzige Kraft, die die Antipathien und die Antinomien (die scheinbar unvereinbaren Widersprüche) der heutigen Zeit und der Zukunft heilen kann.

Der Friede der Himmel

In diesem Sinne sei der Worte der Engel aus dem Lukasevangelium gedacht – denn auch dies ist Sprache, wenn auch Sprache viel höherer Wesen. Die Worte werden oft übersetzt mit:

Ehre sei Gott in der Höhe
und Friede auf Erden
den Menschen, die eines guten Willens sind

Man kann sich fragen, warum nur diese Menschen den Frieden „haben“ sollen. Aber man kann auch empfinden, dass sie diesen Frieden durch ihr Wesen „bekommen“ und bringen... Allerdings geht die Frage noch wesentlich weiter.

Der lateinische Text lautet:

Gloria in excelsis Deo
et in terra pax
in hominibus bonae voluntatis

Dies scheint dem zunächst völlig zu entsprechen. Verweilen wir jedoch zunächst bei der Glorie – dies ist ein Leuchten, das im Grunde aus sich heraus besteht. In dem griechischen Wort doxa wird dies noch deutlicher. Es ist der Gottesglanz. Die Engel preisen Gott zwar – aber ihr Lobpreis spiegelt gleichsam nur wider, was die Engel wahrnehmen. Die doxa strahlt von Gott aus – und der Lobpreis der Engel ist sozusagen das anbetende „Echo“. Der Begriff der „Ehre“, der dann später von Königen und Kirchenfürsten gefordert wurde, ist nur ein allerschwächster Abglanz und führt schließlich ganz in die Irre, wenn man nicht denkend-empfindend zum Ursprung dieses heiligen Wortes zurückkehren kann.

Und was geschieht auf Erden? Die Engel sprechen von einem Frieden auf Erden – in Menschen eines guten Willens. Aber wem gehört dieser gute Wille? Der Genitiv lässt es eigentlich offen, nicht so sehr im Lateinischen, aber im griechischen Originaltext der Septuaginta:

δόξα ἐν ὑψίστοις θεῷ
καὶ ἐπὶ γῆς εἰρήνη
ἐν ἀνθρώποις εὐδοκίας.

Doxa en hypsistois theo
kai epi gäs eirene
en anthropois eudokias

Ehre in den Höhen (dem) Gott
Und auf Erden (Gäa) Friede (Irene)
in Menschen (des) Wohlgefallens

Eudokia, Wohlgefallen, kommt von eu = gut und dokein = scheinen. Da in den göttlichen Welten alles real ist, geht es um einen real zur Erde niederströmenden Frieden. Diesen Weihnachtsfrieden kann jeder Mensch guten Willens jedes Jahr wieder in den heiligen Nächten erleben. Der Genitiv bezieht sich also auf das Gotteswesen selbst: die Menschen des Wohlgefallens sind jene, die Gott wohlgefallen, die ihm buchstäblich „gut scheinen“.

Vielleicht scheinen sie ihm gut, weil sie sich wirklich aufrichtig bemühen, nach Gottes Willen zu leben. Vielleicht scheinen sie ihm gut, weil es ihm in seiner Willkür so gefällt. Zunächst sind alle Extreme denkbar – von einem Erwerben von Gottes Gnade durch eigene Taten bis hin zu dem undurchschaubaren göttlichen Ratschluss. Es ist Luthers Verdienst, den Blick darauf gelenkt zu haben, dass die göttliche Welt nicht mit den irdischen Vorstellungen zu erfassen ist – weder mit den Vorstellungen von Leistung und Lohn, noch mit der Selbstherrlichkeit irdischer Herrscher, die sich zwar auf Gottgleichheit berufen, aber den Begriff des Göttlichen gerade völlig pervertieren.

Was wäre, wenn das göttliche „es scheint gut“ zunächst keine einzige Menschenseele ausschlösse? Wenn also in dem Weihnachtsfrieden der göttliche gute Wille ausströmen würde, hernieder zur Erde, als umfassende Gnade, ohne Unterschied? Dagegen scheint zu sprechen, dass die Menschen eben spezifiziert werden: in Menschen des Wohlgefallens. Aber gesprochen sind diese „Worte“ von Engeln – und die Engel sind es, die es offen lassen. Vielleicht wissen sie Gottes Ratschlüsse nicht, vielleicht wollen sie nicht vorgreifen. Aber sie nehmen den zur Erde strömenden Weihnachtsfrieden wahr – und künden von ihm.

Letztlich geht es doch nicht um die Frage, wem dieser Friede „gilt“ – sondern es geht darum, sein Herz und seine Seele für diesen zur Erde hernieder strömenden Weihnachtsfrieden zu öffnen. Könnte die Seele sich wahrhaft diesem Frieden öffnen, würde sie durch die Wirklichkeit selbst sehen, dass er auch ihr gilt... Und so hat auch die andere Übersetzung eine Wahrheit: Die Menschen, die eines guten Willens sind, können diesen Frieden in sich aufnehmen. Es geht um jenen guten Willen, der sich auf die göttliche Welt richtet – ihr soll sich das Herz in aufrichtiger Demut öffnen, um die Gnade zu empfangen. Und die Frage ist: Haben die Seelen heute noch diesen guten Willen? Haben sie noch die Fähigkeit zu wahrer Demut? Denn nur dann werden sie den Frieden empfangen können, der allen Menschen zugedacht  und zugesandt ist...

Friede auf Erden

Und erst nach diesem „himmlischen“ Wunder, nämlich dem sich ganz nur zwischen dem Himmel und der einzelnen Menschenseele ereignenden Wunder, kehrt sich das Geschehen um, wendet es sich nach außen. Nun wird die Seele, die den guten Willen hatte, sich ganz und gar den Himmelshöhen, dem Weihnachtsfrieden, zu öffnen, eine Seele, die den guten Willen überhaupt hat. Und dann wird sie eine Friedensbringerin.

In dem Kindergebet „Von Kopf bis Fuß...“, das sich zu Beginn im Grunde auch ganz der göttlichen Welt öffnet und das Menschenwesen als von dieser Gotteswelt geheiligt empfindet, heißt es dann: „Sprech ich mit dem Munde, folg ich Gottes Willen.“

Das kann man so sagen, sprechen, beten – und im nächsten Moment oder am nächsten Tag doch wiederum streiten, hassen, beleidigen... Immer ist die Frage, wie ernst man etwas meint, mit dem man sich im Gebet, in der Meditation, in der inneren Entwicklung überhaupt durchdringt. Nur der Ernst führt in die Tiefe der Realität – und so auch die Realität der Wandlung. Was aber ist Gottes Wille, wenn ich mit dem Munde spreche?

Die Engel verkünden Gottes Willen: Gottes Wille ist immer eine Realität, sie geschieht – und zu Weihnachten verkünden die Engel, dass der Wille Gottes als reinste Gnade als Weihnachtsfriede zur Erde strömt. Gottes Wille ist also der Friede – es ist der gute Wille schlechthin. Das Wollen des Guten – und in Gottes Wille wird dies Realität. Eine Realität, die die Seele aufnehmen kann, wenn auch sie guten Willens ist...

Aber dann ist der Sohn selbst, dessen heiliges Mysterium das Weihnachtsgeschehen umleuchtet, das Wort! Es ist der Logos selbst, der die Welt erschaffen hat, wie der Johannes-Prolog schaut. Wenn man dies mit gutem Willen auch nur ein wenig besinnen würde, müsste man empfinden, wie heilig dann das Wort ist! Der Weg dieses heiligen Empfindens würde nie zu Ende sein, weil er in immer größere Tiefen führen würde. Heilige das Wort, denn aus dem Logos als dem höchsten Gotteswesen ist alles hervorgegangen, in liebegetragener Weisheit...!

Eine solche Meditation, in ehrfurchtgetragenem gutem Willen, würde von selbst in ein reines Denken hineinführen, würde von selbst eine Liebe zu diesem reinen Element gebären – und eine Scham hervorrufen, wann immer man sich mit den Gegenmächten verbindet, um in hässlicher Subjektivität die Gedanken zu trüben, um auf diese Weise andere Menschenwesen herabzusetzen, lächerlich zu machen, zu verspotten. Der Logos selbst ist verspottet worden, als man ihn nach Golgatha führte. „Heilige das Wort!“ – das müsste ein allertiefstes Versprechen all jener Seelen sein, die sich dem Logos verbunden fühlen. Denn wann immer der Mensch spricht, bewegt er sich bereits im Element des Logos – und die Frage ist nur, ob er auch den Widersachern seine Seele öffnet.

Erlebe die Heiligkeit des Wortes – und erlebe die Heiligkeit des Elementes, in dem Du Dich in Deinem Denken bewegst. Es ist das Ätherische. Es ist der Lebensstrom. Es ist das Wasser des Geistes, in dem auch Dein Geist getauft werden sollte – im Zeichen des Fisches, im Zeichen des Christus, im Zeichen des Logos, der den Weg weist von der Weisheit zur Liebe, vom Zeitalter der Philosophia zum Zeitalter der Philadelphia...

Das Herz des Mädchens

Und mit dieser Heiligkeit der Empfindungen kann auch das reine Wesen des Mädchens begriffen werden. Das einzige Hindernis ist immer nur, dass man die Heiligkeit nicht an sich heranlässt – man blockt immer schon vorher ab: man wehrt den Weihnachtsfrieden ab, man wehrt die volle Wahrhaftigkeit ab, die volle Liebe gegenüber der Heiligkeit des Wortes und auch das volle Empfinden gegenüber der reinen Gestalt des Mädchens.

Alles dient immer nur dem Spott – oder der bloß oberflächlichen Kenntnisnahme. Die Seele besitzt gar nicht mehr den Mut, etwas rein und tief in sich hineinzulassen, aufzunehmen, ganz und gar. Es ist die Umklammerung der Intellektualität, aber auch ein wirklicher Unwille, die hier wirksam sind. Die Gegenmächte haben die Seele so sehr umklammert, dass sie sich dem wahrhaft Heiligen und Heilenden gar nicht mehr öffnen kann – weil sie es auch gar nicht mehr wahrhaft will. Wie der verlorene Sohn hält sie ihren Weg so lange für den richtigen, bis das Leiden der Seele sie umkehren lässt – wenn es sie einmal erfasst, was ein ganzes Leben lang nicht der Fall sein muss.

Wir leben im Zeitalter der Intellektualität und des Hochmuts. Der Intellekt kann nicht zur Demut und zur Heiligkeit finden – und der Hochmut will es nicht. Aber es gibt ein Wesen, was diese Gegenmächte nicht in sein Herz hineinlässt, und mit jenen Versen, die etwas von diesem Wesen empfinden lassen wollen und mit denen ich schon vor einem Jahr eine weihnachtliche Besinnung beschloss, möge nun auch dieser Aufsatz enden.

                                                                                      Und die Weihnachtsnacht
                                                                                      senkte sich auf die Felder nieder;
                                                                                      und der unendliche Friede aus den Höhen
                                                                                      taute bis in die Städte hinein.
                                                                                      Aber die Menschen – warum?
                                                                                      In Stadt und Land hasteten sie
                                                                                      etwas nach, was die Engel
                                                                                      nicht sehen konnten, denn
                                                                                      es war Nichts.

                                                                                      Einige Wenige suchten das
                                                                                      Geheimnis der Weihnacht,
                                                                                      suchten das Licht und die Gnade,
                                                                                      und fanden wohl etwas davon,
                                                                                      aber wie viel oder: wie wenig?
                                                                                      Sie wussten, dass es wenig war,
                                                                                      viel zu wenig, auch wenn sie
                                                                                      das Wenige hüteten, als den letzten
                                                                                      oder manche vielleicht auch
                                                                                      als den ersten Reichtum...

                                                                                      Aber das Mädchen kniete
                                                                                      vor der Krippe, und sie hatte
                                                                                      das reine Herz, das alle suchten,
                                                                                      halbherzig, viertelherzig oder
                                                                                      doch mehr, aber doch verloren,
                                                                                      noch immer verloren im Suchen
                                                                                      und Nicht-Finden.
                                                                                      Sie aber brauchte nicht suchen,
                                                                                      sondern nur fühlen, was sie fühlte,
                                                                                      und alles war da, denn ihr Herz
                                                                                      war die Schönheit, die Unschuld.

                                                                                      Blau-samten senkte sich die heilige
                                                                                      Weihnachtsnacht der Erde zu,
                                                                                      und ein Herz brauchte sich dafür
                                                                                      nicht zu bereiten, denn es war
                                                                                      immerwährend bereitet, es war
                                                                                      das Herz eines Mädchens...