03.01.2018

Der Ur-Irrtum des Destruktiven

Besinnungen zum „Egoisten“-Blog und über falsche und wahre Mystik.


Inhalt
Ahriman
Luzifer
Der Gegensatz
Eggerts Kommentare
Selbstdekonstruktion?
Der Codex
Ein anthroposophischer Codex?
Was ist anthroposophiefeindlich?
Die Angst vor dem Heiligen
Das Heilige als zentraler Pol einer spirituellen Entwicklung


Ahriman

Was ist der Sinn des Lebens? Was ist sein Ziel? Was ist sein Wert, seine Würde, seine Schönheit...?

Wer sich diese Fragen nicht mehr stellt oder in dem Versuch, hierauf eine Antwort zu finden, längst seine Flügel erlahmen fühlt ... der wird zum Zyniker.

Wer mit diesen Fragen „abhebt“ und genüsslich in luftige Höhen verschwindet, um auf seine Mitmenschen herabzublicken oder aber diese überhaupt nicht mehr zu beachten, der wird ein Träumer. Illusionärer Mystizismus vernebelt ihm den seiner Seele tief inhärenten Hochmut, und er entschwebt luziferisch in Wolkenkuckucksheime.

Rudolf Steiner hatte schon in seiner Zeit vor allem und grundsätzlich gegen den Materialismus zu kämpfen. Alles, was gegen die Anthroposophie eingewendet werden konnte, wurde gegen sie eingewendet – und darüber hinaus noch Verleumdungen, Lügen, Verdrehungen. Man kann sagen, der Zynismus ist der Charakter des Materialismus – ob er dies bemerkt oder nicht. Der Materialismus glaubt nur an seine eigene Lüge – und zynisch-hochmütig verspottet er jeden Versuch, die Seele aus dieser Gefangenschaft, aus diesem Bann wieder herauszureißen.

Steiner aber bekannte freimütig und mit vollem Ernst: „Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte.“

Fern von jedem Materialismus und Zynismus geht es hier um einen heiligen Weg, der zur Erkenntnis dessen führen soll, was der Materialismus unter seinen harten und blinden Sohlen zertritt. Und die nächsten Worte sind ebenso von größter Bedeutung: „Sie tritt im Menschen als Herzens- und Gefühlsbedürfnis auf.“

Das bedeutet: Da, wo sie (scheinbar) nicht mehr auftritt, nämlich zum Beispiel im Materialisten und Zyniker, da tritt dieser die Bedürfnisse seines eigenen Herzens und sein eigenes Fühlen unter die Schwelle des Bewusstseins...

Steiner wurde nicht müde, zu versuchen, die Seelen zu entzünden – zu einer heiligen Begeisterung, mit der die Seele beginnt, erstmals ihr eigenes Wesen zu erfassen, als Grundlage, um in weiteren heiligen Schritten auch das Wesen des Übrigen mehr und mehr erfassen zu können. Die ganze Anthroposophie, allein schon von ihrer Sprache her, ist der heilige Versuch eines Entzündens, einer Feuer-Saat...

Man fühlt sich an das Christuswort erinnert (Lk 12,49): „Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennete schon!“

Das war der Kampf Steiners gegen Ahriman – ein verzweifelter und zugleich gewaltigster Versuch, Seelen zu entzünden, auf dass sie ... zu erkennen beginnen. Sich selbst, das eigene Feuer, und zugleich die lähmende Macht, die Gegenmacht. Und dann, schließlich, auch das heilige Feuer als ein Erkenntnislicht, als etwas Allerheiligstes, das zugleich die übrige Welt erleuchtet, das übersinnliche Wesen der Welt.

Luzifer

Dann hatte Steiner aber auch gegen den Mystizismus zu kämpfen – und dies vor allem innerhalb dessen, was zunehmend seine Anhängerschaft wurde. Steiner wollte keine Anhänger, er wollte in seinem Ur-Anliegen, seinem gewaltigen Versuch, eine Anthroposophie zu bringen, verstanden werden.

Viele Anhänger – und er sprach hier eben zum Beispiel von „Tanten“ (wie ein längeres Zitat aus Andrej Belyis Buch „Verwandeln des Lebens“ auf dem „Egoisten“-Blog eindrücklich lebendig macht) – wollten nichts anderes, als sich an all dem Heiligen, Erhabenen berauschen und angenehm-mystisch von diesem esoterischen Strom „mitgenommen“ werden.

Gegen diese „Tanten“, aber auch „Onkel“, wurde Steiner nicht müde, mit feinem Spott zu agitieren, um auch diese Seelen zum Aufwachen zu bringen – was ihm offenbar selten gelang. Denn – und das wusste Steiner natürlich sehr gut –, dieses Aufwachen und vor allem dasjenige, was sich daraus dann ergeben könnte, das muss die Seele selbst wollen.

Im Grunde ist der gleichsam süßliche Mystizismus, den Steiner so energisch zu bekämpfen versuchte, die Offenbarung einer ungeheuren Faulheit – einer Bequemlichkeit und Genusssucht im Seelischen. So, wie der leibliche Fettwanst am reich gedeckten Tisch liegt und sich eine Köstlichkeit nach der anderen in seinen aufgedunsenen Leib stopft, so saugt sich die mystizistische Tanten-Seele an dem spirituellen Honigstrom voll, ohne auch nur ein Tröpfchen davon zu ihrem eigenen zu machen. Sie erwacht nicht, sie entwickelt sich nicht weiter, es öffnen sich ihr nicht die seelisch-geistigen Augen, sie wird immer mehr ... Tante. Bloße Anhängerin, Schwärmerin, Nachbeterin, Ballast...

Gegen diese innere Gegnerschaft, die nicht darin bestand, die Anthroposophie durch Zynismus, Materialismus und kalte Intellektualität zu lähmen und herabzuziehen, sondern die an ihr hing wie ein schmarotzender Trittbrettfahrer, der gleichwohl in Himmelshöhen entschweben wollte, aber ohne auch nur ein Hauch in der eigenen Seele wahrhaft zu wandeln – gegen diese süßlich-saugende Gegnerschaft wendete Steiner sich mit eisernen, nüchternen Vorträgen über Logik, über die allerersten Grundlagen der Wissenschaftlichkeit und des reinen Denkens. Ebenso konnte er in einem voll gefüllten Saal der Berliner Philharmonie in nüchternsten Worten die drei Stufen der höheren Erkenntnis beschreiben – Imagination, Inspiration, Intuition. All derer nicht achtend, die atemberaubende Schilderungen der höheren Welten und Wesenheiten haben wollten, als Gratisgabe und ohne eigene Anstrengung.

Was Steiner wollte und was die Anthroposophie will, das ist, Seelen zu entzünden – nicht Seelen zu sättigen und satt zu machen, in dem irrigen Glauben, man sei verwandelt, wenn man einen schweren Sack voller „Kenntnisse“ mit sich herumtrage.

Der Gegensatz

Und nun haben sich auch innerhalb der sich der Anthroposophie zugehörig fühlenden Menschenzusammenhänge immer diejenigen bekämpft, die sich so recht diametral gegenüberstanden. Die, die mehr zur Wissenschaftlichkeit veranlagt waren, haben auf diejenigen herabgeblickt, die mehr zur Mystik veranlagt waren, und umgekehrt. Der Wissenschaftler warf dem Mystiker „Mystizismus“ und „Tantentum“ vor – und der Mystiker warf dem Wissenschaftler „Kälte“ und „Intellektualität“ vor.

Steiner aber wollte, dass sich Wissenschaftlichkeit zu wahrer Mystik erhebt – und dass sich bloße Mystik zu einer Wissenschaftlichkeit erhebt. Erst beides zusammen wird ... Anthroposophie.

Die Wahrheit ist, dass man sich immer sehr viel auf das einbildet, was man vielleicht schon hat – und sehr wenig dasjenige sieht, was man noch nicht hat. So bildet sich der Wissenschaftler ein, dass er doch recht wissenschaftlich sei – und vergisst, dass es noch ein weiter Weg bis zur Mystik ist. Und der mystisch Veranlagte bildet sich ein, dass er doch schon recht weit auf diesem Weg sei – und vergisst, dass es noch ein weiter Weg bis zur Wissenschaftlichkeit ist.

Es ist ein Leichtes für den zynisch veranlagten Skeptiker, das „Tantentum“ zu entlarven – und für die „Tanten“ ist es ein Leichtes, die Zyniker zu entdecken. Viel schwerer aber ist es, an seinen eigenen Schwächen zu arbeiten, um diese so zu verwandeln, dass die Seele der Anthroposophie näher kommt, und sei es auch nur einen winzigen Schritt.

Jedes Tantentum ist ein (letztlich in gewisser Weise zynisches) faules Trittbrettfahrertum, das für die Anthroposophie ein reiner, niederziehender Ballast ist. Und jeder spöttische oder sonstwie laue Zynismus ist ein (letztlich in gewisser Weise tantenhaft-illusionärer) kalter, alles ertötender Krankheitsstrom, der für die Anthroposophie ein reines, niederziehendes Gift-Gewicht ist.

Sowohl die „Tante“ als auch der „Zyniker“ realisieren nicht, dass sie für die Anthroposophie nicht das Geringste beitragen, an ihrer Seele nicht das Geringste tun, um sich ihr zu nähern – sondern dass sie nur hängen, lähmen, zerstören und vernichten. Sie erkennen nicht das Nichtige und nicht das Vernichtende ihrer eigenen (Un-)Taten.

Die Anthroposophie und die Seele, die sich ihr nähern will, braucht nicht blindes Anhängertum, sondern heilige Begeisterung. Die Anthroposophie und die Seele, die sich ihr nähern will, braucht nicht kalte Analyse und laue (angebliche) Selbsterkenntnis, sondern heilige Wissenschaftlichkeit.

Nicht Begeisterung und Wissenschaft sind ein Gegensatz, sondern Anthroposophie und das Unheilige – und sowohl das Tantentum als auch der Zynismus sind unheilig, denn es sind die Gegenkräfte.

Eggerts Kommentare

In seinem letzten Aufsatz schrieb Michael Eggert auf seinem „Egoisten“-Blog:

Natürlich hat man Verständnis für die Honigsauger, die seit jeher die anthroposophische Bewegung umschwärmen. Was wäre die schönste spirituelle Lehre ohne Sinnsucher, die sich mit ihr identifizieren, sich selbst aber damit auch in ein ewiges Licht stellen, das dem so vergänglichen und zerbrechlichen Ich ein seelisch- geistiges Fundament geben kann? [...] Zu glauben, dass es durchaus keinen Zufall darstellt, dass das Schicksal mich an die Spitze der menschlichen Kulturentwicklung im deutschsprachigen Raum gestellt hat, damit ich durchdrungen werden kann von den aktuellsten Transformations- Prozessen in der Weltentwicklung und mit dazu beitragen kann, die brüderliche Philadelphia- Zivilisation der Zukunft geistig vorzubereiten, indem ich auf noch vollkommenere Weise selbstlos werde. [...]
Andererseits stellt für solche Karikaturen anthroposophischer Selbstvergottung jede kritische Auseinandersetzung mit Anthroposophie oder ihrem Meister einen Angriff auf ihr Selbstkonzept dar. Kritisches Denken wird daher einerseits dämonisiert, andererseits erstarrt das mögliche Potential der Bewegung in diesem unproduktiven Verteidigungsreflex. Das Selbstkonzept, sich auf geheimer Mission des Erzengels Michael zu befinden, verfängt allerdings nur bei Persönlichkeiten, die einer strukturellen, ideologisierten Persönlichkeit- Krücke bedürfen - sie sind die unproduktiven, aber fanatisierten Anhänger, die den Kult- Aspekt benötigen und ständig Futter und Bestätigung suchen. Unabhängige Geister gingen und gehen souverän mit den Ego- Fallen des anthroposophischen Systems um und praktizieren die unkonventionellen, produktiven und humanistischen Impulse, die sie aus derselben Grundlage heraus beziehen.

Auf einen Einwand von Ingrid hin schreibt Eggert dann:

Michael Eggert – 02.01.2018 13:40
[...] Mein Beitrag zielt aber vor allem auf den zeitgenössischen Anthroposophen. Ich denke, es ist gerade ein Aspekt des Schulungsweg, über die eigenen Selbstbilder, die seelische Not, die esoterischen Hilfskonstruktionen zu reflektieren. Die elitären Positionierungen, das Gefühl des Auserwähltsein halte ich, wie im Text ausgesagt, für eine typische Ego- Falle, die in Passivität, Selbstgefälligkeit, Arroganz, Wortgläubigkeit und Geschwätz münden- keinesfalls in konstruktive Haltungen. In diesem Sinne einen Kern heraus zu arbeiten, eine essentielle Anthroposophie jenseits des symbolischen, kultischen und zeremoniellen Aspekts halte ich für eine notwendige Beschäftigung, wenn man vertiefend mit dem Thema umgehen möchte. Es gibt ja eine "Treue" (so nannte es Steiner selbst) der Sache gegenüber, die auf höchst individuelle Weise bemüht ist, zu dieser Essenz durchzustossen. Bei dieser Bemühung fällt sozusagen einiges an Schlacke an, wozu ich die Selbstgefühle des Auserwähltseins auch zähle. Mein Beitrag ist also auch ein Stück Selbstdekonstruktion- ich mache mich vor allem über mein eigenes Anthroposophentum lustig.

Auf den Hinweis eines anderen Bloggers gibt er schließlich zu:

Michael Eggert – 02.01.2018 16:19
Diese spezifischen Spielarten des spirituellen Narzissmus kann man nur aus der Anschauung von sich selbst kennen [...].

Auf einen weiteren Einwand Ingrids, dass es ihr sehr verständlich sei, wenn verschiedene Menschen seine Äußerungen als anthroposophiefeindlich empfänden, erwidert Eggert:

Michael Eggert – 02.01.2018 22:38
[...] Ob nun irgendwer meine kleine kritische Dekonstruktion als „anthroposophiefeindlich“ ansieht, würde voraussetzen, dass es einen Common Sense anthroposophischer Art gäbe, einen Codex. Gegen genau den würde ich [...] immer wieder gern verstoßen – schon wegen der damit verbundenen Chance, Denkanstöße zugeben.

Selbstdekonstruktion?

Eggerts Satz von der „Selbstdekonstruktion“ ist bezeichnend. Um was handelt es sich nun bei seinem Aufsatz? Um ein Stück Selbstdekonstruktion – oder um ein „vor allem“? In seinem Aufsatz ließ zunächst nichts, wirklich nichts auf eine Thematisierung und Bearbeitung der eigenen Schwächen schließen – im Gegenteil. Sämtliche Sätze wirkten wie scharfe, verächtliche Angriffe gegen diejenigen, die in völlig übersteigerter Selbstherrlichkeit aus der Anthroposophie einen mystischen Nährboden machen und sich mit dessen Hilfe zu einem riesigen, luziferischen Ego aufblasen.

Wie kommt es, dass ein Michael Eggert fortwährend derart scharfe Geschütze auffährt und von seinem Blog aus in die Welt schießt, wenn ihm vor allem an der eigenen „Selbstdekonstruktion“, an der Bearbeitung eigener Selbstüberhöhung, ja Selbstvergottung liegen würde? Gleichsam jedes einzelne Wort seines Aufsatzes ist ein Vorwurf an Andere – und ist so dargestellt, als wäre er, der Schreiber, völlig frei von derart lächerlichen Übersteigerungen und Irrtümern. Zumal er ja im letzten Satz von diesen „unabhängigen Geistern“ spricht, die souverän mit diesen „Fallen“ umgehen. Was anders lässt sich daraus schließen, als dass Eggert sich hiermit nun endlich selbst meint – sich abgrenzend von all den lächerlichen Gegnern und Fallen-Stolperern, die er in all seinen Aufsätzen bekämpft und karikiert? Wer sollte je glauben, dass Eggert mit den „unabhängigen Geistern“ nicht sich selbst meint, sondern sich selbst mit zu den Fallen-Stolperern zählt? Dass er also Selbstdekonstruktion betreibt und durch eine ungeheure Blume zuzugeben versucht, dass er all diesen irrwitzigen Verirrungen, die er so übersteigert beschreibt, durchaus immer wieder zu verfallen droht?

Selbsterkenntnis im Sinne der Erkenntnis auch der eigenen Schwächen ist ein Geschehen, das still in der eigenen meditativen Seelenarbeit geschehen kann und sollte. Dazu muss man nicht wie ein Verrückter aus allen Rohren Gift in die Welt schießen, so dass jeder vernünftige Leser glauben muss, Eggert habe eine neue seiner Anwandlungen bekommen, mit denen er meint, seinen Spott über diejenigen ergießen zu müssen, die angeblich weniger souverän, frei und produktiv als er mit der Anthroposophie umgehen.

Selbsterkenntnis kann einem auch aus den Reaktionen der Mitmenschen zukommen – und in diesem Sinne wäre zu hoffen, dass Eggert wenigstens dieses eine Mal spürt, dass er weit, weit über die Stränge geschlagen hat, wenn es denn wahr wäre, was er behauptet: dass er sich vor allem über sich selbst lustig machen wollte.

Zur Selbstdekonstruktion würde auch gehören, sich zu fragen, wie wahrhaftig denn dieser Versuch der Selbstdekonstruktion war – oder ob Wahrhaftigkeit nicht zu dem zählt, was man sich gerne erwerben würde. Oder geht es tatsächlich nur um Dekonstruktion und Abriss und nicht etwa um das Aufbauen von etwas Wesentlichem, vielleicht sogar Heiligem – in ganz und gar reinem, man kann wirklich sagen: wissenschaftlichem Sinne?

Der Codex

Wenden wir uns nun Eggerts letztem Kommentar zu, in dem er schreibt:

Ob nun irgendwer meine kleine kritische Dekonstruktion als „anthroposophiefeindlich“ ansieht, würde voraussetzen, dass es einen Common Sense anthroposophischer Art gäbe, einen Codex. Gegen genau den würde ich [...] immer wieder gern verstoßen – schon wegen der damit verbundenen Chance, Denkanstöße zugeben.

Ein Codex war ursprünglich ein „Buch“ – und weil man früher wegen der sehr aufwendigen Arbeit nur sehr wertvolle Dinge so umfassend aufschrieb, war ein Codex ein Buch, das heilige Schriften enthielt. Man denke an die sorgfältige Schrift und an die außergewöhnlichen Buchmalereien dieser alten Codizes.

Im übertragenen Sinne ist ein Codex dann die Gesamtheit heiliger, unumstößlicher Regeln, die in einer Gemeinschaft herrschen. Diese Regeln mögen ungeschrieben sein, jedes Mitglied der Gemeinschaft kennt sie dennoch – denn der Umgang macht sie fortwährend erlebbar und erweckt sie zum Leben. Jeder Ritter kannte, wenn er wahrhaft Ritter war, den Codex des Rittertums, jeder Handwerker kannte den Codex seiner Gilde – und so weiter.

Natürlich kann es an den Punkt kommen, wo sich eine Seele gegen diesen Codex wehrt. So könnte ein Ritter ein armes Mädchen aus dem Volk liebgewonnen haben und sich dagegen wehren, dass er dieses niemals ehelichen dürfte. Man sieht, dass ein Codex irgendwann auch das aufrichtige Empfinden der Seele verletzen kann und dann ein offener Widerspruch entsteht – und die Frage: Was ist die Bedeutung des Codex? Und wie soll ich jetzt handeln? Wie muss ich mich dem Codex gegenüberstellen, wenn ich das, was mein Herz empfindet, nicht aus diesem herausreißen kann?

Das alles sind heilige Fragen.

Ein Codex kann andererseits auch so sehr altern, dass die ganze Seelenentwicklung der Menschheit längst an einem anderen Punkt ist – und dass der Codex etwas Vergangenes bedeutet, der die weitere Entwicklung be- oder gar verhindert.

Oder es kann ungeschriebene Codizes geben, die Dinge enthalten, die schon zum Zeitpunkt ihrer „Festlegung“ gegen die wahre Entwicklung der menschlichen Seele gerichtet waren. Auch das „Tantentum“ hat seinen Codex – und Steiner wurde nicht müde, diesen zu demaskieren.

Wenn Eggert also anti-anthroposophische Verhaltensweisen von „Tanten“ oder meinetwegen auch Materialisten demaskieren würde, so würde er der anthroposophischen Sache insofern durchaus einen Dienst erweisen.

Ein anthroposophischer Codex?

Gibt es nun einen Codex anthroposophischer Art? Er könnte nichts anderes sein als die Anthroposophie selbst – und der Weg zu ihr. Ein wahrer Codex ist niemals die Karikatur dessen, was er vertreten soll – sondern sein Schutz. Natürlich ist es unmöglich, etwas Lebendiges zu „kodifizieren“ im Sinne von: für immer festzulegen, zu definieren, in Stein zu meißeln. Aber Steiner beschrieb für das lebendige Rechtsleben, dass im besten Fall das niedergeschriebene Recht ein reiner und wahrer Spiegel des lebendigen Rechtsempfindens der menschlichen Herzen wäre.

Die erste Bedingung dafür wäre natürlich, dieses menschliche Herz ernst zu nehmen. In diesem Zusammenhang darf man sich an Steiners Worte über Michael erinnern: „Michael ist in allem ernst, denn Ernst als Offenbarung eines Wesens ist der Spiegel des Kosmos aus diesem Wesen.“

Das „moderne“ Lebensgefühl verweigert den Ernst, weil es vor allem Selbstgefühl sein möchte – Genuss, Kurzweil, Ablenkung, Oberfläche. In diesem Sinne darf man sagen, dass Ernst ein großer, wichtiger und heiliger Teil des ungeschriebenen anthroposophischen „Codex“ ist, jenes heiligen übersinnlichen Buches, das die Bedingungen jeder wahren Anthroposophie bewahrt. Kant untersuchte einst die Bedingungen des menschlichen Erkennens. Er kam darin sehr weit. Die wahre Anthroposophie ist nichts anderes als eine weitere Ausdehnung dieser Wissenschaftlichkeit – und auch der Quelle von Wissenschaftlichkeit an sich, nämlich des menschlichen Erkenntnisvermögens.

Und zu den allerersten Schritten dieses Weges gehört, den Ernst als dasjenige zu erkennen, was er in Wahrheit ist: eine Kraft der Vertiefung und der Überwindung des selbstbezogenen Egoismus. Er ist also ein heiliger Teil des anthroposophischen, lebendigen Codex. Der wahre Ernst erweist sein Wesen gerade daran, dass auch er es ist, der die Seele durch ihre eigenen Irrtümer hindurchführt zu immer neuen Wandlungen. Ein Weg wirklicher Seelenwandlung ohne Ernst ist undenkbar. Ernst ist nicht Gegensatz zur Freude, sondern zur Oberflächlichkeit – und so zum Beispiel sogar auch zu Spott oder Zynismus. All das bleibt an der Oberfläche – und der Ernst lässt all dies hinter sich, auf seinem heiligen Weg in die Tiefe...

Ein weiteres heiliges Glied des Codex, dem wir auf der Spur sind, ist die Wahrhaftigkeit. Ohne diese kann man zu keiner Selbsterkenntnis kommen, also auch niemals zu einer Anthroposophie. Diese Wahrhaftigkeit aber erweist sich schon an sogenannten Kleinigkeiten. Man kann nicht wütend aus allen Rohren schießen und dann behaupten, man habe vor allem „Selbstdekonstruktion“ betrieben. Das Letztere mag auch wahr sein – dennoch hat man zugleich noch etwas wesentlich Anderes betrieben, und ein Gebot der Wahrhaftigkeit wäre es, dies klar und rein zu erkennen und auch zuzugeben. Wahrhaftigkeit und überhaupt die immer weitergehende Läuterung der Seelenkräfte sind ebenfalls unabdingbar und unauflöslich Teil des anthroposophischen Codex.

Der anthroposophische Codex ist nichts Äußeres – er ist eine innere Wahrheit. Wenn Eggert auch nur andeuten würde, es gehöre zum anthroposophischen Codex, sich als „Auserwählter“ zu betrachten, würde er reine Lügen in die Welt setzen. Es gehört zu den schlimmsten Abirrungen, insofern es irgendwie das Ego nährt. Gleichwohl ist es offenbar eine Schicksals-Gnade, mit der Anthroposophie in Berührung zu kommen und den in ihr lebenden Entwicklungsweg der Seele und des Geistes kennenlernen zu dürfen – wenn man nicht gerade in einen Kreis von Dogmatikern oder „Tanten“ hineingeboren wurde, was natürlich ebenfalls sehr schnell geschehen kann. Aber noch immer hat die Seele die Möglichkeit, hier ihren eigenen Weg und die wahre Anthroposophie zu finden und die Spreu vom Weizen, das Wesen von den Karikaturen zu trennen.

Was ist anthroposophiefeindlich?

Die ganz anfänglichen Überlegungen des letzten Abschnittes zeigen, dass es sehr wohl einen heiligen Codex der Anthroposophie gibt – der nichts anderes als das Lebenselement der Anthroposophie selbst ist.

Eggerts Argumentation zerfällt in ein Nichts, wenn man es genauer untersucht. Gehen wir hier einmal streng logisch vor, nach der Wissenschaftlichkeit des Denkens. Er behauptet, ein Sprechen von „anthroposophiefeindlich“ würde voraussetzen, dass es einen anthroposophischen Codex gäbe. Da er der Meinung ist, einen solchen gäbe es nicht, würde er gegen einen solchen immer wieder gern verstoßen – offenbar um die Menschen so zu der Erkenntnis zu stoßen, wie irrig jeder solcher Codex sei. Anstoß erregen, um Veraltetes und Unwahres sichtbar zu machen.

Soweit, so gut. Aber Eggert irrt dennoch. Denn ein Sprechen von „anthroposophiefeindlich“ setzt nicht voraus, dass es einen anthroposophischen Codex gibt, sondern nur, dass es eine Anthroposophie gibt – und dass man gegen ihren Geist handeln kann, was selbstverständlich ist, da die Anthroposophie selbst etwas Geistiges ist und kein seelenloser Stein, gegen den man zwar treten, aber nicht handeln kann.

Wenn man nicht gegen die Anthroposophie handeln könnte, wäre die Anthroposophie ein Nichts.

Man kann selbstverständlich sogar gegen den Materialismus handeln. Man braucht sich nur zu verlieben und halbwegs ehrlich mit sich selbst zu sein. Atome lieben keine Atome, Hormone lieben keine Hormone. Sie mögen zwar voneinander angezogen werden, aber Anziehung ist noch keine Liebe. Um das zu erkennen, braucht man allerdings eine Seele. Wer sich also verliebt, handelt gegen den Materialismus. Das ist nicht weiter schlimm, denn der Materialismus kümmert sich darum nicht – wenn es ihn gäbe, wäre es ihm schlicht egal. Da er aber eine bloße Lehre und Illusion ist, ist es erst recht völlig egal und sogar gut, ihm entgegen zu handeln – denn es bedeutet, nicht auf der Seite der Lüge und Illusion zu stehen, sondern auf der des Lebens und der Wahrheit.

Die Anthroposophie dagegen ist eben keine Lüge, sondern selbst etwas Lebendiges. Also kann man auch gegen sie handeln. Man kann sie links liegen lassen – und bereits dann wäre die Frage, ob man gegen sie handelt, wenn man einmal ihr Wesen geahnt hat. Es wäre bereits hier auch die Frage, ob man nicht gegen sich selbst handelt – und ob dies vielleicht die gleiche, identische Frage ist. Man kann hier an das Christuswort denken (Mt 12,30): „Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich.“ Das hat Christus gesagt – und darüber kann man einmal tief meditieren. Aber wenn man die Anthroposophie nicht einfach nur links liegen lässt, sondern in Bezug auf sie irgendwie handelt, kann man sehr wohl anthroposophiefeindlich handeln. Jemand, der die Anthroposophie verspottet, wie viele Vertreter der katholischen Kirche zu Steiners Zeit, handelt doch wohl gegen die Anthroposophie?

Eggerts Worte suggerieren nichts anderes, als dass Anthroposophie eine Art Steinbruch oder eine Amöbe sei, aus der jeder ganz nach Belieben seine eigene Anthroposophie „konstruieren“ könne. Was er nicht wahrhaben will – oder an dieser Stelle absolut nicht zugibt –, ist, dass die Anthroposophie wie alles Lebendige Bedingungen kennt, in denen sie überhaupt erst zum Leben erwachen kann. Nicht für sich und als sie selbst – denn da ist sie Leben und lebendig –, sondern in der einzelnen, individuellen Seele.

Die Angst vor dem Heiligen

Eggert leistet in seinen Aufsätzen nichts Aufbauendes. Das, was er vorgibt, „Selbstdekonstruktion“, betreibt er in Bezug auf das Ganze: Er versucht fortwährend, zu dekonstruieren. Dabei ist er längst beim Destruktiven angelangt. Seine Beiträge sind nicht konstruktiv, sie sind destruktiv. In ihnen kommt überhaupt nicht vor, was Anthroposophie ist – sondern sie bestehen nur aus einem wilden Hineinschlagen, aus dem dann Staub und Rauch aufwallt, in dem man dann die Hand vor Augen nicht mehr sieht. Wenn sich der Staub schließlich gelegt hat, weiß man noch immer nicht, was Anthroposophie ist – nur, was Eggert über so Verschiedenes denkt.

Wogegen Eggert immer wieder wettert, das ist das Heilige – der Gedanke des Heiligen, der Begriff des Heiligen, der Versuch, etwas Heiliges in die Welt und in die einzelnen Seelen hineinzutragen. Hier analysiert er die Versuche Steiners zu einem Kultischen, einem Zeremoniellen und so weiter. Aber er sieht nicht, spürt nicht, erlebt nicht, erkennt nicht, gibt nicht zu, was mit alledem gewollt war. Er bleibt beim Negativen stehen – oder bei dem, was für ihn negativ ist –, und dringt nicht weiter.

Und selbst da, wo nichts Kultisches zu finden ist, kämpft er noch immer. Er verspottet das reine Denken und Fühlen, er verspottet die tiefe Notwendigkeit dessen für jede spirituelle Entwicklung, verspottet das Schreiben darüber. Auch hier unterstellt er immer, der Schreiber wolle sich aufwerten, während es um „Selbstdekonstruktion“ gehe. Eggert setzt sein eigenes, persönliches Thema aus sich heraus und bringt es gegen Andere in Anschlag – als ob diese sich nicht der Selbsterkenntnis widmen würden. Es ist unmöglich, den Eggertschen Angriffen zu entgehen: Wenn man über die Ehrfurcht oder die Demut oder das reine Denken oder Fühlen schreibt, wendet er sich gegen das „Heilige“, und obwohl man darüber schreibt, unterstellt er einem ein Hyper-Ego – einfach deswegen, weil man es so betont. Der Ernst ist für ihn Dogmatik – und so geht es immer weiter. Eggert deutet die Begriffe immer in seinem Sinne. Und heraus kommt immer wieder ... Eggert.

In meinem Aufsatz über eine weibliche Kultur vom April des vergangenen Jahres hatte ich auch eine kleine biografische Notiz Eggerts aufgegriffen. Aus dieser wurde klar, warum Eggert sich so sehr gegen den mystischen Pol wendet – weil er als Kind sehr stark mit diesem verbunden war, so stark, dass es ihm Angst machte.

Aber während er sich von diesem Pol gekonnt „abgestoßen“ hat, hat er es nicht vermocht, sich vor dem anderen Pol zu schützen. Er mag recht weit in seiner „Selbstdekonstruktion“ und seiner Selbstironie sein – aber das hat ihn nicht davor bewahrt, die Macht der Ironie und des Spottes überhaupt in sich aufzunehmen. Er fürchtet seitdem das „Heilige“ wie der Teufel das Weihwasser und erkennt nicht, wie sehr dieses Heilige etwas durch und durch Positives ist, wenn es nicht selbst zur Karikatur gemacht wird (von den „Tanten“ und den Dogmatikern – aber eben auch von Eggert selbst).

Das Heilige ist die Essenz der Anthroposophie. Es geht nicht darum, damit hausieren zu gehen (das tun die „Tanten“), aber es geht darum, mit Ernst diesen Weg zu betreten – und nicht aus eigener Abneigung dasjenige zu scheuen, was wirklich heilende Medizin wäre.

Eggerts Ur-Bewegung ist offenbar das Dekonstruieren. Er verliert darüber das Heilige selbst.

Das Heilige als zentraler Pol einer spirituellen Entwicklung

Jede spirituelle Entwicklung führt zu etwas Heiligem – nämlich zuerst zu einer immer geläuterteren Seele. Und eine solche Seele ist etwas Heiliges im Weltenganzen, denn mit ihr wird von göttlichen Wesen gerechnet, auf sie wird von diesen Wesen gehofft – und mit einer solchen können diese Wesen mehr und mehr zusammenwirken.

Wenn natürlich eine solche Wahrheit wie mit einer allergrößten Allergie von sich gewiesen wird, dann wird man sie auch nie erkennen, obwohl jede Wahrheit von der individuellen Seele erkannt werden könnte – wenn sie sich in genügend tiefer Bescheidenheit und Selbstüberwindung dazu bereit macht, sie erfahren zu können.

Der Spötter jedoch kann dies nicht – denn er verweigert sich schon den ersten Schritten. Mehr und mehr verspottet er den ganzen Weg, vielleicht weil er viel zu wenig eigene Erfahrungen damit gemacht hat. Vielleicht weil er zu oft Karikaturen dieses Weges gesehen hat. Wie auch immer, dies gibt ihm nicht das Recht, die Wahrheit zu verspotten – er tut dies auf eigene Verantwortung und weiß zugleich nicht, was er tut. Denn er hat alles Unterscheidungsvermögen verloren – oder auch nie gewonnen. Das Heilige war ihm schon immer ein Ärgernis.

Wenn aber sowohl das Unterscheidungsvermögen als auch die Wahrhaftigkeit fehlen, dann ist auf eine solche Seele nicht mehr zu rechnen – bis sie eine neue Sehnsucht nach Vertiefung empfindet und von ihrem Spott, der immer auch Hochmut ist, ablässt. Zur Wahrhaftigkeit würde gehören, zu erkennen, dass man sehr wohl Seelenverirrungen kennen kann, ohne ihnen zu verfallen. Die menschliche Seele ist so groß, dass sie wirklich alle menschlichen Anlagen in sich trägt – auch die zu jeder Bosheit. Sie kann noch den Mörder tief, tief innerlich verstehen, ohne je ausdrücklich bis auf das Blut gehasst zu haben. Denn es ist ein weltenweiter Unterschied, ob die menschliche Seele alles als Anlage in sich trägt – oder ob sie bestimmte Anlagen sich ausleben lässt. „Spirituellen Narzissmus“ und tausend andere Verirrungen kann man erkennen, ohne ihnen zu verfallen. Alles, was die menschliche Seele braucht, ist ein tiefes Empfinden. Und mit einem solchen, zuletzt heilig zarten Empfinden könnte sie, mit Rilke, sogar noch spüren, „was die Blume spürt“. Wer aber die Blume spürt, kennt auch das Gegenteil, er kennt auch den Narziss. Die Seele kann alles mitempfinden, weil sie Seele ist. Dennoch muss sie dem, was sie mitempfindet, nicht verfallen.

Ein ehrlicher Handwerker kann gerade durch seine tiefe Ehrlichkeit das Gegenteil empfinden – die ihm verachtenswerte Unehrlichkeit jener Reichen, die ihre Seelen mit Ausbeutung besudeln, während sie auf die für sie Arbeitenden herabblicken. Die reine Seele des Handwerkers wird zum Empfindungsorgan für die Abirrungen. Das ist die Wahrheit – und das ist eine wesentliche Essenz der Anthroposophie. Die Seele wird empfindsam. Je mehr die Seele zum Beispiel den Frieden liebt – um so mehr wird sie den Krieg spüren können. Nicht die im Krieg stehende Seele, die voller Hass mitkämpft, spürt das eigentliche Wesen des Krieges – sondern gerade die friedliebendste, sie spürt es am allermeisten.

Das Heilige allerdings muss man erst lieben lernen, bevor man es zu spüren beginnt. Gerade deshalb beginnt der innere Weg mit der Seelenstimmung der „Ehrfurcht“.

Für den versteckten Zyniker entleert sich die Welt immer mehr bis zur völligen Neige. Für den, der immer mehr das Heilige als das wahrhaft Wesentliche sucht, erfüllt sich die Welt immer mehr mit dessen Geheimnis. Das Heilige wartet auf die Seele, die ihm würdig wird. Aber die sich läuternde Seele wird selbst auch immer mehr wie ein leuchtender Diamant. Und gern kommen die Engel zu der Seele, die die Engel sucht, ernst und aufrichtig.

Man kann das für Gerede halten, und man kann es verspotten. Die Engel können nicht spotten. Aber sie können weinen...