11.09.2019

Greta und was alles ,entgleist’

11.09.2019

Zwischen Hass-Kommentaren und Klimakatastrophe – was geschieht hier wirklich?


Inhalt
Der Experte spricht
Das Seelendrama des modernen Menschen
Das Wesen der Egoisierung
Hier ist die Schule gefragt?
Die Theorie – so weit, so schlecht
Das Primat des Willens
Und Greta?
Und die Panik?
Was will Greta?
Die Stimme des Mädchens


Der Experte spricht

Greta Thunberg ,spaltet die Gemüter’, so heißt es nicht nur auf einem Artikel auf Web.de.

In einem Interview weist der Rechtswissenschaftler Prof. Volker Boehme-Neßler hier auf das Symptom und die Gefahren entgleisender Debatten hin:

Die öffentliche Debatte ist entgleist. Sie ist immer stärker und immer öfter moralisch und emotional. Wir können nicht mehr einigermaßen sachlich und vernünftig miteinander reden. [...]
Denn die Grundidee der Demokratie ist: Wir reden vernünftig und respektvoll über Probleme und finden sachlich angemessene Lösungen. Das geschieht, ohne dass wir die anderen moralisch abwerten oder als Feinde bekämpfen. [...] Wenn ich mir diese Entwicklung der Debattenkultur ansehe, dann sehe ich schwarz für die Demokratie.

Er sieht das Problem dabei teilweise auch in Gretas Auftreten selbst:

Letztlich ist Greta Thunberg eine tragische Figur. Sie hat – finde ich – völlig Recht mit ihrem politischen Ziel. Es ist tatsächlich so, dass sich die globale Klimapolitik radikal wandeln muss.
Aber wie sie für dieses Ziel kämpft, ist erschreckend undemokratisch. Sie sagt: Ich will, dass ihr in Panik geratet! Politische Ziele erreichen, indem Menschen in Angst und Panik versetzt werden? Damit haben wir eine Jahrtausende lange schlimme Tradition in der Politik.
Herrschen durch Angst – das machen absolutistische Herrscher und totalitäre Ideologien. Das Christentum hat über Jahrhunderte den Gehorsam der Menschen erzwungen, indem es ihnen Angst vor der ewigen Verdammnis in der Hölle gemacht hat. In Demokratien hat das nichts zu suchen. Wir können spätestens seit der Aufklärung sachlich und vernünftig miteinander umgehen und gute Lösungen für politische Probleme finden. [...]
[...] Denn Angst macht dumm und hilft nicht dabei, gute Lösungen zu finden. [...]
Die Antwort auf Ängste heißt: sachlich und respektvoll diskutieren und angemessene Lösungen suchen.

Und weiter sagt er:

Angst ist ein unheimlich starker Motor. Angst setzt ganz viel in Bewegung. Greta Thunberg und ihre Ängste setzen ja auch ganz viel in Bewegung. Das ist auch toll. Dass der bayerische Ministerpräsident Markus Söder plötzlich grün ist, hängt auch mit Greta Thunberg zusammen.
Wenn man aber Lösungen sucht, dann ist Angst kein guter Ratgeber. Man muss vernünftig und rational sehen: Was wissen wir, was können wir machen, was müssen wir alles berücksichtigen? Und auch: Was ist sinnlos, welche Maßnahmen wären also reine Symbolpolitik oder dummer Aktionismus? Welche politischen Maßnahmen sind sinnvoll und müssen schnell umgesetzt werden?

Zudem warnt er vor vereinfachendem Schwarz-Weiß-Denken:

Klimaschutz ist gut, Fleisch ist böse. Punkt. Auf dieser Basis hat man es leicht, ohne Mühe die Welt verstanden. Mit sehr komplizierten globalen ökologischen und ökonomischen Zusammenhängen muss man sich dann nicht mehr befassen.

Er verweist auf den starken Enthemmungseffekt im Internet und endet mit der Feststellung:

Wir müssen uns überlegen, wie wir es schaffen, in den sozialen Medien ein Mindestmaß an vernünftigem Umgang miteinander zu erreichen. Hier sind die Schule und alle anderen Bildungseinrichtungen gefragt.

Das Seelendrama des modernen Menschen

Wir haben es hier ganz klar mit einem Drama zu tun – nämlich zunächst jenem Drama, dass der Mensch sein eigenes seelisch-geistiges Wesen nicht ergreifen möchte, nicht erfassen, erkennen. Fortwährend handelt er dann dieses seines eigenen Wesens unbewusst. Das ist dann das gewöhnliche Alltagsbewusstsein – aber der Mensch weiß nicht, was er ist und macht es sich nicht klar.

Nur in diesem gewöhnlichen Bewusstsein ist es möglich, sich zu etwas hinreißen zu lassen – und wann immer man sich zu etwas hinreißen lässt, ist man spätestens wieder in dieses gewöhnliche Bewusstsein gefallen. Es gibt aber ein Bewusstsein, in dem der Mensch sein höheres oder wahres Wesen erlebt – Seele und Geist als Realität. Und dieses höhere Bewusstsein kann mit der Zeit auch immer mehr das Alltagsbewusstsein durchdringen.

Die Frucht dessen ist dann ein tiefer, bewusster Humanismus. Das muss auch die ganze Stimmung des Deutschen Idealismus gewesen sein (Fichte, Schiller, Novalis und viele andere) – diese Geister wussten um das Wesen des Menschen, und dieses Wissen lebte fortwährend in ihnen.

Für ein solches Bewusstsein aber, wo also ein Wesen sich als Seele-Geist-Wesen unter anderen Seele-Geist-Wesen weiß, wird es völlig sinnlos, ja wider-sinnig und von bösem Widersinn erfüllt, ein solches anderes Wesen, einen anderen Menschen zu beleidigen oder persönlich anzugreifen. Es hat einfach keinen Sinn. Es hätte nur den Sinn, in das gewöhnliche, niedere, bloß (allzu-)persönliche Bewusstsein zurückzufallen – was man wie eine Entwürdigung erleben kann, eine Entwürdigung des eigenen Wesens und natürlich auch des anderen Wesens.

Ein Mensch jedoch, der sich diese Realitäten nicht klarmacht und die Realität von Seele und Geist also nicht erlebt, hat nur das ganz gewöhnliche ,Körperbewusstsein’. Er erlebt sich in seinem eigenen Körper und dank dieses Körpers – und er sieht andere Körpermenschen um sich. Nichts hält ihn davon ab, seine Befindlichkeiten, seine Egoismen, seine Aggressionen und seinen Hass gegen sie zu äußern und entsprechend zu handeln.

Dieser Prozess ist in unserer Zeit des Materialismus und der Individualisierung zunehmend. Die Individualisierung wird durch den Materialismus ganz verbreitet zu einer Egoisierung. Nicht nur das Internet, sondern auch dieser Prozess selbst trägt zu einer zunehmenden Enthemmung bei – die eine Eigendynamik entwickelt. Denn wenn der Andere immer ego-enthemmter wird, muss ich mich wehren und empfinde das gleiche Recht – und umgekehrt.

,Die Egoisierung marschiert’ – so könnte man diesen Prozess nüchtern und schonungslos bezeichnen.

Das Wesen der Egoisierung

Man bestaunt die Egoisierung, man sieht einige der Gründe im Internet, man sieht die Dynamik, man kann die ,Individualisierung’ feststellen – aber man begreift sie nicht. Man weiß nicht, was da ,los ist’. Und natürlich gab es Brutalisierungen historisch schon immer – man denke an die Hexenverfolgungen, an das Dritte Reich, an Pogrome aller Art. Und dennoch waren diese früheren Exzesse immer durch Massenpsychosen, durch eine Aufstachelung und Lenkung der Massen geprägt und bestimmt. Sieht man diesen Unterschied nicht, kann man das Außergewöhnliche der heutigen Zeit überhaupt nicht klar beurteilen. Denn heute braucht der Einzelne keine umgebende Masse mehr (oder immer weniger), um die niedersten Instinkte immer mehr ,herauszulassen’.

Wie sollte es auch anders sein in einer Zeit, wo die ,Individualität’ ohnehin vergöttert und aufgepeitscht wird und wo es noch nie so leicht war wie heute, Individualität und Ego miteinander zu verwechseln. Worin aber liegt der Unterschied? Drastisch gesprochen, könnte man sagen: Das Ego ist nichts anderes als das aus dem Abgrund aufsteigende Tier. Es ist im Grunde das Gegenbild zum Menschen! Wer in das Ego hineinsteigt, überlässt sich zunehmend den niederen Instinkten – und diese sind natürlich gar nicht wirklich individuell, sie haben eher mit der bloßen Begierdenatur des Menschen zu tun, mit mehr ,Tierischem’, bloß Gattungsmäßigem.

Anders gesagt: Das Ego produziert vor allem die niedersten Anteil der Gattung ,Mensch’, nicht mehr und nicht weniger. Dass dann natürlich auch persönliche Lüste darin liegen, verdeckt diese Tatsache nur ein wenig. Gattungsmäßig ist aber das aggressive, rücksichtslose Verhalten des Ego, darin ist nicht das Geringste individuell.

Die Individualisierung der letzten Jahrhunderte ist also in den letzten Jahrzehnten durchdrungen worden von einer weiteren Entwicklung, in der gar nicht der Ich-Impuls eine Rolle spielt, sondern der Ego-Impuls – der die Individualität wieder zudeckt, einfach nur die hässliche Maske des niederen Anteils der Gattung Mensch darüberwirft.

Natürlich bildet sich jeder Egoist ein, das sei ,ganz er selbst’, aber er merkt gar nicht, wie er gerade in seinem Ego ,ganz Gattung’ wird – denn der nächste Egoist handelt ja nicht anders! So gleicht ein Egoist dem anderen – und der Unterschied liegt höchstens in zufälligen Geschmacks-, Begierde- und Triebunterschieden ... oder aber eben in dem, wo das Ego endet und überhaupt keine Rolle mehr spielt. Das aber wird nicht erkannt, und auf das Ego wird nicht verzichtet, im Gegenteil, es wird weiter ausgebaut.

Hier ist die Schule gefragt?

Gerade hilflos wirkt da fast der Hinweis auf die Schulen ,und andere Bildungseinrichtungen’. So wie der einzelne Mensch hat auch die Fachwelt, haben auch die Experten überhaupt noch nicht begriffen, welche Entwicklung hier im Gange ist. Wie auch? Ohne ein spirituelles Menschenbild und ein Wissen um die Entwicklung, die Evolution der seelisch-geistigen Realitäten, kann der Prozess überhaupt nicht durchschaut und verstanden werden.

Die Egoisierung und Aggression wächst ja auch an den Schulen. Weil der Einzelne nicht mehr in den Gesamtzusammenhang eingebunden ist, schwindet die Achtung vor dem anderen. Kinder akzeptieren nicht mehr ohne weiteres Erwachsene, kommen einem Lehrer, erst recht, wenn sie ihn noch nicht kennen, ohne jedes Bedenken dumm, frech und selbstbewusst.

Hier nun auf ,die Aufgabe der Schule’ zu verweisen, ist bequem, aber irgendwo auch lächerlich. Zumal eben, wenn man gar nicht begreift, was hier vorliegt. Und wenn auch die Gesellschaft zu bequem ist, sich zu ändern. Denn warum sollten Kinder einen Lehrer achten, wenn ihre Eltern zum Beispiel den Staat nicht achten – sondern vielleicht Steuern hinterziehen, schwarz fahren, einem Polizisten frech antworten oder ähnliches? Kinder sind auch nur Spiegel der Gesellschaft – und drehen das Rad weiter.

Und umgekehrt haben ja auch die Lehrer immer weniger Beziehung zu den Kindern. Auch hier brechen ja empfundene Beziehungen weg, denn die Lehrer sind von der Egoisierungs-Entwicklung ja nicht ausgeschlossen, auch wenn sie eine Generation ,hinterherhinken’.

Rational sich zu sagen ,Wir müssen das aufhalten’, hat wenig Sinn – denn das hätte man sich bei der Klimakatastrophe und tausend anderen Dingen auch sagen können und hat es vielleicht getan, aber herausgekommen ist nichts dabei. Ebenso sinnlos ist es, Kindern rational etwas vermitteln zu wollen. Denn erstens hilft die rationale Ansprache bei Kindern nicht das Geringste, und zweitens durchschauen Kinder sehr genau die Heuchelei der übrigen Welt, die nicht anders ist. Kinder durchschauen es, wenn man von ihnen mehr verlangt, als man selbst tut.

Der Verweis auf die Schulen ist also sinnlos, das Problem ist viel größer.

Die Theorie – so weit, so schlecht

Der Experte verweist mit Recht darauf, dass Demokratie darauf aufbaut, rational zu argumentieren und zu debattieren. Probleme erkennen, Probleme analysieren, Probleme diskutieren, Lösungen entwickeln, abstimmen und umsetzen. Demokratie at its best! Das abstrakte Ideal.

Und warum bricht dies weg? Weil der Mensch eben nicht nur ein rationales Wesen ist, sondern auch ein emotionales – und heute immer mehr auch ein egoistisches.

Hier haben wir die ganze Seele: Denken, Fühlen, Wille. Im Denken könnte der Mensch rational sein – wenn er wollte. Wenn er den Willen dazu fasst und sich dazu bringt. Wenn er also wirklich den Entschluss fasst, rational zu denken, abzuwägen, zu analysieren, zu erkennen, zu diskutieren (rein rational, nur auf Ebene von Argumenten, ohne emotional zu werden).

Auf der Ebene des Denkens, der Rationalität zählen nur die Argumente, die man austauscht. Auf Ebene der Demokratie zählt dann zusätzlich, welche Argumente dann eine Mehrheit erhalten – weil eine Mehrheit der Meinung ist, dass bestimmte Argumente die besseren oder zumindest die wesentlicheren, die entscheidenderen seien, aus welchen Gründen auch immer. Ist zum Beispiel kurzfristiges Profitdenken wichtiger oder langfristiges Zukunftsdenken?

Aber auf der Ebene der Rationalität, die alle Emotionen beiseitelässt, ist es zum Beispiel auch klar, hinzunehmen, was die Entscheidung des Volkes in irgendeiner Wahl ist. Der rationale Mensch dürfte nicht einmal mit der Wimper zucken, wenn die AfD eine Mehrheit bekäme. Rational akzeptiert er, dass das System, was die Gemeinschaft sich geschaffen hat, weil sie kein besseres kennt, nun eine Partei an die Macht bringt, die er, der rationale Denker, nie wählen würde. Mit diesem rationalen Denken ging Sokrates sogar in den Tod, als die kollektive Führung ihm befahl, den Giftbecher zu trinken, weil er ,die Jugend verführe’. Sokrates wusste, dass es keinen Sinn hat, sich gegen die Gemeinschaft zu stellen, selbst wenn sie irrt. Rational sah er, dass sein eigener Tod weniger Schaden bedeutet als ein offener Konflikt, ein Aufstand oder was auch immer.

,Der Klügere gibt nach’ – in der Hoffnung, dass der weniger Kluge seinen Mangel dadurch einsieht. So handelt die Ratio. Sie vergilt nicht Gleiches mit Gleichem, sie erhebt sich über dieses alttestamentarische Kräftemessen – und sie hofft, dass auch andere sich darüber erheben können.

Wenn aber die Mehrheit ,gar keine Lust’ hat, aus ihrer Emotionalität und Egoität herauszusteigen, ist es aussichtslos. Dann kann ein Sokrates, kann selbst Christus nichts weiter erreichen. An die besten Kräfte der Seele kann immer nur appelliert werden. Wenn der Einzelne dann nicht selbst empfindet, was da gerade geschah, an was in ihm appelliert wurde, was in ihm berührt wurde ... dann bleibt er ,ganz der Alte’, er hört nicht den heiligen Ruf, oder aber er tritt ihn sogar ganz bewusst mit Füßen.

Das Primat des Willens

Abstrakt auf das zu verweisen, was die Grundlage einer Demokratie ist, nämlich das abstrakte Miteinander-Diskutieren-Können, also das ,Primat der Argumente’, wird immer weniger nützen. Denn immer weniger wird dieses Primat anerkannt werden.

Warum sollte man es auch tun? Was soll denn dieses Primat der Argumente, wenn es nicht meine Argumente sind, die siegen? Soll ich mich etwa ausbooten lassen, bloß weil ein anderer scheinbar bessere Argumente hat oder sich dies einbildet? Es interessiert mich doch einen Scheißdreck, was für Argumente und überhaupt! Es geht um das, was ich will – und das diskutiere ich nicht aus, sondern handle einfach! So redet die Egoität, die aber in immer mehr Seelen das Ruder übernimmt.

Warum sich zurückhalten, wenn man auch rücksichtslos sein kann? Das ist die Grundeinstellung, die immer mehr zunimmt. Und wieder mit der zusätzlichen Dynamik: ,Auf mich hat man auch kaum einmal Rücksicht genommen’. Aber die Radikalisierung funktioniert auch ganz ohne diese noch relativ ,rationale’ Begründung. Egoismus pur bedeutet: Warum sollte ich Argumente austauschen? Fäuste tun’s doch auch! Und wieder ist es das Tier, was aus dem Abgrund aufsteigt. Der pure Willensmensch, der sich von Emotionen oder gar Argumenten, bloßen Gedanken, überhaupt nicht mehr reinreden lässt. Der auf die ,Gedankenmenschen’ im Grunde nur noch verächtlich herabblickt.

Das sind die unbewussten, aber sehr realen Tatsachen! Und solange die Fachwelt, die Schulen, überhaupt alle Welt dies nicht zur Kenntnis nimmt, ist auch keine Besserung zu erwarten, nur weitere Verschlimmerung.

Wir gehen einer Zeit entgegen, in der das Primat des Willens herrschen wird. Das Recht des Stärkeren – und stärker wird der größere Egoist sein. Wir sehen das Nahen eines Zeitalters des Egoismus.

Und Greta?

Und was hat dies mit Greta zu tun? An ihr scheiden sich die Geister und bekämpfen einander hoch emotional, und in diesen Emotionen steckt Wille, oftmals sehr hässlicher Wille.

Junge Menschen, die Greta unterstützen, wollen mit aller Macht die Zukunft retten. Andere, die Greta ohne alles Maß beleidigen, strömen ihren ganzen heftigen Willen in Form von Hass aus. Diese Hasskräfte sind es, die im anonymen Internet maßlos zunehmen – und die sozusagen ,schwarzer Wille’ sind. Wenn man davon ausgeht, dass auch Hass und Liebe sehr reale Kräfte sind, die die Welt verändern, sowohl die geistige als auch die irdische Welt, kann man bei den heute herrschenden und sich ausbreitenden Hasskräften ganz real von ,schwarzer Magie’ sprechen.

Und warum ruft Greta solchen Hass hervor? Weil sie etwas tut, zu dem man sich stellen muss. Sie selbst konfrontiert die Welt mit bestimmten Tatsachen. Und sie tut das nicht nur rational, sondern auch emotional. Und warum? Weil sie erkannt hat, dass Rationalität allein nichts nützt – denn rational sind die Fakten seit sehr langer Zeit bekannt, und getan hat sich nichts.

Die Rationalität ist schon immer zu schwach gewesen, weil fortwährend Partikularinteressen stärker waren. Die Zukunft ist angeblich wichtig, aber um der Wählerstimmen willen rührt man doch lieber nicht daran, denn die Rettung der Welt könnte ja Opfer kosten – und die will man den Wählern ganz rational nicht zumuten, denn es könnte sein, dass man dann nicht mehr gewählt wird. Ganz rational also rechnet der Politiker mit dem Egoismus und dem mangelnden Weitblick und der mangelnden Bereitschaft der Wähler, an künftige Generationen zu denken, also der Tendenz, mehr an sich selbst zu denken – und so denkt auch der Politiker mehr an sich selbst und kommt dem (vermeintlichen) Wählerwillen damit höchst gerne entgegen. Der gedachte, vermutete und rational berücksichtigte Wählerwille und der Wille des Politikers, an der Macht zu bleiben, verbünden sich miteinander gegen die Zukunft.

Greta hat von diesem Nichtstun genug gehabt. Sie hat rational erkannt, dass auch sie eine Verantwortung hat und dass Nichtstun auch bei ihr bedeuten würde, Verantwortung zu versäumen – und sie hat begonnen zu handeln.

Und Greta hat ganz rational erkannt, dass sie die Welt mit ihrem irrationalen oder egoistisch-rationalen Nichtstun konfrontieren muss.

Und nun wird die Welt konfrontiert und könnte endlich ebenso rational ihr Nichtstun erkennen – aber wird stattdessen höchst emotional, verdrängt die unangenehme Wahrheit und bekämpft ... Greta und in und mit ihr die Wahrheit, die man selbst nicht sehen will. Der Hass gegen Greta ist der Hass gegen die Tatsache, dass der eigene Lebensstil keine Zukunft hat – oder aber die Welt ohne Zukunft ist. Man hasst es, aus der eigenen Komfortzone gestoßen zu werden. Weil man dies nicht will, hasst man Greta. Das ist einfacher.

Und die Panik?

Wenn Greta sagt: ,Ich will, dass ihr in Panik geratet’, ist es lächerlich, wenn der Experte Prof. Boehme-Neßler darauf entgegnet, Angst sei ein schlechter Ratgeber. Es ist wirklich lächerlich.

Denn Greta, die vor den Vereinten Nationen oder auf Klimakonferenzen spricht, hat keine Panik. Sie spricht vollkommen ruhig und vollkommen klar, entschieden und mit existenziellem Nachdruck. Das ist das Gegenteil von Panik. Aber – es ist persönliches Betroffensein. Und das ist der entscheidende Punkt.

Um dieses Element geht es Greta – und dies fehlt sämtlichen Politikern. Denn erst mit diesem persönlichen, realen Betroffensein würden wirklich rationale Entscheidungen möglich werden. Alles andere ist Heuchelei, Machtwille und Wählerfang, sind Kompromisse, Halbheiten und scheinheilige Teilzugeständnisse. Entweder es geht um die Zukunft der Menschheit – oder wir spielen noch immer das Spiel ,der Kapitalismus ist unantastbar’.

Rationalität kann alles in Frage stellen – gerade das ist ihre Stärke. Sie kann alles denken: die nahende Klimakatastrophe und die notwendigen Maßnahmen, sie zu verhindern. Die Klimaforscher haben längst alle Daten und alle notwendigen Maßnahmen auf den Tisch gelegt. Die Rationalität könnte sie ganz klar anschauen und zur Kenntnis nehmen und erkennen, was dies für den Kapitalismus bedeutet. Nämlich ein so radikales Umsteuern, dass er seine Gestalt entweder völlig verändert – oder sogar ganz verschwindet. Oder eben ... die Klimakatastrophe kommt.

Für die Rationalität sind beide Optionen gleichwertig, die Frage ist nur, was man will. Sich noch in der Hitze-Wüste des Kapitalismus zu erfreuen, ist vielleicht nicht so toll. Die Rationalität würde sich für die Rettung des Klimas einsetzen. Und sie fände Wege, alles zu verändern, was dafür notwendig ist. Wege, die nur der eingefleischte Kapitalist, der an seinem Dogma wie an seiner Religion hängt, nicht gehen mag (der Suppenkaspar: ,Nein, meine Suppe ess ich nicht!’). Rational ist das nicht mehr.

Was also will Greta? Sie will die Welt nicht in die Emotionalität hineinstürzen, sondern in die Rationalität. Sie will, dass endlich wirklich erkannt wird, an welchem Punkt wir stehen.

Handlungsfähig wird man heute nur noch, wenn man die ,bloße’ Rationalität mit dem wirklichen Erleben verbindet – also mit dem Herzen. Denn dem nur im Denken lebenden ,Rationalisten’ ist letztlich auch der Weltuntergang gleichgültig. Es ist eben eine von vielen Optionen. Der Rationalist nimmt sie zur Kenntnis und das war’s. Man kann auch so sehr im Kopf leben, dass man handlungsunfähig wird, weil man gar nichts mehr ,will’ – und eben auch nichts mehr wirklich fühlt. Nicht einmal Gefahr, Tragik, Unheil.

Was will Greta?

Dem Denker ist am Ende alles egal. Und wir alle, als moderne Menschen, sind viel zu sehr abstrakte Kopflinge geworden. Wir können, bombardiert von Information in den Nachrichten und im Internet, nahende Katastrophen zur Kenntnis nehmen – und dennoch nur eine erschreckende Gleichgültigkeit empfinden, die gerade das Vakuum an Empfindung bedeutet. Wir können innerlich so leer sein, dass wir taten- und willenlos alles hinnehmen – oder allenfalls das Bedürfnis haben, auch die letzten Stunden noch angenehm zu verleben, wie auf der Titanic.

Das ist einerseits der moderne Egoismus, andererseits die furchtbare, zu einer Epidemie gewordene moderne Willensschwäche. Der Wille ist gelähmt, wir leben nur noch im Kopf, und gleichzeitig ist er egoisiert – wir denken nur noch an uns.

Es gibt aber auch Gedanken, die das Ganze denken können. Gedanken, denen die Zukunft nicht egal ist, sondern denen es gerade um die Zukunft geht. Ideale einer Zukunft – einer geretteten Zukunft, einer besseren  Zukunft. Junge Menschen denken solche Gedanken. Und sie denken sie mit Herz. Junge Menschen sind noch nicht ,abgegessen’, gesättigt mit Egoismus und träger Inaktivität. Sie haben noch wirklich Seele – sie haben Gedanken, sie haben Gefühle und sie haben einen Willen. Und sie setzen alles ein, was sie haben. Sie fordern die Rettung der Welt (ein absolut rationaler Gedanke), sie tun es leidenschaftlich – und kraftvoll. Kopf, Herz und Hand, Denken, Fühlen und Wollen sind im jungen Menschen noch eins, sie haben noch wirklichen Inhalt – und deshalb konfrontieren sie uns mit der Wirklichkeit. Denn sie leben noch in der Wirklichkeit, in der der erwachsene Mensch schon längst nicht mehr lebt.

Die Wirklichkeit ist nicht, dass Rettung oder Untergang gleichwertige Optionen sind, die man rational interessiert bis amüsiert zur Kenntnis nehmen kann. Die Wirklichkeit ist, wenn man angesichts der einen Option tatsächlich in Panik gerät. Greta will die Welt dazu aufrütteln, endlich in die Wirklichkeit zurückzukehren. Sie tut dies so rational wie nur möglich – denn sie erinnert die Menschheit daran, dass es an der Zeit wäre, in Panik zu geraten. Nicht, um wirklich in Panik zu geraten, sondern um an der Grenze zwischen Panik und Rationalität endlich auch zur wirklichen Rationalität zurückzukehren. Zu jener Rationalität, die mit dem ganzen Menschen zu tun hat und die kraftvoll und schnell handelt, wie es notwendig ist.

Wenn man einen Ertrinkenden rettet, handelt man auch absolut rational, aber es braucht nur Sekunden, und man weiß unmittelbar, was das Richtige ist. Und das tut man dann, ohne weiteres Nachdenken. Weiteres Nachdenken könnte nur dazu führen, zu der Erkenntnis zu kommen, dass es eventuell angenehmer wäre, nicht zu handeln. Auch das ist rational – aber nicht mehr menschlich.

Die Stimme des Mädchens

In meinem Roman ,Mädchenklima’ wird an einer Stelle darauf hingewiesen, dass auch Greta nicht ganz mit den Waffen eines Mädchens kämpft. Auch dort wird deutlich gemacht, dass Angst kein guter Ratgeber ist – und dass ein Mädchen statt an die Panik auch an die Liebeskräfte appellieren könnte (siehe dazu etwa mein Büchlein ,Liebesbriefe einer reinen Seele’, aber auch ,Sonnenmädchen’, ,Engelmädchen’ oder ,Vom Wesen der Mädchen’).

Doch welchen Weg ein Mädchen auch geht – es wird immer an das Fühlen appellieren. Sowohl die Panik (d.h. das Existenzielle einer Situation) als auch die Liebe werden empfunden. Und die Empfindung, das Fühlen, ist die große, große Lücke der modernen Zeit. Der moderne Mensch spaltet sich praktisch auf zwischen Kopf und Wille, zwischen Intellekt und Instinkt. Er weiß einerseits als rationales Wesen unendlich viel – und er handelt gleichzeitig als egoistisches Wesen unendlich nach eigenen momentanen oder ständigen Begierden.

Das Mädchen wird sich immer an das Fühlen wenden – denn das Mädchen ist die große Hüterin dieser Seelenkraft.

Was aber kann allein die Rettung gegenüber wesenlosen rationalen Erkenntnissen, die nicht zum Handeln führen, und sinnentleerten Handlungen, die keinerlei Erkenntnis oder Weitblick brauchen, weil sie ohnehin nur dem Egoismus dienen sollen – was allein kann die Rettung gegenüber all diesem bringen? Es ist das Herz, es ist die eigentliche Seele, es ist das Fühlen.

Greta spricht die Panik an. Die Mädchen meiner Romane sprechen die Liebeskräfte an. Denn Panik hat noch immer mit Egoismus zu tun – nicht bei Greta und anderen jungen Menschen, denen die Welt am Herzen liegt, aber überall da, wo man erst in Panik gerät, wenn man für die eigene Situation bemerkt, dass es brenzlig wird. In der Seele gibt es jedoch nicht nur diese Instanz, um ins Handeln zu kommen und sein Verhalten grundsätzlich zu ändern, sondern auch den Impuls der Liebe. Auch dieser ist in jeder Seele als Keim irgendwo verborgen. Hier aber ruht unser eigentliches und tiefstes Menschsein. Den Mädchen meiner Romane geht es gerade um diesen Keim.

Auch Greta geht es im Grunde um nichts anderes. Vielleicht findet sie dafür noch die richtigen Worte. Im Moment konfrontiert sie die Welt mit ihrem Nichtstun. Vielleicht wird sie sie eines Tages mehr und mehr mit ihrem inneren Nichtstun konfrontieren – mit dem Verrat an dem innersten Impuls, der in jeder Seele aufleben möchte und in dem erst dieses zutiefst Menschliche liegt.

Die Liebe überwindet die Rationalität, weil sie sie übersteigt. Auch die Liebe ist rational – und zugleich aber noch viel mehr. Rationalität kann die Welt nicht wirklich retten. Die Liebe kann es.

Man höre auf die Stimme der Mädchen! Und man mache sich zutiefst klar, was sie wirklich ansprechen. Es ist das eigentliche Wesen des Menschen. Hier beginnt es.

Quelle

[1] Greta Thunberg spaltet die Gemüter: Experte sieht darin Symptom für kränkelnde Demokratie. Ein Interview von Arzu Dagci. Web.de, 11.9.2019.