17.06.2022

Der documenta-Streit

Symptom eines größeren Problems.


Inhalt
Aufregen – die billige Lust der Moderne
Das Nonplusultra – der Konflikt
Die Schöne und das Biest
Das Problem BDS
Israel und der globale Süden
Anschläge und Bekenntniszwang
Der rechte Einpeitscher
Die Welt von Ruangrupa
Holocaust und globale Katastrophe


Aufregen – die billige Lust der Moderne

Das Sich-Aufregen und das Rechthabenwollen ist zu einer allumfassenden Pandemie geworden. Leider sind die wenigsten irgendwann immunisiert – es ist eine Dauerkrankheit. Und sie ist tödlich. Für die Wahrhaftigkeit.

Dies will erklärt sein – denn regt man sich nicht gerade aus Wahrhaftigkeit auf? Weil wieder einmal irgendwo etwas sehr Schlimmes geschieht?

Dies ist dann stets das wohlklingende eigene Narrativ, mit dem man sich selbst auch wunderbar einschläfern kann – die eigene Wahrhaftigkeit einschläfern kann, schon ganz am Anfang. ,Trete ich nicht für einen hehrsten Zweck an? Stelle ich mich nicht etwas sehr Schlimmem entgegen? Bin ich damit nicht zutiefst selbstlos und wahrhaftig?’

Nicht mehr da, wo dieser Anspruch billigste Münze geworden ist, wo geradezu eine Inflation der Selbstlosigkeit und anderen ,Gutmenschentums’ herrscht. Der Punkt ist, dass Selbstlosigkeit und Gutmenschentum sich noch nie durch den erwiesen haben, der sie für sich behauptete. Im Gegenteil – dies war immer schon ein deutliches Indiz dafür, dass sie hier gerade nicht gegeben war.

Je mehr man sich also aufregt, desto mehr sagt dies zunächst ausschließlich über einen selbst, nichts über die eigene Wahrhaftigkeit. Denn der Andere ist auch ein Mensch. Der Andere hat vielleicht genauso wahrhaftige Motive wie man selbst – oder sogar viel wahrhaftigere.

Aber was kann man dann überhaupt tun? Wo ist die Wahrheit dann? Wer besitzt sie? Dies ist eine Frage an die Wahrhaftigkeit. Besitzt man diese?

Wie selbstherrlich erweist sich dann allein schon der Gedanke, die Wahrheit könne besessen werden. Ist nicht allein schon diese Vorstellung ein Konstrukt? Noch dazu ein sehr maskulines? Wer wirklich Wahrhaftigkeit besitzt, der weiß, dass es nur umgekehrt sein kann. Nicht man besitzt die Wahrheit – sondern die Wahrheit nimmt einen sanft und allmählich in Besitz ... wenn man sich ihrer würdig erweist. Die Wahrheit ,hat’ nur der, den sie hat. Die erste Bedingung ist also Hingabe. Und Wahrhaftigkeit ist nichts anderes. Es ist Hingabe an die Wahrheit, die möglicherweise überhaupt noch nicht gekannt wird, die aber bereits geliebt wird, immer schon – und also auch da, wo sie vielleicht sogar wehtut.

Nur so kommt man zur Wahrheit – weil nur so die Wahrheit zu einem kommt. Andernfalls lässt sie einen in den jeweiligen Lieblingsmeinungen, weil man ihrer noch gar nicht würdig ist.

Die Wahrheit macht frei, heißt es im Evangelium – aber sie kommt auch nur zu den Freien. Zu jenen, die freigeworden sind von den Ketten der eigenen Lieblingsansichten, geschmiedet aus dem subtilen Eisen des Rechthabenwollens und einer Selbstliebe, für die das Aufgeben einer Meinung immer schon wie Selbstaufgabe wirkt...

Das Nonplusultra – der Konflikt

Die Postmoderne steht unter dem Zeichen der Beschleunigung und der Entzweiung.

Zu der ersten Tatsache muss kaum etwas gesagt werden, jeder spürt sie. Wo früher ein Brief eine Woche brauchte, ,checkt’ man heute dutzende, ja hunderte ,Messages’ und ,Infos’ an einem Tag. Die Halbwertszeit einer Information ist auf ein Minimum gesunken – und dies ist längst nicht das Ende. Das Internet ist ein riesiges Schlachtfeld um Relevanz, überall wird darum gekämpft, überhaupt nur gesehen zu werden. Wer aber nicht täglich, ja stündlich neuen ,Content’, liefert, der läuft sehr schnell nur noch unter ,Ferner liefen...’.

Auch dies heizt die Substanzlosigkeit sogar der Medien weiter an. Denn auch sie müssen stets die Ersten sein, die die entscheidenden ,News’ liefern. Wer dasselbe nur wenige Stunden später berichtet, ist schon uninteressant geworden. Auch um Hintergründe geht es dann immer weniger – wichtig sind die Schlagzeilen. Möglicherweise sogar als laufendes Dauerband, wo auch immer man sich gerade bewegt. Der Mensch wird zum informationsfressenden Intellekt-Säuger. Er selbst aber wird nicht mehr an der heiligen Brust der Weisheit genährt, sondern ,nährt’ sich verzweifelt an der Zapfsäule eines pausenlosen Informationsstroms. Welch eine Tragik!

Das zweite: Die Entzweiung. Sie ist eine automatische Folge eines Hyperindividualismus, wie ihn die Postmoderrne hervorgebracht hat. Wo es immer mehr um die ,Selbstverwirklichung’ geht, auf welch abstrusen Wegen auch immer, ist jegliches verbindende Element immer mehr am Schwinden. Man trifft sich dann vielleicht noch in Spezial-Chats etc. – aber was eigentlich die Welt oder die Gesellschaft ,im Innersten zusammenhält’ ... das interessiert einen weder mehr, noch existiert es überhaupt noch.

Im Gegenteil – sind es doch gerade die Konflikte, die für unzählige Menschen interessant sind. Hier laufen sie dann zu Hochform auf. Jedes Mitmischen gibt doch gerade die Chance, seinen eigenen Standpunkt einmal mehr in die Wagschale der erhitzten Gemüter zu werfen und sich dabei so recht existent zu fühlen. Wer keinerlei konstruktives Potenzial in sich hat, hat immer noch die Möglichkeit, Streit zu säen und anzuheizen! Und wie ungeheuer wird dieses Potenzial genutzt. Man muss sich auf Blogs, in den ,sozialen’ Medien etc. nur umsehen. Manchmal hat man den Eindruck, viele Menschen leben überhaupt nur noch für den Konflikt, ein gegenseitiges Sticheln, Sich-Beschimpfen, Rechthaben, Den-anderen-ins-Unrecht-Setzen, in einer Endlosschleife...

Die Schöne und das Biest

Diese Postmoderne steht im diametralen Gegensatz zu dem Wesen des Mädchens. Es war ja zu erwarten, dass ich zu diesem Punkt kommen würde... Aber es hilft nichts, zu der Wahrheit muss man immer wieder kommen, oder man versäumt das Wesentliche.

Es ist sehr bequem, die Wahrheit auf abstrakte Weise zu suchen. Sie befindet sich dann irgendwo in einer intellektuellen Sphäre – entweder hat der Eine Recht oder der Andere. Entweder ein anderer oder ich, in jedem Fall aber geht es nur um das Rechthaben bezüglich einer Ansicht, einer Meinung, einer Überzeugung, einer momentanen Spezialfrage. Dass es alles aber möglicherweise viel umfassender sein könnte, kommt einem auf diese Weise niemals in den Sinn, vielleicht ein Leben lang nicht.

Vielleicht ist das Ganze längst zu einem Irrweg geworden. Vielleicht ist der ,Kampf um die Wahrheit’, wie er sich heute täglich, stündlich offenbart, selbst ein ganz, ganz großer Irrtum – fern der Wahrheit und täglich ferner.

In dem grandiosen Anime-Film ,Belle’, der derzeit in einigen ausgesuchten Kinos läuft, begegnet man dem absoluten Gegenteil. Einem Mädchen, das sich nicht an dem Kampf um Content und Aufmerksamkeit beteiligt – und dem am Ende die Herzen gerade deshalb zufliegen. Einem Mädchen, das einfach nur zutiefst aufrichtig versucht, seinen Ausdruck zu finden, den es seit dem Tod seiner Mutter vor vielen Jahren verloren hat. Ein Mädchen, das seine Singstimme nicht erhebt, um gehört zu werden, sondern als eine reine, unschuldige Selbstoffenbarung. Ein Mädchen, das von vornherein auf alle Macht verzichtet – radikal.

Und gerade weil sie so unschuldig und aufrichtig ist, erkennt sie als Einzige das wahre Wesen des ,Biests’ – und die wahre Hässlichkeit der sogenannten ,Ordnungshüter’, die nämlich ihrerseits nur von einer heimlichen Sucht nach Macht und Kontrolle, von einer narzisstischen Geltungssucht besessen sind. Das wird in diesem Film erschütternd klar – und er offenbart einem mehr von der Realität, als einem lieb ist. Er berührt tief – und zeigt, wie sehr die Welt zu einem Irrtum geworden ist.

Belle zeigt den Ausweg. Sie ist im Grunde der Widerspruch zu unserer ganzen Zeit. Gerade deshalb offenbart sie so restlos, wo der Irrtum endet... Er endet im Herzen eines Mädchens. Und er endet da, wo auch andere Herzen diesem wieder ähnlich werden. Oder sich zumindest berühren lassen. Denn damit hätte der Weg aus dem Labyrinth zumindest begonnen.

Das Problem BDS

Doch steigen wir wieder hinein in das Labyrinth, um es an einem seiner unzähligen Punkte kennenzulernen: dem Streit um die documenta.

Nach einem Aufruf eines Kasseler ,Bündnis gegen Antisemitismus’ – in Wirklichkeit fast ein Ein-Mann-Unternehmen des Antideutschen Jonas Dörge [o] – berichtete zuerst die ,ZEIT’.[1] Einige Tage später folgte die FAZ.[2]

Das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa, das als Kuratorenteam die Documenta leitet, hatte vierzehn weitere Kollektive aus aller Welt eingeladen, unter anderem ,Question of Funding’ (QoF) mit Sitz im palästinenischen Ramallah. Ursprünglich lief dieses unter dem Namen der von ihm genutzten Räume des Khalil al Sakakini Cultural Center (KSCC). Der Namensgeber, ein arabischer Pädagoge, sollte ein Hitler-Verehrer gewesen sein und für Israels Auslöschung gekämpft haben (zu dieser Lüge siehe weiter unten). Der Syrer Yazan Khalili wiederum, der QoF repräsentiert, sollte antisemitische Positionen präsentieren und sich selbst als ,antisemitischen Schläger’. Dies jedoch stammt aus einem fiktiven Text des Autors – woraufhin die Kunstzeitschrift ,Monopol’ der ,Zeit’ schlechte Recherche und rassistische Berichterstattung vorwarf. Allerdings war Khalili bis 2019 künstlerischer Leiter des KSCC.[2]

Andere Teilnehmer der documenta stehen der BDS-Initiative nahe, die zum Boykott israelischer Produkte, Künstler und Wissenschaftler aufruft.[2] Im Mai 2019 wurden Argumentationsmuster und Methoden von BDS von einer breiten Bundestagsmehrheit als antisemitisch verurteilt.[3]

BDS weist mit Recht darauf hin, dass der Internationale Gerichtshof die israelischen Siedlungen und Sperranlagen im Westjordanland und Gazastreifen als illegal beurteilt hat und Israel von der UNO mehrfach verurteilt wurde.[3] In der Tat hat der UN-Menschenrechtsrat Israel öfter verurteilt als jedes andere Land.[4]
Führende BDS-Vertreter bestreiten jedoch das Existenzrecht Israels.[3] Auch die Gründungscharta der Hamas von 1988 ist offen antisemitisch, bezieht sich mehrfach auf die gefälschten ,Protokolle der Weisen von Zion’, die ein dämonisierendes Bild vom Weltjudentum zeichnen, und erklärt die Tötung von Juden zur Pflicht jedes Muslims.[5]

Und doch werfen die israelischen Siedler und der Alltag der palästinensischen Menschen in den von Israel besetzten Gebieten schwerwiegende Fragen auf – was erklärt, dass Israel gerade unter linken Intellektuellen scharf kritisiert wird. Denn Israel will ein demokratischer Staat sein. Damit aber darf dieser nicht fortwährend die Menschenrechte verletzen – selbst wenn es seine Gegner tun. Sonst bringt Unrecht stets neuen Hass hervor. Das ist es, was jedes Gewissen spüren kann: Konflikte sind nie gewaltsam zu lösen.

Aber der BDS diskreditiert sich auch selbst, indem massiv Druck auf Künstler ausgeübt wurde und wird, Auftritte in Israel abzusagen – was dann bis zu Morddrohungen durch BDS-Anhänger geht.[3]

Aber was bedeutet dies nun für die documenta? Müssen alle beteiligten Künstler vorab ein Bekenntnis ablegen, wie sie zum BDS oder zu Israels Existenzrecht stehen?

Schmidt schrieb in der ,ZEIT’:[6]

Ja, sicher, eine Menge läuft schief in der israelischen Gesellschaft, und die Siedlungspolitik befördert den Friedensprozess keineswegs. Doch ist das selbstverständlich nicht Faschismus, wie von BDS behauptet wird, ebenso wenig Kolonialismus oder Apartheid. [...] Man muss nicht akzeptieren, dass Israel gesagt und seine Vernichtung gemeint wird.

Israel und der globale Süden

Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags stellte jedoch fest, dass ein genereller Ausschluss von BDS-Unterstützern von öffentlich geförderten Veranstaltungen gegen die Meinungsfreiheit verstieße und damit verfassungswidrig wäre. Und in der Tat unterstützen viele Künstler des (postkolonialen) ,globalen Südens’ die Bewegung.[7]

Dies zeigt, welche Stellung Israel derzeit in der Welt hat. Der Staat ist eben selbst auch Konfliktpartei – und seine jeweiligen Regierungen haben sich immer wieder durch eine Politik der ,harten Hand’ ausgezeichnet. Einen Friedensstifter wie Gorbatschow sucht man bisher vergeblich. Und ein Staat mit mächtigem Militär, der seit Jahrzehnten Besatzungsmacht ist, wird vom ,globalen Süden’ verständlicherweise ähnlich wie eine Kolonialmacht wahrgenommen. Der Soziologe Natan Sznaider erläutert:[13]

Seit Edward Saids 1978 und 1979 erschienen Büchern „Orientalism“ und „The Question of Palestine“ ist der postkolonialistische Diskurs explizit anti-israelisch. Juden werden als weiße europäische Kolonialisten wahrgenommen.

Das ganze Gemisch ruft natürlich auch rechte Strömungen auf den Plan – so kann sich etwa ausgerechnet die AfD als Beschützer Israels gerieren und nebenbei rassistisch-antimuslimische Stimmung verbreiten.[7]

Am 14. Mai äußerten sich in der ,Berliner Zeitung’ das Kuratorenteam ruangrupa, das Artistic Team der documenta fifteen und einigen Kurator*innen des aufgrund der Vorwürfe zunächst geplanten Gesprächsforums ,We need to talk’.[8]

Im Rahmen der documenta fifteen wurden zu keinem Zeitpunkt antisemitische Äußerungen gemacht. Wir treten diesen Anschuldigungen entschieden entgegen und kritisieren den Versuch, Künstler*innen zu delegitimieren und sie auf Basis ihrer Herkunft und ihren vermuteten politischen Einstellungen präventiv zu zensieren.

Die Autoren wiesen darauf hin, dass auch Khalil Sakakini ein progressiver palästinensischer Pädagoge und keineswegs glühender Antisemit gewesen sei (sehr ausführlich siehe auch [12], wo sich Sakakini als sehr differenzierter, selbstkritischer, unideologischer arabischer Nationalist offenbart, der außer dem furchtbaren Nationalsozialismus alle Seiten verstehen kann) und das nach ihm benannte Institut ein überregional anerkanntes Kulturzentrum, in dem unter anderem auch die Konrad-Adenauer-Stiftung schon Veranstaltungen abgehalten habe.

Ferner sei der Zentralrat der Juden in Deutschland schon im März über das Konzept der nun von ihm kritisierten Gesprächsreihe informiert worden, auch Vertreter seiner Position seien eingeladen gewesen. Und dann schreiben sie wegweisend:[8]

Es ist zu bezweifeln, dass eine performative Bekenntniskultur im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus, Kolonialismus, Unterdrückung und globale Ungerechtigkeit ein hilfreiches Mittel ist.

Selbst die Definition von ,Antisemitismus’ sei wissenschaftlich kontrovers und umstritten – ebenso wie die Gleichsetzung von BDS und Antisemitismus. Völlig absurd wird es dann, wenn sogar noch eine vermeintliche oderr tatsächliche BDS-Nähe skandalisiert wird:[8]

Eine effektive Antisemitismusbekämpfung, davon sind wir überzeugt, braucht diese wissenschaftliche Praxis als Grundlage. Wird diese Debatte unmöglich gemacht, bleibt nur noch Diskursverwaltung. Vor dem Hintergrund realer antisemitischer Bedrohung durch Terror und Gewalt ist diese fehlgeleitete Feuilletondebatte mindestens fahrlässig.

Drei Tage zuvor, am 11. Mai hatte sich Kulturstaatsministerin Claudia Roth klar an die Seite des Zentralrats der Juden in Deutschland gestellt: Boykotten gegen israelische KünstlerInnen wolle man gemeinsam entgegentreten. Allerdings hätte das Gesprächsforum wie erwähnt alle Seiten vertreten, Teilnehmer wären etwa auch der jüdische Präsident des Deutschen Historischen Museums und der israelische Soziologe Natan Sznaider gewesen.[9]

Ein Artikel der ,Welt am Sonntag’ legt jedoch auch offen, dass nicht nur die documenta ohne einen israelischen Künstler stattfindet, sondern auch unter den 554 Künstlern der letzten vier Venedig Biennalen kein einziger Künstler aus Israel eingeladen war. Dies ist seit einigen Jahren zu beobachten – seit der BDS seinen Einfluss ausgedehnt hat. Farid Rakun, heute ein Sprecher von Ruangrupa, habe vor acht Jahren mit anderen Künstlern die Biennale Sao Paulo dazu aufgerufen, das Geld, mit dem die Teilnahme drei israelischer Künstler durch das Konsulat unterstützt wurde, zurückzuzahlen, um den jüdischen Staat nicht zu ,normalisieren’.[10] Berlin, so der Artikel weiter, sei noch nicht ganz so antiisraelisch wie London und Paris. Aber 2023 werde zum Beispiel Bonaventure Soh Bejeng Ndikung Intendant des Haus der Kulturen der Welt – er kuratierte 2020 die Sonsbeek-Biennale, die, so der Artikel, ,auf ihrer Website in enthemmter Rhetorik zum Israelboykott aufrief’.[10]

Anschläge und Bekenntniszwang

Ende Mai wurde dann in die Räume des Kollektivs ,Question of Funding’ eingedrungen und die Zahl ,187’ an die Wände gesprüht, die durchaus als Symbol für eine Morddrohung interpretiert werden kann. Damit ist eindeutig eine Grenze überschritten. Schon im April fanden sich an der Fassade des documenta-Hauptquartiers rassistische und anti-muslimische Aufkleber.[11]

Catrin Lorch schreibt über den neuen ,Rigorismus’ des Bekenntniszwanges, der die Welt in dualistische Lager einteilt:[11]

Man fühlt sich erinnert an die nach Joseph Mc-Carthy benannte Ära in den USA.

Jene düstere Zeit, in der es reichte, in den Verdacht zu geraten, mit dem Kommunismus zu sympathisieren, um für immer stigmatisiert zu sein. Wer einen eindeutigen Bekenntniszwang durchsetzen will, wird selbst ein Diktator... Und Lorch macht auf die Implikationen aufmerksam:[11]

Während die einen darauf hinweisen, dass sie auf der Teilnehmerliste durchaus israelische Künstler entdeckt hätten (die allerdings keine Juden seien) wie auch jüdische Künstler (die aber aus anderen Ländern stammten), weisen andere darauf hin, dass die geladenen jüdischen Künstler eher israel-kritisch seien. [...] An diesem Punkt spätestens wird die Auseinandersetzung unhaltbar. Weil man verlangt, was nicht einmal in der Politik, schon gar nicht in der Kunst zu haben ist: Nämlich die Verkörperung von politischen Positionen, die leibhaftige Repräsentation von Inhalten.

In derselben Ausgabe der ,Süddeutschen Zeitung’ nahm Hanno Loewy, immerhin Direktor des jüdischen Museums Hohenems und Präsident der ,Association of European Jewish Museums’ (!) den arabischen Nationalisten Sakakini in Schutz, der nämlich in Wirklichkeit ein glühender Hitler-Gegner war, und kritisiert ganz offen die Rolle des ,Zentralrats der Juden in Deutschland’ für dessen geradezu übergriffigen Vorwürfe an Ruangrupa:[12]

[...] sich nicht genug mit dem Antisemitismus zu beschäftigen. Und dem Zentralrat die Rednerliste nicht zur Kontrolle vorgelegt zu haben. Und überhaupt, wie es denn sein könne, dass in dieser Veranstaltung auch von Rassismus die Rede sein solle.

Der Vorwurf des Antisemitismus könne auch dazu missbraucht werden, absolut legitime Positionen zu diskreditieren, und richte sich unberechtigterweise ,gegen jeden, der auch Zweifel daran hat, dass Israel als ethnisch exklusiv-jüdischer Staat eine gute Zukunft hat, und stattdessen über eine Erneuerung zwischen Mittelmeer und Jordan nachdenken möchte’.[13] Inzwischen werde der Antisemitismusvorwurf auch von Rechtspopulisten aller Art dafür missbraucht, Hass gegen Migranten, Flüchtlinge und Muslime zu schüren. ,Dass der Zentralrat der Juden in diesen Auseinandersetzungen eine unrühmliche Rolle spielt, wird jeden Tag deutlicher’.[13]

Der rechte Einpeitscher

Die völlige Gegenposition vertrat dann Ulf Poschardt in der ,WELT’. Er behauptete, Ruangrupa habe ,von Anfang deutlich werden lassen, dass sie deutsche Vorbehalte gegen die antisemitische Boykottbewegung ebenso wenig nachvollziehen können wie den Bundestagsbeschluss zum BDS’. Ferner, dass soeben im ,Haus der Kulturen’ in Berlin ein steuerfinanzierter Kongress das Holocaust-Gedenken zu einer Sache der Rechten deklariert habe – und die ,Süddeutsche Zeitung’ diesen regelrecht gefeiert habe und ,schon in der Vergangenheit durch antisemitische Karikaturen auffiel’.[14]

Diese aggressiven, alles entstellenden Äußerungen muten an, als seien sie der ,BILD’-Zeitung entsprungen. Aber – die ,WELT’ ist tatsächlich Teil der Springer-Presse. Damit erklärt sich vieles. Die Hetze gegen Ruangrupa, das ,Haus der Kulturen’, wo die Konferenz ,Hijacking Memory’ stattfand, gegen die ,Süddeutsche Zeitung’ und gegen die grüne Kulturstaatsministerin Claudia Roth passt in ein Muster. Der Kongress hatte das reale Problem thematisiert, dass rechte Strömungen den Antisemitismus-Vorwurf für sich entdecken, um sich selbst profilieren und unter seinem Deckmantel den eigenen Rassismus vorantreiben zu können. Poschardt verleumdet den Kongress und unterstellt den progressiven Veranstaltern, sie würden das Holocaust-Gedenken nicht mehr wichtig finden – welch eine Perversion des wahren Motivs!

Poschardt zitiert einen Galeristen:[14]

Den Documenta-Verantwortlichen gibt er drei Ratschläge. „Erstens muss man herauskommen aus dieser Sprache, die immer floskelhafter wird, je mehr sich die Positionen verhärten. Zweitens darf man nicht in die gewohnten Reflexe der Abwehr verfallen. Man muss genauer hinschauen, genauer zuhören und wirklich einmal versuchen, den anderen zu verstehen. Und drittens muss man Debatten auch führen wollen, statt sich nur von ihnen treiben zu lassen. [...]  Es wäre der besondere Anlass, wirklich zu probieren, eine tiefere und ruhigere Form des Miteinander-Redens zu finden.“ Gerade im Kulturbereich: „Denn wenn es nicht einmal da mehr geht, dann wird bald überhaupt nichts mehr gehen.“

Welch eine Heuchelei! Der ,WELT’-Artikel war der schärfste von allen – der entstellendste, der verhärtendste. An Poschardt wäre der Hinweis zu richten, dass es darum ginge, ,genauer hinschauen, genauer zuhören und wirklich einmal versuchen, den anderen zu verstehen’, anstatt ihn zu verleumden. Mit so einem Menschen eine tiefere und ruhigere Form des Miteinander-Redens zu finden, scheint nahezu aussichtslos. Man muss nur kurz Wikipedia zu Rate ziehen und findet genügend:

Gemäß Julia Encke (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) „wettert“ Poschardt seit Beginn der COVID-19-Pandemie in nahezu jedem Leitartikel in der Welt gegen Corona-Schutzmaßnahmen und vertritt damit genau die „polemische Behauptungskette von Freiheitsberaubung und Selbstzensur, die man seit der Corona-Pandemie vor allem im rechten Spektrum findet“.[24]
In der österreichischen Tageszeitung Der Standard wurde Poschardt im Februar 2021 als »neoliberales Twitter-Rumpelstilzchen« charakterisiert, der mit ideologischen Pappkameraden verbal auf der Trump-Klaviatur spiele.[25]

Die Corona-Maßnahmen hatten vielfach tatsächlich etwas Überzogenes, aber das macht das neoliberale Rumpelstilzchen nicht sympathischer. Poschardt ist ein reaktionärer Populist, der es in der Springer-Presse (derzeit ist er Chefredakteur von ,WeltN24’) eines Tages noch an die Spitze schaffen kann.

Wie rechtsreaktionär Poschardt ist, lässt sich leicht weiteren Analysen entnehmen. Ein Verherrlicher des Kapitalismus, der den neuen CDU-Chef Merz, einen Scharfmacher ersten Ranges, der bereits für den ultramächtigen Investitionsfonds Blackrock gearbeitet hat, ,politische Mitte’ nennt![15] Und selbstherrlich geriert Poschardt sich als der Vertreter der ,freien’ Weltordnung, als einer der Wenigen, die sozusagen noch ganzer (weißer?) Mann sind – während sein Twitter-Account lauter Follower aus der identitären und rechten Bewegung hat:[16]

[...] hält Poschardt die Welt für „eine Art Bastion, in der das freiheitlich-liberale Denken noch was zählt“ und „in der es keine Denk- oder Sprechverbote gibt“. [...] „Es gibt ein halbes Dutzend Journalisten, die sollen, wenn es nach den Twitter-Brigaden geht, am liebsten für immer schweigen. Echte Liberale, dazu zähle ich Jan Fleischhauer, Henryk M. Broder, Don Alphonso oder Julian Reichelt. Ich finde gar keine Worte dafür, wie man mit dem Bild-Chefredakteur öffentlich umgeht.“

Kein Jahr nach dieser Äußerung wurde Reichelt entlassen, als sein Machtmissbrauch gegenüber Frauen (kurz gesagt: Jobs gegen Sex) derart klar geworden war, dass er selbst für den Springer-Konzern unhaltbar geworden war.

Die Welt von Ruangrupa

Das indonesische Kollektiv Ruangrupa, dem die documenta 15 anvertraut wurde, steht für das absolute Gegenteil.

In einem langen Interview im ,Kunstforum’ wird deutlich, was das Kollektiv aus Jakarta ausmacht. Es geht um nichts weniger als eine echte Alternative zu Kapitalismus und Ausbeutung:[17]

[...] eine alle Himmelrichtungen vereinende Gemeinschaft vernetzter Kollektive, die frei von Hierarchie sich gegenseitig unterstützen, Ressourcen teilen, Lebensalternativen aktivieren, dabei das Lokale nicht dem Globalen unterbuttert, sondern beides miteinander versöhnt.

Bevor Ruangrupa irgegndwo tätig wird, geht es ihnen darum, die Menschen ihrer Umwelt kennenzulernen und sich mit ihnen zu vermischen. In der indonesischen Tradition ist der Geist des Teilens und der Empathie tief verankert – und dies gilt nun auch für die documenta. Zu den Werten von Ruangrupa gehören Nachhaltigkeit, lokale Verankerung, Humor, Großzügigkeit, Transparenz, Regeneration, Unabhängigkeit und Genügsamkeit. Ein Zentralbegriff ist auch ,lumbung’, die gemeinsame Reisscheune.

Dieser tief menschliche, jede Machtkonzentration zurückweisende Ansatz spiegelt sich auch in der Tatsache wieder, dass die Künstlerliste der documenta 15 nicht auf großen Pressekonferenzen bekanntgegeben wurde, sondern in dem von Obdachlosen in Kassel verkauften Straßenmagazin ,Asphalt’.[17]

Es ist symptomatisch, dass in demselben Jahr 1955, in dem die documenta ins Leben gerufen wurde, in Jakarta ein Asien-Afrika-Gipfel mit Vertretern aus rund 80 kolonialisierten Ländern stattfand, die Konferenz von Bandung, ,um ihre Zusammenarbeit zu stärken und eine Neuausrichtung der globalen Weltordnung zu fordern’ – und ,die große Wunde der Welt, ausgelöst durch den Westen, zu heilen’. Dieser Westen bzw. Norden ging jedoch darüber hinweg. Zehn Jahre später kam in Indonesien durch einen Staatsstreich mit Hilfe der USA General Suharto an die Macht – woraufhin bis zu einer Million Kommunisten und regierungskritische Studenten ermordet wurden, während westliche Investoren ins Land geholt wurden.[17]

Der Ansatz des Kapitalismus ist jedoch vollständig gescheitert – und nur mangelnder Mut kann dieses Scheitern auf allen Ebenen noch immer verleugnen. Der Kapitalismus beruht auf Egoismus, Gewalt, Verschärfung der Gegensätze und einer zunehmenden seelischen und physischen Not der Vielen zugunsten des ausbeutenden Vorteils einiger Weniger. Er beruht auf Kampf, Konkurrenz und Gleichgültigkeit. Wohin man auch blickt – er führt zu Vernichtung und ist gescheitert.

Was Ruangrupa verkörpert, ist das radikal Neue, Zukünftige. Und die entscheidende Frage wird sein: Wie viele werden dies begreifen? Ernst nehmen? Aufgreifen? Und damit ist allein schon die Presse gemeint – denn jetzt wird es darauf ankommen, nicht mehr floskelhaft zu bleiben, keine bloßen Sonntagsreden zu verbreiten, sondern einander tief zuzuhören. Ein zwielichtiger Ein-Mann-Blog konnte über das Thema ,Antisemitismus’ eine Erschütterung produzieren, die durch die gesamte Republik ging. Was wird man nun der eigentlichen documenta entgegenbringen?

Holocaust und globale Katastrophe

Ja, sieben Millionen ermordete Juden – das ist einzigartig. Und ja, man kann das Bild ,Guernica Gaza’ von Mohammed Al Hawajri, problematisch finden, der einen drohenden Angriff israelischer Soldaten auf palästinensische Bauern zeigt – wo doch Picassos Bild ,Guernica’ auf die Zerstörung der spanischen Stadt durch die faschistische deutsche ,Legion Condor’ hinwies. Aber erstens war hieran auch der italienische ,Corpo Truppe Volontarie’ beteiligt, und zweitens starben dabei nicht etwa Zehntausende oder Tausende, sondern immerhin nur Hunderte, und ein Krieg ist immer schrecklich. Picassos Bild war eine Antwort auf die Schrecken des Krieges.

Auch eine Besatzung ist schrecklich. Kunst kann hochpolitisch sein und den Finger in tief schmerzende Wunden legen. Der jahrzehntelange Nahost-Konflikt ist eine solche Wunde – und ,Guernica Gaza’ ist die Sicht eines palästinensischen Künstlers. Man kann ihm diese nicht absprechen. Es ist auch kein Antisemitismus, es ist ein Hinweis auf die Schrecken eines fortgesetzten Zustandes, der nicht existieren dürfte. Sieben Millionen Juden waren Opfer des Nazi-Terrors. Heute aber ist der israelische Staat und sind israelische Soldaten auch Akteure und wird Unrecht produziert.

Die tägliche Demütigung der Palästinenser wurde bereits durch den Dokumentarfilm ,Breaking the Silence’ (2012) dokumentiert, in dem sich ehemalige israelische Soldaten äußerten. In diesem Jahr tat der Dokumentarfilm ,Silence Breakers’ (2022) ähnliches. Die Aussichtslosigkeit dieses Konflikts ist erschütternd. Und noch einmal: Israel ist eine Konfliktpartei. Dokumentarfilme und Kunst können und müssen dies thematisieren.

Aber es geht nicht nur um Israel. Der ,globale Süden’ erkennt weder die ,Einzigartigkeit’ des Leides eines einzigen Volkes an noch die Tatsache, dass überhaupt ein Leid gegen ein anderes ausgespielt werden kann. Vorgestern berichteten die ,Tagesthemen’ [o], und dort kam auch eine kubanische Künstlerin zu Wort, die ihre Künstlergruppe nach der deutsch-jüdischen Philosophin Hannah Arendt benannt hat: ,Ich glaube, der Schmerz eines Volkes sollte nicht über den Schmerz eines anderen Volkes gestellt werden.’ Diese documenta zeige eine Vielzahl von Schmerz, die Menschen in ihren jeweils eigenen Ländern erleben.

Es ist an der Zeit, das unendliche Leid in der Welt endlich wahrzunehmen, umfassend, voll und ohne jede Abwehr oder Aufrechnerei. Jährlich sterben in dieser Welt mindestens zehn Millionen Menschen an Hunger, und das sind nur die offiziellen Zahlen. Für diesen fortgesetzten Massentod ist vor allem der globale Norden verantwortlich, denn er hat es bis heute nicht geschafft, eine gerechtere Weltordnung zuzulassen, sondern fördert mit seinem ungeheuerlichen kapitalistischen Machtvorteil Tag für Tag das Leid von Milliarden.

Der Hinweis der documenta-Künstler auf dieses globale Leid – im Grunde längst ein verzweifeltes Leid des halben Planeten – kann endlich das Dogma zerbrechen, dass das eine Leid bedeutender sei als ein anderes. Es geht um ein Einziges: die Augen zu öffnen. Ein Ende zu machen mit der Unwahrhaftigkeit. Und einzusehen, dass der wahre, jährliche Holocaust von Strukturen verursacht wird, die mitten aus dem dunklen Herz des Nordens kommen und hier Tag für Tag aufrechterhalten werden. Wenn wir nicht aufpassen, haben wir sehr bald einen zweiten Krieg in Europa – Türkei gegen Griechenland. Aber selbst dieser schockierende Umstand wäre noch immer nichts gegen den Krieg, den der Norden täglich führt. Das – das ist die Botschaft des Südens hier und heute in Kassel und weltweit.

Die Zukunft hat begonnen. Wann lernt der Norden, völlig umzudenken und völlig umzuhandeln?
 

Nachtrag 21.06.2022:


Gestern wurde ein zunächst gerissenes Großbanner mit dem Tiel ,People’s Justice’ (2002) des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi aufgehängt, das unter anderem auch zwei klar antisemtische Figuren zeigt: eine mit jüdischen Schläfenlocken, Reißzähnen und SS-Runen auf dem Hut, eine weitere mit ,Mossad’-beschriftetem Helm und Schweinsnase [o]. Das Bild sollte zunächst nur teilweise, dann ganz verhüllt werden und wurde noch am 21. Juni abgehängt [o]. Auch wenn es sich nur um eines von über tausend Bildern dieses einen Kollektivs handelt und auf der documenta rund 1700 Künster tätig sind – der politische Schaden ist jetzt maximal. Nicola Kuhn schreibt im Tagesspiegel [o]: "Verdient hat die Documenta es nicht, denn diese 15. Ausgabe ist von einer mitreißenden Aufbruchstimmung getragen, dem Versuch, gemeinsam gegen lokale Missstände vorzugehen." Und man muss hinzufügen: Eine Welt zu entwerfen, in der es keine Ausbeutung, keine Unterdrückung, keinen Terror, keine Geheimdienste, keinen Hass mehr gibt. Der größte Terrorist und letztlich auch Rassist ist der Kapitalismus selbst. Der Norden hat also eine ungeheuerliche Verantwortung.

Geradezu rassistisch sind nun aber die Reaktionen von WELT-Chefredakteur Poschardt, der schrieb [o]: "Richtig blamiert sind einige der deutschen Großkritiker, die sich die antikapitalistische Folklore als so eine niedliche Völkerschau des Globalen Südens mit der klassischen paternalistischen Geste hübsch gesehen haben." Dies offenbart unglaublich viel über Poschardts eigenes Denken!

In dem Bild werden in der langen Reihe der Geheimdienst-Vertreter auch die Gestalten anderer Staaten regelrecht als Monster und Zombies dargestellt [o]. Das ganze Bild ist eine vernichtende Kritik an totalitärer Staatsmacht, die sich mit dem Kapitalismus gemein macht und weltweit Leben, Freiheit und Menschlichkeit zerstört [o]. Die Kritik an jeglichen Machtstrukturen, an Militarismus, Korruption, Naturzerstörung und Ungleichheit prägt die gesamte Arbeit des Kollektivs [o]. Einer kleinen, aber wesentlichen Figur jüdische Locken zu geben, war ein klarer antisemitischer Fehlgriff. Macht und Kapital aber begehen weltweit und Tag für Tag Verbrechen schlimmster Art. Darauf wäre endlich der Hauptblick zu richten. Viel Zeit hat die eine Menschheit nicht mehr.

Elke Buhr, Chefredakteurin von ,Monopol’ hat die Problematik sehr gut kontextualisiert [o]. Sie weist auch darauf hin, wie der drei Jahrzehnte (1967-1998) herrschende indonesische Diktator Suharto, der nach einem den Kommunisten in die Schuhe geschobenen Putschversuch und monatelangen Massenmorden an die Macht kam und dann als korruptester Diktator der Welt galt, von den westlichen Mächten unterstützt wurde. Insbesondere der CIA unterstützte die Morde an möglichen Kommunisten, bei denen möglicherweise sogar bis zu drei Millionen Menschen ums Leben kamen [o]. Aber auch der israelische Geheimdienst Mossad knüpfte ungeachtet aller Massaker Beziehungen zur Suharto-Diktatur [o]. Und ebenso unterstützte der BND jenes Regime, unter dem es zu einer der größten Gräueltaten seit dem Holocaust kam, von Anfang an [o]. Um diesen Wahnsinn und diese brutale, verdeckte Interessenpolitik geht es. Um ungeheuerliche Doppelmoral – die auch nie aufhören wird, solange es den Kapitalismus geben wird.

Quellen:

[1] Thomas E. Schmidt: Verschweigen, das geht nicht mehr. Hat die Documenta ein Antisemitismus-Problem? Zeit.de, 12.1.2022.
[2] Niklas Maak: Das Dilemma von Kassel. FAZ.net, 20.1.2022.
[3] Wikipedia: Boycott, Divestment and Sanctions.
[4] Ranking der Länder mit den meisten Verurteilungen durch den UN-Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen im Zeitraum von 2006 bis 2022. Statista.de.
[5] Wikipedia: Hamas.
[6] Thomas E. Schmidt: Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit sind keineswegs dasselbe. ZEIT.de, 23.2.2022.
[7] Niklas Maak: Darüber reden wir nicht. FAZ.net, 14.4.2022.
[8] Offener Brief zur Documenta: Wie ein Gerücht zum Skandal wurde. Berliner Zeitung, 9.5.2022.
[9] Gibt es noch Vertrauen in die Kasseler Schau? Tagesspiegel.de, 15.5.2022.
[10] Der blinde Fleck. Welt am Sonntag, 15.5.2022.
[11] Catrin Lorch: Bekennt euch. Süddeutsche Zeitung, 1.6.2022.
[12] Hanno Loewy: Schaut genau hin. Süddeutsche Zeitung, 1.6.2022.
[13] Harry Nutt (im Gespräch mit Natan Sznaider): „Juden werden als weiße europäische Kolonialisten wahrgenommen“. Berliner Zeitung, 14.6.2022.
[14] Ulf Poschardt: Es bleibt unbegreiflich. Welt.de, 14.6.2022.
[15] Albrecht von Lucke: Rechte APO mit medialer Macht. Blätter, März 2021.
[16] "Die immer gleichen Trampelpfade". www.journalist.de, 8.12.2020.
[17] Heinz-Norbert Jocks: ruangrupa. Verkollektivierung der Welt. KUNSTFORUM 279.

[o] Stephen Wright: Files reveal details of US support for Indonesian massacre. AP News, 18.10.2017.
[o] Eitay Mack: How Israel helped whitewash Indonesia’s anti-leftist massacres. +972 Magazine, 9.9.2019.
[o] Jonas Mueller-Töwe: Der Genozid und Deutschlands heimliche Hilfe. t-online, 13.7.2020.
[o] Jess Melvin: There’s now proof that Soeharto orchestrated the 1965 killings. University of Melbourne, 26.6.2018.

[o] Meron Mendel: Gut gemeint, das Gegenteil von gut. taz, 4.1.2021. [über Poschardts verquere Ansichten und Formulierungen].