06.10.2023

Der brutale Missbrauch der ,Literaturwissenschaftler’

Über das Schicksal der Mädchen bei Storm – und ihre Vergewaltigung durch moderne ,Deuter’.


In meiner umfassenden Studie zur Parthenophilie oder Mädchenliebe habe ich auch auf den Wahnsinn hingewiesen [o o o], der darin besteht, dass ,Literaturwissenschaftler/innen’ heute auf den Schwingen des Missbrauchsdiskurses und einer Laien-Psychoanalyse wie ein Ikarus zu immer absurderen Höhenflügen der sogenannten ,Deutung’ ansetzen – völlig überzeugt von sich, während man als Rezipient sich die ganze Zeit über erschüttert fragt: wie abgehoben von jeder Realität darf es denn noch sein?

Da werden Mädchen als ,Kindfrauen’ herabgewürdigt und unsichtbar gemacht. Da wird eine Liebesheirat zum Ergebnis einer Vergewaltigung umgedeutet, das zur Welt kommende Kind der Liebe in ein ,Siebenmonatskind’ umgedeutet, indem kurzerhand acht (!) weitere Monate unterschlagen werden, obwohl Theodor Storm genaue Zeitangaben macht. Da werden entscheidende Szenen einer Novelle ins Gegenteil umgedeutet, obwohl die Gewaltsamkeit, mit der diese Deutungen ,durchgesetzt’ werden, offensichtlich ist. Man hat den Eindruck, die ,LiteraturwissenschaftlerInnen’ sind dermaßen in ihre Deutungen verliebt, dass sie jeglichen Realitätssinn gerne über Bord werfen, nur um sich immer wieder bestätigt zu sehen. Narzissmus in Reinkultur – der noch um so leichter fällt, wenn sich dann ein kleines Grüppchen in diesen abseitigen Deutungen gegenseitig bestätigt und die Absurdität immer weiter treibt.

Wie in einem Spiegelkabinett findet sich in diesen Deutungen alles, was die DeuterInnen den Storm’schen Figuren selbst ,unterschieben’ wollen – eben Narzissmus, aber auch subtile Gewalt und anderes mehr. Nur eines scheinbar nicht: die Unsicherheit, die vielen Storm’schen Figuren so eigen ist. Jene ,LiteraturwissenschaftlerInnen’ sind so selbstsicher wie ein Elefant im Porzellanladen! Und gerade deshalb um so gewalttätiger und missbräuchlicher. Aber vielleicht steckt dahinter ja ebenfalls eine tief verborgene Unsicherheit? Vielleicht können sie sich auf dem Feld der ,Interpretation’ endlich so ausleben, wie sie es sich immer gewünscht haben. Allmachtsphantasien befriedigt dieses Metier völlig beliebiger Deutungen ja genügend... Und wenn sie dann die Storm’schen Figuren in das Gefängnis ihrer Deutungen gesperrt haben, haben sie ein weiteres Mal dasjenige selbst getan, was sie jenen unterstellen...

Ich möchte hier ein weiteres Beispiel erlebbar machen, auf das ich in meiner umfassenden Studie nicht eingegangen bin. Es handelt sich im wesentlichen um die Dissertation von Malte Stein, die dann 2006 unter dem Titel erschien: ,„Sein Geliebtestes zu töten“. Literaturpsychologische Studien zum Geschlechter- und Generationenkonflikt im erzählerischen Werk Theodor Storms’.[1]

                                                                                                                                       *

Die erste der vier Novellen, die Stein analysiert, ist ,Auf der Universität’. In dieser liebt der sich erinnernde Erzähler, Bürgersohn und Sekundaner einer Lateinschule, mit etwa sechzehn, siebzehn Jahren zart und schüchtern die hübsche dreizehnjährige Tochter einfacher Leute, einer Köchin und eines französischen Flickschusters. Er und sein Freund, der Sohn des Bürgermeisters, können ihre Mutter überreden, ihr ebenfalls die Tanzschule zu erlauben, wofür sie noch eine Partnerin gesucht haben.

Das Mädchen war indessen wieder eingetreten und hatte sich neben die Mutter gestellt. Es entging mir nicht, daß sie ein weißes Krägelchen umgetan hatte; auch meinte ich, die Ohrringe mit den roten Korallenknöpfchen vorhin nicht an ihr gesehen zu haben.
„Was meinst du, Lore?“ sagte Fritz, während die Mutter noch immer nachdenklich und unschlüssig dreinsah, „hast du Lust, mit uns zu tanzen?“
Sie antwortete nicht; aber sie faßte die Mutter mit beiden Händen um den Hals und flüsterte ihr zu, während ihr Antlitz mit immer tieferm Rot überzogen wurde.

Es ist deutlich, dass das Mädchen sehr gerne mit zum Tanzen kommen möchte. In der Tanzstunde ist es dann aber sehr isoliert, weil die anderen Mädchen, aus besseren Verhältnissen kommend, sich auch für etwas besseres halten. Der Erzähler aber kauft ihr von seinen Ersparnissen heimlich und schüchtern weiße Mädchenhandschuhe. Die Beschämung des Mädchens durch die ganzen Standes- und Wohlstandsunterschiede wird immer wieder deutlich, etwa auch in folgender Szene:

Bei dem Geräusch der zufallenden Tür schrak sie sichtlich zusammen, während sie mit Hast bemüht schien, einen goldenen Schmuck von ihrer Hand zu streifen. Als ich zu ihr getreten, sah ich, daß es ein Armband war, dessen Schloß sie vergeblich zu öffnen sich bemühte.
„So laß es doch sitzen, Lore!“ sagte ich.
„Es gehört nicht mein!“ antwortete sie verlegen, „Jenni hat es hier vergessen.“
Die feine Blumenrosette von mattem venezianischem Golde lag so schimmernd auf dem braunen schlanken Handgelenk.
„Es sollte bleiben, wo es ist“, sagte ich leise.
Lore schüttelte traurig den Kopf, und ihre Finger begannen aufs neue an dem Schloß zu nesteln.
„Komm“, sagte ich, „es geht ja nicht; ich will dir helfen!“ – Ich fühlte die leichte Last ihrer schmalen Hand in der meinen; ich zögerte, meine Augen waren wie verzaubert.
„Oh, bitte, geschwind!“ bat sie. Mit niedergeschlagenen Augen, wie mit Blut übergossen stand das Mädchen vor mir.
Endlich sprang das Schloß auf, und Lore legte den goldenen Schmuck schweigend zwischen die Blumentöpfe auf die Fensterbank.

Lore ist in ihrer sozialen Situation gefangen – aber für den Erzähler ist sie viel kostbarer als alle anderen Mädchen und hätte den goldenen Schmuck unmittelbar ,verdient’. Sie aber kann nicht spüren, wie sehr er sie verehrt – oder lässt es aus anderen Gründen nicht an sich herankommen.

Auf dem Abschluss-Tanzball erscheint auch kurz ihr Vater, der arme Schneider. Es zeigt sich, wie sehr Lore ihn liebt und wie sehr es sie schmerzt, das auf ihn von all jenen höheren Standes fast automatisch herabgeblickt wird.

Im Januar begegnet der Erzähler Lore erneut auf dem zugefrorenen See. Ein Tischler-Lehrbursche fährt die Mädchen abwechselnd in einem Schiebeschlitten. Der Erzähler würde Lore auch gerne einmal schieben, aber sie entzieht sich ihm. Schließlich tut er es heimlich. Nach langer Fahrt entdeckt sie es plötzlich und will heraus, was er aber nicht zulässt. Dann jedoch wird er von dem Schreinersohn Christoph verfolgt, dem der Schlitten gehört. Früher waren beide befreundet, dann aber hatte Christoph einen Hass gegen die ,Lateiner’ entwickelt. Lore ist zunächst froh über die nahende Rettung, doch Christoph streckt den Erzähler mit einem Faustschlag nieder, was die Situation völlig wandelt:

Nicht ohne große Bestürzung hatten dann beide, nachdem Lore ausgestiegen, mich in den Schlitten gehoben. – Mir selbst kam nur ein dunkles Gefühl von alledem; es war wie Traumwachen. Mitunter verstand ich einzelne Worte ihres Gesprächs. „Behalte doch deinen Mantel, Lore!“ hörte ich Christoph sagen. – „O nein; ich brauch ihn nicht; ich laufe ja.“ – Und zugleich fühlte ich, daß etwas Warmes auf mich niedersank. Der Schlitten bewegte sich langsam vorwärts. Dann kam es wieder wie Dämmerung über mich; immer aber war es mir, als ginge ein leises Weinen neben mir her.

In der Wohnstube des Wassermüllers, wohin er gebracht wird, versöhnen sich die beiden Jungen, und am nächsten Tag bringt Christoph ihm ein selbstgefertigtes, poliertes Federkästchen. Man spürt, wie damals alle Empfindungen noch wesentlich tiefer reichten als heute...

An einem Frühlingstag macht sich der Erzähler, der sich vor einigen Jahren auch eine Schmetterlingssammlung angelegt hatte, auf die Suche nach dem von ihm noch immer gesuchten Brombeerfalter, der ,die stillen Waldwiesen liebt’. Den ganzen Tag lang treibt er sich in der damals noch idyllischen Landschaft herum, bis er sich ganz in den Traum an das geliebte Mädchen verliert:

Ich legte mich neben dem Wässerchen im Schatten des schönen Baumes in das Kraut. Ein Gefühl von süßer Heimlichkeit beschlich mich; aus der Ferne hörte ich das sanfte träumerische Singen der Heidelerche; über mir in den Blüten summte das Bienengetön; zuweilen regte sich die Luft und trieb eine Wolke von Duft um mich her; sonst war es still bis in die tiefste Ferne. Am Rande des Wassers sah ich Schmetterlinge fliegen; aber ich achtete nicht darauf, mein Kescher lag müßig neben mir. – Ich gedachte eines Bildes, das ich vor kurzem gesehen hatte. In einer Gegend, weit und unbegrenzt wie diese, stand auf seinen Stab gelehnt ein junger Hirte, wie wir uns die Menschen nach den ersten Tagen der Weltschöpfung zu denken gewohnt sind, ein rauhes Ziegenfell als Schurz um seine Hüften; zu seinen Füßen saß – er sah auf sie herab – eine schöne Mädchengestalt; ihre großen dunkeln Augen blickten in seliger Gelassenheit in die morgenhelle Einsamkeit hinaus. – „Allein auf der Welt“ stand darunter. – – Ich schloß die Augen; mir war, als müsse aus dem leeren Raum dies zweite Wesen zu mir treten [...], alle keimende Sehnsucht gestillt sein. „Lore!“ flüsterte ich und streckte meine Arme in die laue Luft.

Am Abend sieht er sie auf dem Karussell eines Frühlingsjahrmarktes, und wie ein Schrecken fährt es ihm durch die Glieder. Auch sie erkennt ihn: ,nur eine Sekunde lang hafteten ihre Augen wie betroffen in den meinen; dann bückte sie sich zur Seite und machte sich an ihrem Kleide zu schaffen’. Doch als eine Freundin fragt, ob sie mit nach Hause gehe, sagt sie, dass ihre Mutter vielleicht noch kommen wollte.

Ich fühlte, daß das gelogen sei. Das Blut schoß mir siedend heiß ins Gesicht, es brauste mir vor den Ohren; die kleine Lügnerin hatte plötzlich den Schleier des Geheimnisses über uns geworfen. Es war zum erstenmal in meinem Leben, daß ich eine so berauschende Zusage erhielt; bisher hatte ich nur manchmal darüber nachgesonnen, wie in der Welt so etwas möglich sei.

Als das Karussell durch einen Defekt stehenbleibt, begrüßen sie sich befangen und gehen zusammen in Richtung ihres Zuhauses. Wegen einiger entgegenkommender ,Lateiner’ nehmen sie den Umweg über den Schlossgarten, worüber es stockdunkel wird. Die ganze zarte, unschuldige Liebe des Jungen zeigt sich in Sätzen wie den folgenden:

Da hier [...] nur bebautes harmloses Gartenland lag, so verhinderte mich die einbrechende Dunkelheit nicht, die neben mir wandelnde Mädchengestalt zu betrachten. Mich schauerte, daß sie jetzt wirklich in solcher Einsamkeit mir nahe war.

Für die zarte Liebe zu einem Mädchen ist bereits ihre bloße Anwesenheit das höchste Glück... Als es sehr dunkel wird, nimmt er mutig sogar ihre Hand: ,Sie duldete es; aber ich fühlte, wie sie zitterte, und auch mir schlug mein Knabenherz bis in den Hals hinauf.’ Und als ein Igel oder ein anderes Tier über den Weg huscht: ,Sie schrak ein wenig zusammen und drängte sich zu mir hin, und als ich, unabsichtlich fast, den Arm um sie legte, fühlte ich, wie ihr Köpfchen auf meine Schulter glitt. Als aber dann, nur eine flüchtige Sekunde lang, ein junger Mund den andern berührt hatte, da trieb es uns wie töricht aus den schützenden Baumschatten ins Freie.’

Selbst der Leser weiß nicht genau, wie es zu diesem so unglaublich unschuldigen Kuss kam – und die beiden jungen Menschen wissen es auch kaum... Und beide sind so schüchtern, dass sie vor dieser Innigkeit wieder fliehen... Sie kommen sicher beim Hause des Mädchens an, und dann entfaltet sich auch hier ein bereits leise tragischer Moment:

„Lore“, sagte ich beklommen, „ich wollte dir noch etwas sagen.“
Sie trat einen Schritt zurück. „Was denn?“ fragte sie.
„Warte noch eine Weile!“
Sie wandte sich um und blieb ruhig vor mir stehen. Ich hörte, wie sie mit den Händen über ihr Haar strich, wie sie ihr Tüchelchen fester um den Hals knüpfte; aber ich suchte lange vergebens des Gedankens habhaft zu werden, der wie ein dunkler Nebel vor meinen Augen schwamm. „Lore“, sagte ich endlich, „bist du noch bös mit mir?“
Sie blickte zu Boden und schüttelte den Kopf.
„Willst du morgen wieder hier sein?“
Sie zögerte einen Augenblick. „Ich darf des Abends sonst nicht ausgehen“, sagte sie dann.
„Lore, du lügst; das ist es nicht, sag mir die Wahrheit!“
Ich hatte ihre Hand gefaßt; aber sie entzog sie mir wieder.
„So sprich doch, Lore! – Willst du nicht sprechen?“
Noch eine Weile stand sie schweigend vor mir; dann schlug sie die Augen auf und sah mich an. „Ich weiß es wohl“, sagte sie leise, „du heiratest doch einmal nur eine von den feinen Damen.“
Ich verstummte. Auf diesen Einwurf war ich nicht gefaßt; an so ungeheure Dinge hatte ich nie gedacht und wußte nichts darauf zu antworten.
Und ehe ich mich dessen versah, hörte ich ein leises „Gute Nacht“ des Mädchens; und bald sah ich sie drüben in dem Schatten der Häuser verschwinden.

Er, der nur diese Eine liebt, hat nie auch nur daran gedacht, was sie, das Mädchen, aus ihrer Armut heraus schamhaft und angstvoll glauben muss, aber auch stolz und sich dagegen wehrend. Zu oft ist sie bereits von den Reicheren verletzt worden, durch Reden, durch Blicke, um nicht zu wissen, ,wie es in der Welt zugeht’. So kann sie die Liebe dessen, der sie so liebt, nicht zulassen...

Eine weitere Tragik verwebt sich in das Geschehen, als der Erzähler sieht, wie sein Freund Christoph ein Nähkästchen für Leonore schnitzt, das seine Schwester ihr schenken will. Es erweist sich, dass auch der andere Junge in das Mädchen verliebt ist – und zusammen mit seiner Schwester Lore immer wieder begleitet, die dem Erzähler auch ihrerseits aus dem Weg geht, bis er zum Winter dann vom Vater auf ein klösterliches Gymnasium nach Mitteldeutschland geschickt wird...

Einige Jahre vergehen, und als der Erzähler dann für einige Herbstwochen zurückkehrt, ist Lores Mutter verstorben, und ihr Vater, nur noch Geselle bei einem anderen Meister, hat Lore gegen ihren Willen zu einer Verwandten geschickt, mit der sie zum Nähen in die Häuser der vornehmeren Bürger gehen soll, um es einmal besser zu haben. Wiederum drei Jahre später kehrt er für ein letztes Studienjahr an die Landesuniversität zurück. Christoph scheint das nunmehr etwa neunzehnjährige Mädchen noch immer zu lieben, dessen ,Fesseln’ der Erzähler selbst ,mit dem Staub der Heimat schon längst von mir abgeschüttelt zu haben glaubte’.

Glaubte! Dann aber begegnet auch er ihr zufällig an der Meeresbucht wieder.

Zwei Boote, beide schon fast besetzt, lagen zur Abfahrt bereit. Neben dem einen, das etwa dreißig Schritte von uns entfernt sein mochte, stand an der Seite einer ältlichen lahmen Nähterin, die ich mitunter im Wohnzimmer meines Hauswirts gesehen hatte, eine auffallend schöne Mädchengestalt. Sie hatte schon den Fuß auf den Rand des Bootes gesetzt und schien im Begriff, hineinzusteigen; aber sie zögerte plötzlich, da sie den Kopf nach uns zurückwandte. Zwei schwarze fremdartige Augen, wie ich sie lange nicht, aber wie ich sie einst gesehen, trafen in die meinen; ich wußte jetzt, daß es Lenore Beauregard sei. Sie war größer geworden, und unter den braunen Wangen schimmerte das Rot der vollsten Jungfräulichkeit; aber noch immer war ihr in der Haltung jene graziöse Lässigkeit eigen, die mir unbewußt, schon einst mein Knabenherz entführt hatte. Es wallte heiß in mir auf, und ich hatte der Damen neben mir fast ganz vergessen. Denn jene dunkeln Augen schienen mich bittend anzublicken; ich hörte, wie die alte Nähterin ihr zusprach, wie der Schiffer sie nicht eben in den höflichsten Worten zum Einsteigen drängte; aber noch immer stand die schlanke Mädchengestalt unbeweglich, wie im Traum, die Augen nach mir hingewandt.
Schon hatte ich, wie von dunkler Naturgewalt getrieben, ein paar Schritte nach dem Boote zu getan; aber ich bezwang mich; ich dachte an Christoph; seine ehrlichen Augen schienen mich plötzlich anzusehen. „Es wird nicht Platz dort für uns alle sein“, sagte ich zu den Damen. Dann gingen wir seitwärts nach dem andern Fahrzeug am Wasser entlang. – Doch noch einmal mußte ich nach Lore zurückblicken. Sie hatte den Kopf auf die Brust sinken lassen und stieg eben langsam über den Bord in das Innere des Bootes, das im Gold der Abendsonne auf dem regungslosen Wasser lag.

Ein weiterer Moment der Lebenstragik. In diesem Moment hätten zwei junge Menschen zusammenfinden können... Der Erzähler dachte offenbar, er sei nicht würdig genug, da er doch das Mädchen vergessen hatte, während sein Freund noch immer an sie dachte.

Später aber erfährt er, dass Lore auch gern mit Studenten tanze – und dass es eine Schlägerei im Ballhaus gab. Christoph hatte den ,Raugraf’ verprügelt, einen schönen, aber wüsten Studenten, der weniger studierte, als den Handwerkern ihre Mädchen streitig zu machen. Auch Lore ist für seine Verführungskünste empfänglich, und von der lahmen Näherin Marie erfährt der Erzähler noch von einer anderen Begegnung der beiden, in der der Raugraf Lore sehr selbstbewusst dazu brachte, auf seinem Pferd zu reiten, sie sogar hinaufhob – und auffing, als das Pferd später einmal scheute.

Der Erzähler muss dann zu seiner kranken Mutter und kehrt erst im August zurück. Nun erfährt er von Marie, dass Lore ständig ,draußen bei den Studenten tanzt’ und daher wohl auch von ihrer Erbtante enterbt werde. Auch Christoph, mit dem sie zusammengewesen war, habe sich in der Ferne entschieden, sich mit der ältlichen Tochter eines Tischlermeisters zu verbinden. Als Lore davon hörte, gab sie ihrerseits erschüttert ihr ganzes Erspartes für prächtige Stoffe aus und nähte die ganze Nacht ein prächtiges Kleid für einen Ball, zu dem sie dann mit einer weißen Maililie im Haar ging. Und dann schlug die Tragik über ihr völlig zusammen, denn der Raugraf:

[...] hat sich wie gar nicht um sie gekümmert. Zuletzt hat er doch kommen müssen; denn zu schön hat sie ausgesehen; als wenn sie aus dem Morgenland gekommen wäre, haben sie gesagt. Sie ist blutrot geworden, als er zu ihrem Platz getreten ist, und hat am ganzen Leibe gezittert. Aber nun ist sie aufgestanden und hat ihm die Hand gegeben, und er hat sie angesehen, [...] als wenn er sie hat verzehren sollen. Sie hat auch mit keinem sonst getanzt; denn bis die Musikanten ihre Geigen eingepackt haben, sind die beiden miteinander nicht wieder von der Diele gekommen.

Der Erzähler besucht dann den nächsten Ball, von dem er erfahren hat – und sieht das einst so geliebte Mädchen:

Im Haar trug sie eine weiße Rose, eine Seltenheit in dieser Jahreszeit; aber auf ihrem Antlitz war die Rosenzeit vorüber; kein Rot schimmerte mehr durch diese zarten, blassen Wangen.

Und nun erlebt er ihre ganze Demütigung durch den Raugrafen. Ein anderer Student, der um einen Tanz mit ihr bittet, wird von ihm abgewiesen. Aber auch er steht nicht auf, um seine Tänzerin zu holen:

[...] er hob lässig die Hand und machte gegen sie hin ein Zeichen mit den Fingern. Ich sah, wie sie einen zornigen Blick zu ihm hinwarf und dann, ohne aufzustehen, ihre Augen in die aufgestützte Hand begrub. Der Raugraf faltete die Stirn, und nach einer Weile sprang er auf und schritt durch den Saal, bis er vor ihr stand. – Als sie auch jetzt nicht aufblickte, legte er den Arm um sie und zog sie mit einer raschen Bewegung zu sich empor. Er schien einige Worte mit Heftigkeit hervorzustoßen [...]. Dann trat er mit ihr an die Spitze der übrigen Paare und eröffnete den Tanz.

Die Demütigung geht noch weiter. Es zeigt sich die ganze Verzweiflung des Mädchens. Als der Erzähler sie schließlich einsam in einer Fensternische stehen sieht, spricht er sie an. Sie ist tief beschämt, geht mit ihm nach draußen und zeigt ihm einen Brief von Christoph, den sie am selben Tag erhalten hatte. Er hatte das Geschäft des Onkels übernommen, musste aber warten, bis dessen Tochter verheiratet war. Nun würde er das Meisterrecht erwerben und lud sie ein, zu kommen, ihr Reisegeld läge schon bereit. Die Geschichte mit seiner eigenen Heirat einer Anderen war also gar nicht wahr...

Ich hatte den Brief zusammengefaltet und reichte ihn zurück. Aber Lore schüttelte den Kopf. „Schreiben Sie ihm, Herr Philipp!“ sagte sie, während eine Träne nach der andern über ihre Wangen tropfte, und leise und mühsam setzte sie hinzu: „Er hat es gut gemeint.“
„Und Sie wollen nicht selber kommen?“ fragte ich.
Sie sah mich an, mit einem Blick so voll von flehender Verzweiflung, daß ich bereute, diese Frage an sie getan zu haben. „Lore“, sagte ich, „kann denn niemand helfen?“
Sie senkte den Kopf, indem sie mit der Stirn an eine Fensterscheibe lehnte; die weiße Rose lag noch immer duftend auf dem glänzend schwarzen Haar. „Er war, da er noch lebte, nur ein armer törichter Mann“, sagte sie, und ihre Stimme brach fast in verhaltenem Schluchzen, „aber er war doch mein Vater, und es hat mich sonst doch keiner so geliebt – er würde mich auch jetzt noch nicht verstoßen.“
Als sie das gesagt hatte, schwiegen wir beide; nur hatte ich, ohne daß ich es wußte, ihre beiden Hände ergriffen, und sie ließ sie mir. – Da hörte ich von der andern Seite des Hauses, von der Halle her, die Stimme des Raugrafen ihren Namen rufen.
Sie fuhr zusammen. „Lore“, sagte ich, „können Sie denn nicht los von jenem Menschen?“
Ihre Augen blickten mich groß und traurig an. „O doch!“ sagte sie leise [...]. Indem wurde noch einmal und mehr in unsrer Nähe gerufen.
Sie trocknete hastig ihre Augen. „Leb wohl, Philipp, leb wohl!“ flüsterte sie. Ich empfand den Druck der beiden kleinen Hände; dann war sie fort.

In dieser Nacht liegt der Erzähler lange schlaflos, an einem Plan sinnend, ihr mit Hilfe seiner Mutter einen Zufluchtsort zu ermöglichen und sie zu überreden, diesen auch anzunehmen. Am nächsten Morgen besucht ihn sein alter Freund Fritz von Heidelberg her, und sie wandern gemeinsam ans Meer. Dort aber begegnet ihnen ein Aufruhr:

Als wir zwischen den Bäumen heraustraten, wurde ich fast vom Sonnenschein geblendet, der in vollstem Glanze vor uns über die weite Meeresbucht gebreitet war. – Und in diesem Sonnenglanze lag auch sie; die Fischer traten bei unsrer Annäherung zur Seite [...]. Es war kein Zweifel mehr. Das bleiche Gesichtchen ruhte auf dem Ufersande; die kleinen tanzenden Füße ragten jetzt regungslos unter dem Kleide hervor; Seetang und Muscheln hingen in den schwarzen triefenden Haaren. Die weiße Rose war fort; sie mochte ins Meer hinausgeschwommen sein.

Tragik eines unschuldigen Mädchenlebens... Das Tanzen hat das Mädchen Lore in den Untergang geführt. Aber es hätte auch anders enden können. Wäre der Erzähler aufrichtiger oder mutiger zu dem Mädchen gewesen. Hätte Christoph aus der Fremde trotz der unsicheren Situation mehr geschrieben. Hätte sich das Mädchen selbst weniger geschämt – für seine Armut, für seinen Fehltritt mit der hässlichen Seele des Raugrafen. Hätte sie den Mut gehabt, sich noch immer geliebt zu fühlen – denn selbst wenn Christoph sie, hätte er alles gewusst, vielleicht doch für ,unehrenhaft’ gehalten hätte, der Erzähler hat sie die ganze Zeit geliebt...

Und so ist auch diese Novelle Storms eine scharfe Anklage gegen eine mädchenzerstörende Welt. Eine Anklage gegen mädchenkonsumierende Don-Juan-Seelen, gegen die Ursachen beschämender Armut und gegen die gesellschaftlichen Konventionen – die ein Mädchen verachten, weil es ,mit den Studenten tanzt’, weil es für ein ,leichtes Mädchen’ gehalten wird und doch nur die verzweifelte Sehnsucht nach ein wenig Freude und einem Entrinnen aus der Armut und der damit verbundenen täglichen Demütigung hat...

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Und jetzt müssen wir miterleben, was Malte Stein daraus macht. Er stellt sich gegen den ,vermeintlich evidenten’ Inhalt, über den bisher ,weitgehendes Einvernehmen’ geherrscht hat.[25] Die Verführung durch den Raugrafen bezeichnet er als ,die harmlosere der möglichen Lesarten’, die sich zwar ,unmittelbar aufdrängt’,[26] aber da diese ,nicht sonderlich originell’ sei, müsse es noch eine andere geben, zumal Storm selbst diese Novelle als seine bisher originalste bezeichnete.[27] Stein unterschlägt, dass die allermeisten Novellen überhaupt erst in den folgenden Jahren entstehen würden.

Die Gewalt, mit der Stein vorgeht, zeigt sich bereits sehr früh noch viel stärker. So will er den schüchternen Erzähler ebenfalls auf das Prokrustesbett Typ ,höhergestellter Verführer’ und in größte Nähe zu dem Raugrafen pressen, zumal der Erzähler und sein Freund Fritz ja ebenfalls ,ausdrücklich erotisches Interesse’ an dem Mädchen haben, das in ihren ,Knabenphantasien eine nicht unbedeutende Rolle’ (Zitat Storm) spiele. Schon hier fragt man sich: Was soll dieser Wahnsinn? Wenn der Erzähler mit dem Raugrafen oder einem Don Juan verglichen wird, dann kann man Stein auch mit dem Kaiser von China vergleichen. Und dies wäre wahrer. Mit einer Selbstherrlichkeit ohnegleichen werden hier gegensätzlichste Seelen in einen Topf geworfen, nur damit die eigene Brutalität Sinn ergibt. Das ist ,Literaturwissenschaft’ heute!

Aber die Absurdität kennt kein Halten und keine Grenze. Goldene ,Sächelchen’, so Stein weiter, haben ja schon in Goethes ,Faust’ die Verführung Gretchens vorbereitet. Und so zieht er munter weitere Parallelen – bei dem Raugrafen soll Lore auf dessen glänzendem ,Goldfuchs’ reiten, während der Erzähler sie ,ermuntert [...], einen ihr nicht gehörigen „goldenen Schmuck“ anzulegen’.[29] Die Wahrheit ist für Stein gleichgültig. Lore selbst hat ihn angelegt – der schüchterne Verehrer hat ihr nur gestanden, dass sie in seinen Augen dessen auch wirklich würdig wäre... Was dies mit dem besitzergreifenden Raugrafen oder gar mit Mephisto zu tun haben soll, wird für immer Steins Geheimnis bleiben.

Im Weiteren suggeriert Stein auch für den Abschluss-Tanzball, dass es hier immer ,wilder’ zugegangen sei, indem es nicht nur Walzer, sondern auch ,Galloppaden’ und gar einen ,Cotillon’ gegeben habe, sodass schon auf diesem Ball die Tänze ,an Rasanz und Erotik zu[...]nehmend, immer gewagter werden’.[30] Würden solche Worte aus dem Munde einer alten Jungfer kommen, wäre es noch zu verstehen. So aber fühlt man sich an Mary Odems Studie ,Delinquent Daughters’ erinnert, in der sie nachwies, wie etwa in den USA die wenige Jahre später erfolgte Heraufsetzung des ,Schutzalters’ von Mädchen weniger dem Schutz von Mädchen diente als der Kontrolle ihrer Sexualität.

Dennoch ist deutlich, dass Lore sich im Verlauf der Novelle einer abschüssigen Bahn überlassen hat. Von Christoph, der sie aufrichtig liebte, wollte sie offensichtlich nicht so viel wissen wie von dem Raugrafen, der ihr einen sozialen Aufstieg zu versprechen schien. Dann aber musste sie erleben, wie dieser mit ihr die schlimmsten Machtspiele veranstaltete und sie ihm letztlich eigentlich immer gleichgültiger wurde. Als sie dann noch erfuhr, dass Christoph sie bis zuletzt hatte heiraten wollen, war sie so beschämt, dass sie nur noch die Möglichkeit sah, aus dem Leben zu scheiden, um nicht für immer mit ihrer Scham leben zu müssen... Ebenso erkannte sie die aufrichtige Liebe des Erzählers – und dass sie ihm am Ende vertraute und ihm auch einen letzten Gruß an Christoph anvertraute, bedeutet umgekehrt nur, dass sie sich auch vor ihm tief schämte.

Storm selbst (!) schrieb in einem Brief, dass sich Lore in dem Raugrafen einem Scheinbild in die Arme geworfen habe und sich dann bewusst werde, ,daß sie dadurch das ihr eingeborene Urbild der Schönheit so befleckt hat, daß nur das dunkle Wasser des Styx noch Hülfe bringen kann’.[33] Aber was ist das Zeugnis des Autors (!) wert, wenn der Literaturwissenschaftler es besser als selbst dieser weiß? Ich zitiere Stein:[33]

Mit lediglich der Reue über eine sexuelle Hingabe bleibt die Selbstertränkung [...] äußerst schwach motiviert – was um so mehr gilt, als man aus Lores Äußerung den vorherigen Keuschheitsverlust zwar ableiten kann, keineswegs aber ableiten muß [...].

Stein begreift nicht das Geringste. Er kann weder verstehen, dass Storm gar nicht von sexueller Hingabe gesprochen hat, noch, dass ein Mädchen sogar für weniger ins Wasser gehen kann... In Wirklichkeit war es aber sogar mehr. Denn die sexuelle Hingabe wäre, wenn zwei Menschen sich aufrichtig geliebt hätten, in Wahrheit überhaupt keine ,Sünde’ gewesen. Aber Lore hatte sich – und sei es überhaupt noch nicht sexuell – dem Raugrafen ,gegeben’, weil sie auf einen Ausweg aus ihrer momentanen Stellung und ihrem bisherigen Leben hoffte ... nur um zu erkennen, dass sie seelisch letztlich gnadenlos ausgenutzt und missbraucht wurde. Dass dies eine Mädchenseele als so grenzenlose Beschmutzung und auch Selbstbeschmutzung erleben kann, dass sie nur noch im Freitod eine ,Erlösung’ sieht, sollte jedem, der nicht völlig blind ist, verständlich sein können.

Zumal Storm selbst den Schlüssel doch offen gibt: Im Zustand der größten Beschämung erkennt Lore das ihr eingeborene Urbild der Schönheit ... und dessen (zumindest vermeintlich) irreversible Beschädigung, gerade auch durch ihr eigenes Handeln. Wer dies nicht verstehen kann, versteht von der Realität der Seele noch gar nichts.

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Diese Wahrheit also mit Füßen tretend, macht Stein sich auf die Reise zu seinem eigenen Deutungskosmos. Er deutet den tragischen Tod des Mädchens zu einer wunderbaren, realen Befreiung um! Und wie? Letztlich ganz einfach. Das Wasser ist Metapher für ,Weiblichkeit’ und ,Sexualität’. Lore hat sich also zumindest symbolisch zu sich selbst befreit. Ende gut, alles gut!

War nicht schon bei dem zugefrorenen Mühlenteich von ,jungfräulichem Eise’ und ,dunkeln Hüllen’ die Rede?[35] Dann wäre der ,Raumwechsel [...] zum Meer’ auf der ,Subscriptio-Ebene’ ein ,Entwicklungsschritt’. Merke: Man streue einige intelligent wirkende, gar Fremdworte ein – und schon ist der tragische Tod eines Mädchens sein Gegenteil! Und man hat sogar noch den Ruhm, als erster eine derart ,geistreiche’ Deutung gefunden zu haben, auf die bisher noch niemand gekommen ist...

Und Lore heißt ja nicht umsonst so wie die Lorelei, hat auch nicht umsonst einmal ,rote Korallenknöpfchen’ im Ohr und am Ende ,Seetang und Muscheln in den triefenden Haaren’ – in Wirklichkeit ist sie eigentlich eine Wasserfrau, findet am Ende ihr Element![36] Nur die bösen Männer wollten diesen Entwicklungsschritt verhindern, ist doch Wasser ,ein Signifikant für seelische Erregungszustände, für Männer gefährdende Erotik und/oder für weibliche Fruchtbarkeit’.[38]

Und jetzt muss natürlich die ganze Novelle bedeuten, dass die bösen Männer das seiner Sexualität entgegenreifende Mädchen von dieser abhalten wollen – wörtlich: ,als Grenzwächter auftreten, deren Ziel es ist, Lore [...] nicht in den Bereich der Natur [...] hinüberwechseln zu lassen’.[43] Den ,Beleg’ findet Stein schon in der Bootsszene, wo Lore den Erzähler nach Jahren plötzlich zum ersten Mal wieder sieht und wiedererkennt:

Zwei schwarze [...] Augen [...] trafen in die meinen [...]. Sie war größer geworden, und unter den braunen Wangen schimmerte das Rot der vollsten Jungfräulichkeit; aber noch immer war ihr in der Haltung jene graziöse Lässigkeit eigen, die mir unbewußt, schon einst mein Knabenherz entführt hatte. Es wallte heiß in mir auf, und ich hatte der Damen neben mir fast ganz vergessen. Denn jene dunkeln Augen schienen mich bittend anzublicken; ich hörte, wie die alte Nähterin ihr zusprach, wie der Schiffer sie nicht eben in den höflichsten Worten zum Einsteigen drängte; aber noch immer stand die schlanke Mädchengestalt unbeweglich, wie im Traum, die Augen nach mir hingewandt.

Für Stein ist das Wort ,schienen’ die Erlaubnis, auch eine völlig gegenteilige Deutung anzunehmen – ,der gemäß es das erzählte Ich selber ist, das die Erstarrung bewirkt’.[43] Lore erinnert sich nicht etwa an die Vergangenheit, nicht etwa beschämt an ihre bereits bestehende innere Untreue gegenüber Christoph – nein, das alles wäre ja viel zu unoriginell. Dass Lore ,wie im Traum’ zu ihm blickt, ,gleicht [...] in auffälliger Weise einer Somnambulen unter dem hypnotischen Einfluß des seelenbeherrschenden Magnetiseurs’ – man habe hier das ,Domestizierungsmittel’, mit dem die ,Grenzwächter-Figuren’ Lores Entwicklung ,aufzuhalten versuchen’.

Mit anderen Worten: Aus dem immer noch schüchternen Studenten, der erkennen muss, dass er dieses Mädchen noch immer nicht vergessen kann, sondern hilflos weiter liebt ... wird mit Steins ,Hilfe’ ein seelenübergriffiger Hypnotiseur, der mit magischen Blicken das Mädchen für sich vereinnahmt.

Ignoranter kann man einen Text nicht ,lesen’. Es scheint, dass Stein überhaupt nicht mehr liest, sondern nur noch seine Deutung ,hineinschiebt’. Es ist wirklich eine Vergewaltigung. Ganz und gar offensichtlich ist, dass der Erzähler in dieser Begegnung selbst hilflos ist – dass es dieses Mädchen ihm angetan hat, nicht nur einst, sondern auch jetzt ihm sein Herz entführt hat. Beide jungen Menschen sind in diesem Augenblick hilflos... Und nur der trockenste Intellekt kann diese Stelle derart pervertieren, wie es Stein tut.

Dass der Raugraf in der Pferdeszene tatsächlich seelisch übergriffig wird, ist recht deutlich. Eine tiefe Unwahrhaftigkeit aber ist es, dass Stein solche Szenen regelmäßig mit dem Erzähler parallelisiert. Denn einzig und allein der Raugraf sieht Lore ,mit seinen durchdringenden Augen’ an – und Lore lässt sich daraufhin ,als müsse sie nur immer tun, wie der es wollte’ auf das Pferd setzen. Aber auch dies ist keine ,Hypnose’ im eigentlichen Sinne – es ist die Macht, die ein männliches Wesen gegenüber einem Mädchen ausüben kann, wenn es innerlich eine Don-Juan-Seele hat und seine Macht einsetzt.

Stein aber hat nichts besseres zu tun, als diese Szene wiederum mit jener zu vergleichen, wo der Erzähler damals das noch dreizehnjährige Mädchen auf dem Jahrmarkt auf einem Karussellpferd fand, wo Lore ebenfalls ,„wie in sich versunken“ und mit Blickkontakt zu Philipp’ ihre Kreise dreht. All dies zeigt die Unwahrhaftigkeit der brutalen Deutungen. Denn der schüchterne Junge hatte sie scheu gebeten, noch zu bleiben, das ,wie in sich versunken’ zeigt gerade, dass sie dennoch mehr in sich ruht, als Kontakt zu ihm zu suchen, während dann, als das Karussell sich dreht, kaum noch Blickkontakt möglich ist: ,kaum fühlte ich den Blitz ihres Auges in den meinen’ – was eher Lores Wirkung auf ihn offenbart, aber was Stein natürlich geflissentlich unterschlägt.

Lieber zerrt er nun Bürgers Ballade ,Lenore’ herbei, in der ein kriegstoter Bräutigam seine hadernde Witwe auf einem Pferd ebenfalls in den Tod mitnimmt,[47] um so ,Pferd’ und ,Tod’ zu einem festen Kontext zusammenzuzimmern – wie ja auch schon Hades und Odin mit Pferden dargestellt worden seien...[48] Dann wird auch wieder auf den Raugrafen verwiesen, der ein ,langer blasser Kerl’ ist.[49]

Als auf dem letzten Ball deutlich wird, wie kalt der Raugraf Lore behandelt und wie sie sich mit einem ,Blick voll unergründlichen Hasses’ auch ihm entzieht und zu jener Fensternische geht, wo der Erzähler ihr begegnen kann, ist dies für Stein Hinweis genug dafür, dass überhaupt kein Selbstmord vorliege, ,sondern ein im „Jähzorn“ über ihr Fortstreben begangener Gewaltakt dieses todes-„bleichen“ Gefährten’, des Raugrafen.[52]

Mit anderen Worten: Steins Vergewaltigung geht so weit, dass er dem Mädchen noch nicht einmal die Würde ihres Freitods lässt, mit dem sie sich in einer verzweifelten, aber dennoch einer Autonomie dem seelischen Missbraucher entzieht – er macht sie bis ihren Tod hinein zu einem reinen Opfer und Objekt. Und deutet dies gleichzeitig dennoch als eine Befreiung! Kann man sich eine größere Schizophrenie vorstellen?

Dem Erzähler aber unterstellt er, er würde das Bild des toten Mädchens regelrecht genießen, denn nun sei sie endlich reglos, könne ihm nicht mehr davonlaufen – denn der junge Lateiner hatte sich vor der ersten Tanzstunde ihre kleinen Füße tanzend vorgestellt und diese ,bitten mögen, nur einen Augenblick Stand zu halten; aber sie waren da und waren wieder fort und neckten mich unaufhörlich’.[53] Die so scheue Vorstellung des Jungen also wird ihm zum ,Beleg’ dafür, dass der schüchterne junge Mann Jahre später Freude daran haben soll, das geliebte Mädchen endlich reglos zu sehen? Mehr seelenlose Perversion geht wirklich nicht. Stein ist von allen guten Geistern verlassen – aber von Anfang an. Er ist der Magnetiseur, der den ganzen Text nach seinem Willen ,ausrichtet’ und reglos macht, um ihn nach Belieben umformen ... und töten zu können.

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Für seine absurden Thesen muss dann wieder die alte These herhalten, dass Storms männliche Figuren häufig ,beziehungsunfähig’ seien – erwachsene weibliche Sexualität regelrecht abwehren würden.

Und so führt Stein denn auch an, dass es Philipp zu Lore hinziehe, solange sie vor ihm ausweiche. ,Sobald aber die Schneidertochter ihren Widerstand einmal aufgibt und eine „berauschende Zusage“ signalisiert; sobald sie sich im Schloßgarten zu ihrem Begleiter „hin[drängt]“ und diesen „eine flüchtige Sekunde lang“ küßt’, trete er die Flucht an.

Wir sahen bereits, wie beide vor dieser plötzlichen Zärtlichkeit wieder flüchteten – der etwa siebzehnjährige schüchterne Junge und das etwa dreizehnjährige Mädchen. Stein verdreht hier alles, um es sinnentstellt anders hinzubiegen.

Die ,berauschende Zusage’ war es, dass das Mädchen noch auf dem Jahrmarkt blieb und ihrer Begleiterin, Christophs Schwester, gegenüber schüchtern log, ihre Mutter wollte vielleicht noch kommen. Der Erzähler ist überwältigt, dass ein Mädchen lügen kann, um noch länger eine Nähe zu ihm aufrechtzuerhalten – bereits dieses winzige Zeichen von Zuneigung führt zu einer Art ungläubigen Glückes: ,Das Blut schoß mir siedend heiß ins Gesicht, es brauste mir vor den Ohren [...]; bisher hatte ich nur manchmal darüber nachgesonnen, wie in der Welt so etwas möglich sei.’

Dies zeigt die ganze Tiefe dieser zarten, scheuen, regelrechten Verehrung des Mädchens durch den doch bereits deutlich älteren Jungen. Aber diese Scheu zeigt eben nur eines: Er idealisiert dieses Mädchen grenzenlos, und zwar von Anfang an. Es stimmt eben in keiner Weise, dass er zu einer Beziehung unfähig sei – er hält sich nur fortwährend nicht für wirklich würdig in Bezug auf dieses Mädchen, in Bezug auf ein stilles, scheu verehrtes Ideal.

Und ebenso wenig stimmt es, dass er nach dieser ,berauschenden Zusage’ (einer fortgesetzten Nähe auf dem Jahrmarkt) die ,Flucht’ antritt – sondern er bewundert das Mädchen in seiner von ihm wahrgenommenen Schönheit weiter, das sich auf dem Karussell an ihm vorbeidreht, ihm bei jeder Umdrehung den kurzen ,Blitz ihres Auges’ schenkt, den Schimmer ihres hellen Kleides inmitten der immer tiefer fallenden Schatten. Schon das ist heiliges Glück der scheu idealisierenden Jungenseele.

Die angebliche ,Flucht’ besteht dann darin, dass er nach Versagen des Karussells unter der Absperrung durchschlüpft, um das geliebte Mädchen zu begrüßen, was sie in ihrer Ambivalenz und eigenen Scheu nur leise erwidert; besteht darin, dass er ihre Hand fasst und sie mit sich hinaus ins Freie zieht. Und hier war seine ,Verwegenheit [dann] zu Ende – nicht etwa infolge des Mädchens ,berauschender Zusage’, sondern weil sie sich ihm erneut fortwährend leise entzieht: ,Lore hatte mir ihre Hand entzogen, und wir gingen wortlos und befangen nebeneinander [...].’ Die scheue Liebe eines Jungen kann nicht noch weiter um die Zuneigung eines Mädchens werben. Auch ist ihm jedes unbefangene Gespräch ebenso wenig möglich wie dem Mädchen, denn seine Liebe und Verehrung geht zu sehr ins Wesentliche.

Und doch wird er da wieder mutiger, als sie vor einem Trupp lauter Kommilitonen in den Schlossgarten ausweichen, wo ihm die zarte Mädchengestalt nun wirklich in völliger Einsamkeit ganz nahe ist – so nahe, dass ihn ,schauerte’, vor zartem Glück und ebenso zarter Scheu. Es ist so still, dass beide nur ihre Schritte auf dem Sand hören. ,Willst du mich nicht anfassen?’ , fragt er. Sie schüttelt den Kopf. ,Warum nicht?’ ,Nein – wenn jemand käme!’ Das ist keine Flucht, es ist der zarte Versuch, die Zuneigung des Mädchens doch weiter zu gewinnen. Und als es dann ganz dunkel geworden ist, ergreift er dennoch ihre Hand und hält sie fest. ,Sie duldete es; aber ich fühlte, wie sie zitterte, und auch mir schlug mein Knabenherz bis in den Hals hinauf.’

Das alles ist keine Flucht – es ist innigste Liebe, die alles wagt, was nur möglich ist, ohne übergriffig zu werden, was diesem Jungen schlicht un-möglich wäre! Lore ihrerseits nähert sich ihm nie wirklich und offen an, wie Stein suggeriert, sondern drängt sich nur deshalb in jenem einen Moment an ihn, weil sie Angst vor einem über den Weg huschenden Tier hat. Er legt daraufhin fast unabsichtlich den Arm um sie, woraufhin ,ihr Köpfchen auf meine Schulter glitt’. Es ist offensichtlich, dass der Junge hier nicht flüchtet, sondern selig ist, wenn auch in tiefer Scheu, Ehrfurcht, Verehrung. Und als sie einander dann sogar noch, kaum ihrer selbst bewusst, bis zu einem kurzen Kuss einander annähern ... ist es nur tief verständlich, wie diese beiden scheuen Seelen dann wieder diese ungeheure Nähe fliehen: ,[...] da trieb es uns wie töricht aus den schützenden Baumschatten ins Freie.’

                                                                                                                                       *

Beide kommen mit dieser plötzlich so intimen Situation nicht zurecht, zu vieles ist unausgesprochen. Das Mädchen selbst ist noch gar nicht ganz reif für zärtliche Annäherung – und versteht sicher auch gar nicht, warum dieser drei, vier Jahre ältere Junge sich gerade für sie interessiert. Vor allem aber gibt es einen Grund für ihre Abwehr: Bereits in so jungem Alter ist ihr völlig klar, dass sie beide standesgemäß gar nicht zueinander gehören – dass sie eine Stufe tiefer steht, dass er sie also gar nicht wirklich lieben könne. Dies ist ihre feste, stets nur halb bewusste Überzeugung, die ihre fortwährende Abwehr als eigentlicher Grund motiviert. Und von ,Flucht’ kann wiederum nicht die Rede sein, nur von fortwährender Scheu, als es dann zu jener tief berührenden Szene kommt, bevor das Mädchen die letzten Schritte nach Hause geht:

„Lore“, sagte ich beklommen, „ich wollte dir noch etwas sagen.“
Sie trat einen Schritt zurück. „Was denn?“ fragte sie.
„Warte noch eine Weile!“
Sie wandte sich um und blieb ruhig vor mir stehen. Ich hörte, wie sie mit den Händen über ihr Haar strich, wie sie ihr Tüchelchen fester um den Hals knüpfte; aber ich suchte lange vergebens des Gedankens habhaft zu werden, der wie ein dunkler Nebel vor meinen Augen schwamm. „Lore“, sagte ich endlich, „bist du noch bös mit mir?“
Sie blickte zu Boden und schüttelte den Kopf.
„Willst du morgen wieder hier sein?“
Sie zögerte einen Augenblick. „Ich darf des Abends sonst nicht ausgehen“, sagte sie dann.
„Lore, du lügst; das ist es nicht, sag mir die Wahrheit!“
Ich hatte ihre Hand gefaßt; aber sie entzog sie mir wieder.
„So sprich doch, Lore! – Willst du nicht sprechen?“
Noch eine Weile stand sie schweigend vor mir; dann schlug sie die Augen auf und sah mich an. „Ich weiß es wohl“, sagte sie leise, „du heiratest doch einmal nur eine von den feinen Damen.“
Ich verstummte. Auf diesen Einwurf war ich nicht gefaßt; an so ungeheure Dinge hatte ich nie gedacht und wußte nichts darauf zu antworten.
Und ehe ich mich dessen versah, hörte ich ein leises „Gute Nacht“ des Mädchens [...].

Der Erzähler weiß nicht, wie er die Zuneigung des Mädchens gewinnen kann, wie er seine Liebe ausdrücken könne, ohne wiederum auf Abwehr zu stoßen. So fragt er hilflos, ob sie noch böse sei (etwa wegen der damaligen Schlittengeschichte). So vorsichtig wie möglich bittet er sie, sie am nächsten Tag wiedersehen zu dürfen – mit einer erneuten Frage. Als sie zu einer Ausrede greift, spricht er dies ganz offen an, fasst sogar ihre Hand – soviel erneut zur ,Flucht’, die Stein entgegen sämtlicher Beweise behauptet. Sie entzieht sich ihm erneut, verzweifelt dringt er in sie, bittet sie, etwas zu sagen... Schließlich blickt sie auf und öffnet ihr Herz: ,Du heiratest doch einmal nur eine von den feinen Damen...’ Der Erzähler ist völlig aus der Bahn geworfen – an so etwas hatte er überhaupt niemals gedacht, es lag völlig außerhalb seines realen Herzens, und er weiß nichts zu erwidern, überhaupt nicht begreifend, wie so ein Gedanke in des Mädchens Seele kommen könne. Und bevor er etwas erwidern kann, ist sie weg...

Wie wenig der Junge diesen Einwand für eine Realität halten kann, zeigt sich daran, dass er trotz dieser Worte nach diesem wundervollsten Abend seines ganzen bisherigen Lebens selig ist – in dem Glauben, dass die Zuneigung des geliebten Mädchens sich eigentlich nur fortsetzen könne: ,Wie trunken warf ich mich in die Kissen. [...] Trotz des wenig verheißenden Abschieds war mir doch, als hätte meine Hand eine volle Rosengirlande gefaßt, an welcher nun in alle Zukunft hinein der Lebensweg entlang gehen müsse.’

Doch wie oben geschildert, trifft er das verehrte Mädchen im Weiteren nie wieder alleine an. ,Einsam wanderte ich durch die dunklen Gänge des Schloßgartens und zehrte trübselig von der Erinnerung eines entflohenen Glückes.’ Nicht er war geflohen – das Mädchen entzog sich ihm erneut!

Doch was macht Stein auch hieraus wieder? Er führt bereits die zarte Szene selbst in einen Leichnam hinüber, indem er sie verständnis- und gefühllos analysiert und seziert, was sich dann so liest: ,[...] will Philipp nun etwas sagen, das die weitere Verbindung mit Lore sichert, kann sich dabei aber seiner eigenen Haltung nicht klar werden und geht deshalb dazu über, sich der Empfindungen seines Gegenübers zu vergewissern [...].’[54] Auch dies gerät also wieder zu einem bloßen Vorwurf, zur Abwertung des Jungen. Dieser ist sich sehr wohl völlig klar darüber, dass er dieses Mädchen liebt – er weiß einzig und allein nicht, wie er es schaffen kann, Worte hierfür zu finden! Er will sich auch nicht Lores Empfindungen ,vergewissern’, sondern diese Empfindungen scheu und vorsichtig gewinnen.

Mehr noch, Stein hat nichts Besseres zu tun, als dem Jungen ,einen Anflug von Wut’ und eine ,Handgreiflichkeit’ zu bescheinigen – weil er ihre Hand fasst und jenes verzweifelte ,Lore, Du lügst; das ist es nicht’ ausspricht. Und als sie dann ihre wirklichen Gedanken ausspricht, hat sie laut Stein ,dem angehenden Abiturienten ein halbes Verlobungsangebot’ gemacht, dieser müsse ,seine Avancen nur wirklich ernst meinen’ und ,ihrer zum Widerspruch provozierenden Unterstellung’ auch nur wirklich widersprechen.[55]

Für Stein ist alles höchst einfach. Nach dem Motto: ,Soll er doch sagen, was er will, mein Gott – und wenn er es nicht sagt, dann will er auch nicht!’ Diese empathielose Art, die sich nur in ihrer eigenen Deutung gefällt, ist typisch für ,Literaturwissenschaftler’, für die das Leben auch in einer Novelle offenbar nach Baukastenprinzip funktionieren muss. Scheue Verehrung kennen sie nicht. Wo diese also beschrieben wird, muss in Wirklichkeit etwas ganz anderes vorliegen – nämlich die schlichte Tatsache, dass der Junge das Mädchen nicht wirklich liebe. Steins von allem unberührte Diagnose:[55]

Es ist bezeichnend (und für einen Stormschen Helden typisch), daß Philipp auf diese Offerte „nichts [...] zu antworten weiß“. Trotz seines postpubertären Alters will er an „so ungeheure Dinge“ wie Eheschließung (und die mit ihr verbundene Sexualität) „nie gedacht“ haben und unternimmt, als dergleichen Gedanken nun doch aufkommen, keinerlei Anstalten mehr, das Mädchen am Weggehen zu hindern.

Die Unterstellung Steins ist, dass die ,Stormschen Helden’ Sexualität und echte Nähe regelrecht vermeiden und immer wieder fliehen. Sich nach Nähe sehnen und gleichzeitig Angst davor hätten.[55] Er und andere ,DeuterInnen’ begreifen nicht, dass hier ganz andere innerseelische Realitäten vorliegen. Sie können Storms Figuren überhaupt nicht ernst nehmen – es muss alles immer schon so sein, wie sie (Stein & Co.) es sich vorstellen. Fixiert auf ihren eigenen Deutungshorizont bleiben ihnen Seelen, die völlig anders empfinden, für immer fremd.

Im Falle der Stormschen Protagonisten ist es immer wieder dieses scheue Idealisieren einer Mädchengestalt. Wenn sich also ein angehender Abiturient in ein dreizehnjähriges Mädchen verliebt, scheu und verehrend, dann könnte es für jeden auch nur halbwegs empathisch sich hineinversetzenden Leser offensichtlich sein, dass er selbst mit siebzehn nicht an ,Eheschließung’ und ähnliches denkt – sondern an das geliebte Mädchen, für das alles noch in ganz weiter Ferne liegt, ebenso wie folgerichtig auch für ihn. Wer von einem reinen, bloßen Zusammensein mit dem geliebten Wesen träumt, denkt noch nicht einmal im Ansatz an so profane Dinge wie ,Eheschließung’ oder gar an noch viel abseitigere ,Standesfragen’! Nur für Stein hätte der ,postpubertäre’ ,angehende Abiturient’ das alles natürlich schon längst souverän beherrschen und ,thematisieren’ können müssen. Welch eine lieblose Analyse!

Nicht um ,Beziehungsscheu’ geht es, es geht um echte, tiefe Scheu an sich, die mit einem ebenso tiefen Idealisieren eines weiblichen Wesens notwendigerweise verbunden ist.

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Bei Stein verwandelt sich diese ,Scheu’ in ihr Gegenteil – er spricht völlig ungeniert von einer ,Distanziertheit gegenüber dem anderen Geschlecht’ und führt als weiteren ,Beleg’ jene Szene an, wo es dem inzwischen Primaner seienden Jungen möglich gewesen wäre, auch einmal in den Ratskeller zu gehen ,und mich mit einem jener fremdartigen [Harfen-]Mädchen im Tanze [zu] wiegen, ohne daß irgend jemand groß danach gefragt hätte. – Aber grade zu solchen Zeiten liebte ich es mitunter, allein ins Feld hinauszustreifen und in dem sichern Gefühl, daß sie da seien und daß ich sie zu jeder Stunde wieder erreichen könne, alle diese Herrlichkeiten für eine Zeitlang hinter mir zu lassen.’

Er geht also nicht auf die anziehenden Harfenmädchen zu, sondern lebt in der bloßen Vorstellung, dass er es könnte. Er idealisiert auch diese Mädchen, wagt aber im Grunde nicht die Begegnung, die nämlich auch eine Enttäuschung sein könnte. Die etwas viel Profaneres zutage bringen könnte – Oberflächlichkeit, Desinteresse des Mädchens, was auch immer. Die idealisierende Scheu dieser Jungenseele kann eigentlich nur enttäuscht werden, weil sie in all ihrer Hingabekraft ein Mädchen als Gegenüber bräuchte, das genauso hingebungsvoll wäre, ihm also nicht etwa nur einen kurzen Tanz schenkt und sich dann bereits dem nächsten zuwendet; ihm auch nicht unterstellt, er würde ja später sowieso eine ganz andere heiraten etc. etc. Dieser Junge hat etwas zutiefst Aufrichtiges in sich – und weiß seinerseits unbewusst, dass die übrige Welt diese Tiefe nicht hat. Deswegen zieht es ihn auch in die Natur, denn hier lebt diese ruhige Tiefe – und deswegen meidet er den Ratskeller eben doch, denn hier kann diese Tiefe ganz naturgemäß nicht zu finden sein. Er müsste mit einem dieser Harfenmädchen allein sein, dann vielleicht...

Das also ist die Situation einer idealisierenden Seele. In ihr lebt eigentlich grenzenlos viel Hingabe – denn jedes wahre Idealisieren ist bereits eine solche. Aber sie begegnet nie ihresgleichen, denn die anderen Seelen kennen dieses Idealisieren selbst nicht, und so kollidiert eine hingebungsvolle Seele fortwährend mit einer viel nüchterneren Realität...

Was aber macht Stein daraus? Die andersgeschlechtliche Herrlichkeit ,soll ihm nicht zu nahe rücken, wohl aber in sicherer Entfernung immer „da“ sein’ und sich gewissermaßen als Eigentum jederzeit erreichen lassen.[56] Zarteste Imaginationen und scheue Träume werden von Stein also verwandelt in dumpfe Egozentrik. Dass dies nicht übertrieben ist, beweist sich sofort an Steins nächsten Worten: ,Verwirklicht wird dieses zutiefst egozentrische Beziehungsmodell erst [...] durch den Raugrafen [...].’ Auch hier also setzt er wieder scheueste Sehnsucht und offensten Missbrauch einander gleich! Es ist unvorstellbar, wie so etwas auch nur einen Moment unter ,Literaturwissenschaft’ firmieren kann... Aber heute ist offenbar alles möglich.

Herhalten muss für diese wahnwitzigen Deutungen, dass der Protagonist ja auch auf Schmetterlingsfang gegangen war und es dann am selben Abend zu jener Karussell-Begegnung kommt, wo er in völliger Dunkelheit schließlich den Mut findet, auch Lore zu sagen ,Nun bist du doch gefangen’ und ihre Hand zu ergreifen. Dies reicht bereits aus, um Stein fortfahren zu lassen: ,[...] erscheint Lore schon in dieser Szene als das Objekt eines tödlichen Besitz- und Kontrollstrebens’. Der Raugraf fungiere einfach nur als ,moralisch enthemmter Doppelgänger, der mit seiner Bereitschaft, einen anderen Menschen [...] „rücksichtslos [...] zu verbrauchen“, die latenten Bedürfnisse auch des skrupulöseren Kommilitonen befriedigt.’ Und am Ende könne auch der Erzähler das tote Mädchen endlich so ungestört betrachten wie seine Schmetterlingssammlung.[57]

Wir sehen hier, wie ein von jeder seelischen Realität sich lösender Intellekt zu beliebigen Assoziationen fortschreiten kann, um jederzeit genau dasjenige ,beweisen’ zu können, wonach es ihn gelüstet. Was hier vorliegt, ist genau jene moralische Enthemmung, die der Raugraf offenbart. Und das eingangs von mir verwendete Ikarus-Bild trifft exakt auch auf Stein zu. Befreit von jeder inneren Aufrichtigkeit fliegt er zu sämtlichen Deutungen, die er gerne hätte – und kann sie mit einem lässigen Griff zum jeweils nächsten ,Beleg’ jederzeit ,beweisen’. Denn man muss nur zwei völlig unvereinbare Dinge zusammenrücken, schon ist das eine der Beweis für das andere. Moralische Enthemmung...

                                                                                                                                       *

Stein kommt zu der Formulierung, dass Storms Novellen immer wieder eine Liebe zeigen, die:[58f]

[...] zu voller Blüte erst dann gelangt, wenn das jeweilige Liebesobjekt nur noch in Repräsentationen – nur noch in Form von Signifikaten [mentalen Objektschemata] und Signifikanten (Bildern, Grabsteinen, getrockneten Pflanzenteilen, Tagebuchtexten etc.) – existiert. [...] Woran sich ein Stormscher Liebhaber emotional bindet, das möchte er auf Dauer lieber an die Wand hängen und in Gedanken tragen, als es leibhaftig-lebendig um sich zu haben.

Auf diese Weise, garniert mit hoch intellektuellen, Eindruck machenden Fachbegriffen, kann die Tragik Stormscher Novellen völlig ausgeschaltet und negiert werden. Die Tatsache, dass viele Protagonisten das geliebte Mädchen aufgrund äußerer Umstände einfach nicht ,bekommen’. Einer von mehreren Gründen ist dann auch ihre eigene Scheu, deren tiefere Ursachen wir inzwischen ausführlich erleben konnten – aber Stein pervertiert auch dies. Aus Scheu wird Unwille. Die übrige Lebenstragik, die meist den Hauptgrund für das Einander-nicht-Finden der beiden Figuren, bildet, wird ganz ausgeblendet und unter den Tisch fallen gelassen – und der männlichen Seele wird unterstellt, dass sie lieber ein totes Bild mit sich herumträgt als ein lebendiges Mädchen an ihrer Seite zu haben.

Die Protagonisten haben am Ende nur noch dieses Bild, das sie in zarter Liebe weiter in sich tragen. Aber das bedeutet in keinster Weise, dass es ihnen lieber ist, als wenn sie das Mädchen ,bekommen’ hätten. Storm war eben kein Dichter von Happy-End-Idyllen, sondern er schilderte immer wieder scheiternde Sehnsüchte, deren zugrundeliegende Liebe sich aber gerade dadurch offenbart, dass der Protagonist das lebendige Bild des geliebten Wesens zeitlebens nicht vergessen kann. Hier zu unterstellen, er habe überhaupt und primär nur dieses Bild gewollt, sei also am Ziel seiner Wünsche, ist im Grunde nur noch bösartig...

Für eine ,gestörte Beziehungsfähigkeit’ werden beliebige Gestalten aus Storms Werken herangezogen, so auch der Maler Johannes aus ,Aquis Submersus’, einer Novelle, die eine wirklich tragische Liebesgeschichte schildert, in der Johannes in den Wirren nach dem Dreißigjährigen Krieg bis zuletzt die Jungfrau Katharina liebt, wie sie auch ihn, ohne dass sie einander bekommen dürfen, wie auch bereits Wikipedia zusammenfasst:[o]

Johannes [...] gelangt 1661 auf die Burg des Junkers und väterlichen Freundes Gerhardus und verliebt sich in dessen Tochter Katharina. Als Gerhardus verstirbt, betreibt dessen Sohn und Erbe Wulf nun aber die Verheiratung der Schwester mit dem benachbarten Adeligen und Trinkkumpanen Kurt. Eine sodann geplante gemeinsame Flucht des Liebespaares wird aufgedeckt. Johannes wird vom Hof vertrieben und Katharina hinter den Mauern der Burg eingesperrt.

Selbst dort sucht Johannes sie noch heimlich auf, indem er außen an der Mauer an einem alten Efeubaum zu ihrem Gemach klettert – aber ihrer beider Liebe hat keine Chance.

Stein jedoch zitiert eine andere ,Deuter-Kollegin’, wonach sich ,Figuren wie der Maler Johannes’ zwar nach Liebe sehnten, ,aber wegen starker Frustrationsängste vor „jeder tiefen Abhängigkeit von einem anderen Menschen“ zurück[schrecken]’ würden.[60] Absurder geht es wirklich nicht mehr. Hier wird mit äußerster Gewalt die eigene Deutung auf das Gegenteil hinaufgepresst, um genau das zu haben, was man den Protagonisten unterstellt: den ,Besitz’ – in diesem Fall den sicheren Besitz der eigenen Deutung, der die ProtagonistInnen nicht mehr entkommen können, weil sie wehrlos aufgespießt wurden. Und wer will diesen hoch intelligenten ,Wissenschaftlern’, die ja Seiten über Seiten mit ihren ganzen Deutungen füllen, noch widersprechen? Man hat doch schließlich nicht studiert wie sie...

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Wie geradezu phantastisch die Loslösung von der Realität funktioniert, zeigt sich bei Stein Seite um Seite. Ich kann bei weitem nicht alles erwähnen. Doch später kommt er auch auf die Schlittenfahrt auf dem See zurück, der als Wasser und als ,schwarze Tiefe’, wie wir inzwischen wissen, ja angeblich die weibliche Sexualität symbolisiert, von der der Protagonist nur durch eine dünne Schicht ,jungfräulichen Eises’ getrennt ist. Daher kann Stein denn auch mühelos fortschreiten:[64]

In den sexuellen Konnotationen des Eislaufgeschehens drückt sich die Vorstellung aus, daß ein genitaler Geschlechtsverkehr in Hilflosigkeit und Auflösung mündet – Lores Defloration ein tödlicher Einbruch sein würde, den es aus Selbst- und Objektschutz zu meiden gilt.

Es ist nicht mehr zu fassen... Stein (!) fantasiert etwas von Defloration eines dreizehnjährigen Mädchens und hatte ja bereits früher gefordert, der ,postpubertäre angehende Abiturient’ habe doch längst an Eheschließung etc. zu denken. Die schlichte Wahrheit aber ist: Der Protagonist hat keine Angst vor Sexualität – sondern diese ist überhaupt noch nicht sein ,Interesse’. Es geht ihm um die Zuneigung eines Mädchens!

Aber das interessiert Stein überhaupt nicht – er reitet weiter auf der Sexualmetapher herum, wie besessen oder hypnotisiert... Selbst die modernen, teureren Stahlkufen der Schlittschuhe des Protagonisten müssen dafür herhalten, da sie im Gegensatz zu dem ,hergebrachten scharfkantigen Eisen’ das Eis nicht einmal verletzen. Dies angeblich mache es dem Protagonisten möglich, sich ungefährdet bis zur Mitte des Eises vorzuwagen:[64]

[...] muß er doch [...] „keine Furcht“ haben, es könnte die schützende „Glasdecke“ – das mit dem Jungfernhäutchen [von Stein! H.N.] assoziierte „jungfräuliche[] Eis[]“ – durch seine Berührungen angekratzt werden und brechen. Indem der Kavalier „wie auf Flügeln“ „über den See [fährt]“, seiner Dame Genuß bereitend, ohne dabei die „dunkle Spiegelfläche“ – das weibliche Hymen als „Schutzschirm“ [...] – zu versehren, vollführt er imaginär einen prägenitalen Sexualakt [...].

Mit anderen Worten: sexuell für ihn noch ungefährliches ,Petting’. Es ist geradezu erstaunlich, wie extrem man sich in die eigenen Lieblingsdeutungen verrennen kann, ohne sich Rechenschaft darüber ablegen zu müssen, ob dies noch irgendetwas mit der Realität zu tun haben mag... Vielleicht befriedigt eine solche Deutungssphäre ja etwas in dem ,Literaturwissenschaftler’ selbst? Längst weiß man jedenfalls, dass die Inquisitoren, die gründlichst die Geschlechtsregion angeblicher Hexen auf Spuren ihres Verkehrs mit dem ,Teufel’ inspizierten, keineswegs frei von eigenen Begierden waren, die sie sich nicht eingestehen mussten, weil ja alles nur Handeln ,von Amts wegen’ war. Und genauso ist natürlich der ,Literaturwissenschaftler’ zu all diesen genauesten Untersuchungen verpflichtet, die angeblich nur zutage fördern, was in den Protagonisten vorgeht...

Anstatt also scheu um die Gunst eines Mädchens zu werben, vollführt der Protagonist längst einen imaginären Sexualakt, denn er fährt ja Schlittschuh auf dem Eis...

Und anknüpfend an diese Absurdität steigt der Ikarus weiter hinauf, immer weiter. Jetzt setzt Stein zu einem Angriff auf die prägenitale Sexualität überhaupt an, indem er einen anderen Autor zitiert:[66]

Die Prägenitalität muß vom Perversen idealisiert werden, damit er sich und anderen die Illusion geben kann, sie sei der Genitalität gleich und ihr sogar überlegen.

Der ,Perverse’ – also zum Beispiel der Fetischist, der etwa ,kleine Füße’ anziehend findet – müsse dabei in Wirklichkeit aber kindliche Impotenzerfahrungen abwehren, etwa die Entdeckung verleugnen, ,daß die reife Frau – damals: die mütterliche Bezugsperson – „eine Vagina besitzt, die der Penis des kleinen Knaben nicht ausfüllen könnte“. Um ,diese narzißtische Kränkung nachträglich in einen Triumph umzukehren, und um sein Selbstbild zu restaurieren’, idealisiere der Fetischist alles, was mit genitaler Sexualität noch nichts zu tun habe.

Soweit muss man erst einmal um die Ecke denken können! Der Protagonist fuhr also nur deshalb auf dem Eis, weil er als Kind entdeckt hatte, dass sein Penis die Mutter nicht befriedigen würde... Wäre er nicht so gestört, würde er keine Angst haben, in den See einzubrechen, denn hier wartet die volle weibliche Sexualität, die jeden ,echten Mann’ nicht schrecken würde! Wir sehen, wie sinnfrei die Dinge sind, die Stein hier zusammenfantasiert – überhaupt nicht bemerkend, dass seine Deutung nicht einmal von dünnstem Eis mehr getragen wird, sondern dass er längst, längst eingebrochen ist in das Reich völliger Sinnlosigkeiten, die nur immer noch absurder werden, weil hier stets noch jede Steigerung möglich ist.

                                                                                                                                       *

Steins Fazit lautet:[71]

Befangen in einer latenten Angst vor Selbstverlust, fürchten Storms Helden die geschlechtliche Sexualität und versuchen deren Bedeutung auf fetischistischem Wege zu leugnen. Sobald ihnen das nicht mehr gelingen will, wird das lebendige Gegenüber mit einem Erinnerungsbild vertauscht, aus dem die Anzeichen der Geschlechtslust sorgsam getilgt sind.

Stein bemerkt nicht einmal seine eigenen gigantischen Widersprüche. Die bloße Tatsache, dass der scheue Junge unter anderem die Füße des Mädchens reizvoll findet, ist ihm sofort ,Fetischismus’ (man muss die Dinge aufspießen, bevor sie wieder weg sind). Bereits gegenüber einem dreizehnjährigen Mädchen muss die Sexualität gefürchtet und geleugnet werden. Bereits ihr gegenüber muss man an Eheschließung und genitale Geschlechtslust denken – statt in zarter Verehrung und scheuem Idealisieren zu verharren.

Und welches Erinnerungsbild? Unter anderem das tote Mädchen, in dessen triefenden Haaren Seetang und Muscheln hängen und das mit einem nun fast durchsichtigen Kleid und nicht mehr vorhandener weißer Rose im Haar geradezu der Inbegriff erotischer Sexualität ist (gerade auch laut Steins eigener Deutung!), nur eben leider tot, soll gleichzeitig etwas sein, ,aus dem die Anzeichen der Geschlechtslust sorgsam getilgt sind’.

Wir können getrost annehmen, dass der Protagonist in seinen Erinnerungen nach wie vor ebenso auch das Bild des lebendigen Mädchens trägt, dessen Füßchen so verwirrend beweglich waren... Aber für Stein zählt nur eines: seine eigene These. Und diese lautet, Storms Protagonisten seien extrem narzisstisch, weshalb er auch Kohut zitiert:[70]

Ein narzißtisch gestörter Mensch empfinde sein Objekt „als Teil seines erweiterten Selbst (expanded self)“ und glaube von daher, daß er „das Recht“ zu dessen „volle[r] Kontrolle“ habe. Die „bloße Unabhängigkeit“ des Objekts, „ja schon sein Anderssein“, stelle für ihn eine Beleidigung bzw. auch Bedrohung dar und werde deshalb auf aggressive Weise – mit narzißtischer Wut – bekämpft (Kohut 1973, S. 540).

Hier nun offenbart sich die Vergewaltigung durch ,Literaturwissenschaftler’ dieser Art vollends. Wir sahen bereits, wie Stein schon die Tatsache, dass der Protagonist Lores Hände fasst, als ,Handgreiflichkeit’ zu deuten versuchte. Dass aber gerade dieser scheue Junge nur aus höchster Verzweiflung einmal handgreiflich wird – nämlich in der Schlittenszene, als sie entdeckt, dass er ihren Schlitten führt, und als sie ihn zuerst mit der kleinen Faust vor die Brust stößt und sagt: ,Geh doch zu deinen feinen Damen! Ich will nichts mit euch zu tun haben [...]!’ und er sie daraufhin verzweifelt wieder auf den Sitz drückt – und dass er in jeder anderen Situation immer wieder nur hilflos hofft, dass auch sie ihm kleine Spuren ihrer Zuneigung schenkt ... das scheint Stein die gesamte Novelle über restlos entgangen zu sein.

Niemand strebt so wenig wie er nach einem Eigentum an dem Mädchen, während er die Erwiderung der Zuneigung innig ersehnt, ihr mit seinem ersparten Geld scheu weiße Handschuhe kauft, damit sie nicht hinter den gehobeneren Bürgermädchen zurückstehen müsse, und anderes mehr. Fortwährend muss er die Erfahrung machen, wie eigenständig, unabhängig und sogar distanziert dieses Mädchen ist – und kann nur darunter leiden, ist aber selig über jedes kleinste Zeichen der Zuneigung. Was hieran Kohuts Beschreibung auch nur entfernt ähnlich sein soll, bleibt Steins Geheimnis.

Gänzlich absurd ist ferner die Behauptung ,schon das Anderssein’ des geliebten Mädchens sei für den Protagonisten eine ,Beleidigung’ oder ,Bedrohung’ wie für den Narzissten, der, wie der Raugraf, das Mädchen tatsächlich wie ein Objekt in Besitz nimmt. Auf den Erzähler dagegen trifft das Gegenteil zu. Für ihn ist das Anderssein des Mädchens in seinem ganzen zarten Mädchentum keine Beleidigung, sondern Sehnsuchtsziel. Lore ist eben nicht die Erweiterung irgendeines Selbstes, sondern tatsächlich das ganz Andere: zarter, viel schöner, viel anmutiger, ein heiliges, traumhaftes Wunder... Er idealisiert sie – und nicht sich. Sich hält er gerade immer wieder für unwürdig, ungenügend, kann nur hilflos werben...

Aber all diese Realitäten sind Stein völlig gleichgültig. Und so wird Ikarus immer weiter fliegen – der finstere Himmel der Sinnlosigkeiten kennt keine Grenzen, auch keine erlösende Sonne, die die selbstgezimmerten Flügel auflösen könnte. Der Irrtum währt so lange, wie der Hochmut des ,Wissenschaftlers’, der lieber narzisstisch mit seinen Deutungen die volle Verfügungsgewalt über die zu Objekten degradierten ProtagonistInnen besitzen will, als ihnen ihr reales Anderssein zuzugestehen. Sie haben so zu sein, wie er es ihnen aggressiv übergestülpt hat. Und jeder Widerspruch wird als Bedrohung des eigenen Größenselbsts wahrgenommen...

Quelle:

[1] Malte Stein: „Sein Geliebtestes zu töten“. Literaturpsychologische Studien zum Geschlechter- und Generationenkonflikt im erzählerischen Werk Theodor Storms. Berlin 2006, S. 21-71.