16.12.2023

Der Tod des Romans – wovor habt ihr Angst?

Von der Diskriminierung der Zärtlichkeit.


Inhalt
Einst war die Kunst...
Aber geht heute nicht alles?
Was nicht sein darf...
Gipfel der Irrationalität
Das reale Märchen
Belles Wahrheit
Der Anstoß
Moderne Märchen


Einst war die Kunst...

Einst war die Kunst das Element, das die Grenzen der jeweiligen Gesellschaft auslotete – und erweiterte. Das Kritik aussprechen konnte, ja sogar sollte. Einst war die Kunst das Element der Freiheit schlechthin – ein Ort realer Utopie, der radikalen Ehrlichkeit. Ein Ort, an dem Zukunft wachsen durfte...

Die Gesellschaft macht sich nicht klar, was sie verliert, wenn sie diesen Ort, dieses Element preisgibt. Aber sie hat es längst getan. Das Freie ist nicht mehr erwünscht. Die Tore schließen sich – auch für die Kunst. Und das bedeutet: Sie existiert in diesem Sinne nicht mehr. In Zeiten des zunehmenden Rendite-Druckes, des Performance-Zwanges (des Zwanges, systemkonform zu ,funktionieren’, was auch immer systemkonform dann heißt) ... meint die Gesellschaft und meinen die gesellschaftlichen Akteure, sich diese radikal freie Kunst nicht mehr leisten zu dürfen.

Aber was ist die Folge? Sie lässt sich zunächst kaum formulieren, denn man bräuchte ein außerordentlich feines und aufrichtiges Gespür – mit ein paar Sätzen intellektueller Analyse wäre rein gar nichts gesagt. Sie ist gerade das Problem. Denn der Intellekt hat zu allem sehr schnell eine Meinung, einen Standpunkt – aber diese Schnelligkeit, die mit kühler Empathiearmut einhergeht, ist Teil dessen, was diese Welt schleichend zugrunde richtet. Was man also bräuchte, wäre Gespür... Aufrichtigkeit. Im besten Sinne: Sensibilität.

Diese könnte man wieder in sein Herz einlassen, wenn man etwa so eine Perle wie den Film ,The Quiet Girl’ im Kino sieht – eine der wenigen Ausnahmen unter den jährlich hunderten von Filmen, die auf die Leinwände strömen und die man meistens mit Gewinn am besten nicht schaut, um seine Seele nicht zu vermüllen. Aber es gibt eben auch Filme, die das Herz wieder tief sensibel machen – und einem zeigen, worauf es wirklich ankommt. Sensibel werden. Empfindsam. Oder, wie es Hilde Domin einmal formulierte:

   Nicht im Stich lassen,
   sich nicht und andere nicht,
   das ist die Mindestutopie,
   ohne die es sich nicht lohnt,
   Mensch zu sein.

Aber geht heute nicht alles?

Aber was darf die Kunst denn heute nicht? Darf sie nicht alles? Wieso redest du vom Tod des Romans? Darf heute nicht alles geschrieben werden? Erscheint in Self-Publishing-Verlagen nicht alles, was sich überhaupt nur denken lässt? Sexfantasien bis zum Hardcore, Splatter-Szenarien, Psychothriller mit Psychopathen und tausend andere Dinge? Sprache jeder Art, keinerlei Grenze als vielleicht Volksverhetzung, Rassismus oder Kinderpornografie?

Ja, jeder Mist darf heute geschrieben werden, das stimmt, und kann dann bei ,Books on Demand’, ,epubli’ und wie sie alle heißen erscheinen. Die Seele kann sich zuschütten mit seelenlosen Produkten und Produktionen aller Art. Nichts ist verboten. ,Tabuloser Sex’ und ,Morde am laufenden Band’ ziehen immer noch – sind gleichsam zeitlose ,Renner’ in einer seelenlosen Zeit, die nur noch Reize und Abwechslung sucht, weil sie sonst in sich zusammenfallen würde. Wie sonst ist diese Flut von Schund zu erklären?

Aber dieses Ausufern von Sex und Gewalt ist eben mitnichten ein Zeichen für die Freiheit der Kunst oder auch nur der Literaturgattung Roman – denn zwar werden hier in einer Richtung ,alle Tabus fallengelassen’, sodass eine regelrechte Schwemme der Seelenlosigkeit durch die Literaturlandschaft zieht, die dadurch selbst auch immer kontur- und gesichtsloser wird bzw. in der man immer mehr an sich abperlen lassen muss, um die wahren Perlen inmitten alles übrigen auch weiterhin zu sehen. Aber andererseits erzeugt diese wertlose Schwemme nur die gigantische Illusion, dass heute ,alles möglich’ sei. An Plattheiten und Wertlosigkeiten ist alles möglich, ja – wer wollte hier noch Grenzen ziehen? Sie sind niedergerissen, jede oberflächliche Phantasie drängt heute auf den Markt und erscheint auch.

Darüber hinaus haben diese geist- und seelenlosen Produktion andererseits oft sogar Millionen-Budgets. Als Beispiel nenne ich nur ,Aquaman 2’, auch diese Art von Filmen hat Hochkonjunktur.

Als Kunst kann man dies alles nicht mehr bezeichnen. Es ist Kommerz, hat aber nichts mehr mit irgendwelchen Zielen und Zwecken des Menschlichen zu tun, arbeitet diesem vielmehr entgegen, wirkt unmittelbar auf deren unaufhaltsame Erosion hin, wie ich gerade erst wieder in meinem Büchlein ,Die Unschuld stirbt zuerst’ versucht habe, erlebbar zu machen. Die Seelen ersticken an Schund und Sinnlosigkeit(en). Und all dies hat, um es zu wiederholen, Hochkonjunktur. Ein ungeheures Symptom...

Was nicht sein darf...

Nein, die Kunst wird auch heute noch massiv beschränkt, nur sind die Schranken nur dem sichtbar, der sie wirklich erkennen will – wer naiv herumläuft, der meint, es würden der Kunst, etwa dem Genre des Romans – des Genres der Phantasie schlechthin (!) – heute keine Grenzen gesetzt. Sie werden gesetzt. Und das meine ich mit Tod des Romans.

Das Genre Roman wäre wirklich noch ein Genre der Kunst, wenn es keine Grenzen gäbe. Da es sie aber gibt, ist es als Genre nur noch ein Anhängsel geworden – zahnlos, willfährig, kontrolliert. Was auf dem Markt ist, kann man lesen, was nicht auf den Markt kommt, erfährt man gar nicht. Und so bleibt der blinde Fleck erhalten – es ,gibt’ doch alles...?

Eben nicht. Was es nicht gibt, ist die Begegnung zwischen einem Mann und einem Mädchen ... nicht, wenn der Mann sich in das Mädchen verliebt...

Bei diesem Szenario erhebt sich ein unsichtbarer Aufschrei ohnegleichen. Dieser hat nichts mehr mit irgendeiner Rationalität zu tun. Rational sollte man meinen, es geht hier vielleicht zumindest noch um den Schutz wehrloser Mädchen. Tut es aber nicht. Selbst ein Roman wie ,Lolita’, zweifellos Weltliteratur, hätte es heute vermutlich unendlich viel schwerer als damals schon, würde heute erst recht keinen Verlag mehr finden. Aber selbst ein neuer ,Lolita’-Roman würde wahrscheinlich noch eher einen Verlag finden, als ein Roman, in dem sich ein Mann und ein Mädchen beidseitig und aufrichtig ineinander verlieben – sich gegenseitig vielfach beschenken und einfach nur glücklich miteinander sind, niemandem etwas tun...

Das wiederum meine ich mit krasser Irrationalität. Selbst in einem bloßen Roman (!) darf dies heute nicht mehr vorkommen – Gründe gibt es schlicht keine. Angeblich weiß die Gründe jeder, aber welche sind es denn? Sie existieren nicht. Was könnte man gegen einen Roman haben, wo sich zwei Menschen, ein Mann und ein Mädchen, gegenseitig grenzenlos gut tun?

Ist es Neid? Ist es ungläubige Abwehr? Aber selbst wenn dieses Szenario unmöglich wäre (was völliger Unsinn ist) – so wäre es ,Fantasy’. Wie kann man Fantasy verbieten?

Gipfel der Irrationalität

Glaubt man, Mädchen, die zufällig auf einen Roman stoßen, der eine positive Begegnung zwischen einem Mann und einem Mädchen beschreibt, würden ihn verschlingen und fortan glauben, dass alle Männer wunderbar seien? Ich glaube, diese Annahme ist so unendlich abwegig, wie sie die einzig denkbare Erklärung ist, um die zutiefst irrationale Abwehr verstehen zu können. Man glaubt dies wirklich. Man unterstellt eine reale Gefährdung von Mädchen durch jeden einzelnen Roman innerhalb der Flut von Millionen Neuerscheinungen jährlich ... der eine Mann-Mädchen-Begegnung schildert, und zwar positiv!

Und der andere Glaube ist wahrscheinlich, dass jeder einzelne dieser Romane den Blick von Männern auf Mädchen lenken könnte. ,Lolita’ tut es ja bereits. Und jeder andere Roman mit der Thematik ,Mann liebt Mädchen’ täte es auch, egal wie winzig er als Schneeflocke in einem riesenhaften Himmel von anderen Neuerscheinungen daherkommt. Nichts ist heute eine Gefahr. Keine seelenlosen Schundproduktionen, keine Splatter-Romane, keine Horror-Krimis, keine ... einfach gar nichts. Nur Romane, in denen sich ein Mann und ein Mädchen begegnen – das ist das, was heute mit aller Macht und Einigkeit und Geschlossenheit unterdrückt werden muss. Ohne viel Aufsehen. Einfach, weil es sich von selbst versteht. Still und diskret. Einfach unterdrücken...

Wichtig ist, das Gewaltsame dieser subtilen, extrem realen und extrem machtvollen Tendenzen zu spüren. Da wird in keiner Weise differenziert. Es wird alles über einen Kamm geschoren. Bei Beziehungen zwischen einem Mädchen und einem Mann ist immer und immer wieder vom ,Machtungleichgewicht’ die Rede – aber es interessiert einen überhaupt nicht, ob dieses real vorhanden ist oder nicht. Dagegen ist das vergewaltigende (!) Machtungleichgewicht unmittelbar gegeben, wo die Handvoll Self-Publishing-Verlage, die existieren, jedem Roman die Möglichkeit der Existenz verweigern, der eine solche Begegnung fiktiv Wirklichkeit werden lässt – ich wiederhole: eine Begegnung, der Mädchen und Mann sich gegenseitig tief beschenkt fühlen und in dieser Begegnung glücklich werden.

Abstrakt glauben die Akteure, die man oft nicht einmal namentlich kennenlernt, dann, dass sie in irgendeinem öffentlichen Interesse handeln, etwa im Interesse einer ,mädchenschützenden Gesellschaft’ und auch im Interesse aller real existierenden Mädchen selbst – aber dieser Glaube ist intellektueller Hochmut, denn in Wirklichkeit ist das bloße Thema bereits ein Allergikum geworden: Man reagiert eigentlich nur noch reflexhaft, konditioniert, Rationalität hat dies keinerlei mehr.

Man glaubt, zu wissen, was für Mädchen gut ist – und mit dieser Doktrin, mit diesem Dogma geht man gegen ein ganzes Genre vor, enthauptet es buchstäblich. Oder reißt ihm das Herz aus dem Leib. Denn das Herz des Romans ist der Ort, wo die Kunst beginnt. Und sie beginnt da, wo alles geschrieben werden kann. Wo die Phantasie frei ist. Frei für das Wunder. Wo das Wunder nicht verboten werden kann. Da und erst da lebt die Kunst...

Das reale Märchen

Meine Romane sind im Grunde moderne Märchen. Märchen, weil sie etwas schildern, was man nicht mehr sehen will – und woran man auch gar nicht mehr glaubt. Märchen, weil sie immer wieder Ideale schildern – buchstäbliche Wunder. Etwas, was das Herz des Lesers, der Leserin ungläubig staunen lässt. Nicht, weil es nicht möglich wäre – sondern, weil es so selten geworden ist. Weil es den Alltag wieder zu einem kostbaren Sonntag macht, in seiner Aufrichtigkeit, in seiner Behutsamkeit, in seiner Zärtlichkeit im allerbesten Sinne.

Und modern, weil es sich jederzeit ereignen könnte – jetzt, hier, nebenan, nicht weit weg. Die ProtagonistInnen meiner Romane sind nicht etwa weltfremd, nicht im Geringsten, weder die Männer noch die Mädchen. Oft dagegen sind es einsame Seelen, in dem Sinne, dass sie einen sehr eigenen Weg gehen, nicht dem großen Strom gleichen, von dem Lauten und Oberflächlichen an den Rand getrieben werden ... und dort, auf unscheinbaren Pfaden, durch leise Fügungen des Schicksals vielleicht, einander finden. Und staunend zu spüren beginnen, dass es hier zarte Seelenverwandschaften geben kann – zwischen Mann und Mädchen...

Mit all meinen Büchern weise ich darauf hin, dass Männer Mädchen nicht nur missbrauchen oder sonstwie ausbeuten können, sondern dass sie ein Mädchen auch zutiefst beschenken können – und von einem Mädchen grenzenlos beschenkt und verwandelt werden können, gerade auch dann, wenn sie bereits zuvor ebenfalls schon empfindsam waren. Ich beschreibe dieses Mysterium, diese heilige Alchemie immer wieder – ganz deutlich aber etwa in jenen Büchern, die keine Romane sind, etwa ,Der Weg des Mädchens’ oder ,Mädchenland’.

Indem nun aber Bücher, die eine derart positive Begegnung zwischen Mädchen und Mann beschreiben, teilweise auf hunderten von Seiten, mit einer selbst schon zärtlichen Behutsamkeit und Liebe zu diesem Wunder – bereits rein menschlich berührenden Wunder –, indem also solche Bücher unterdrückt werden, weil sie nirgendwo erscheinen dürfen, reproduziert man das allmächtige Narrativ, die buchstäbliche Lüge: Dass Begegnungen zwischen Mann und Mädchen ,ganz, ganz schlimm’ sind, nie positiv sein können, nie ein Geschenk für beide Seiten sein können, nie von Zärtlichkeit, Behutsamkeit und tiefer Achtung geprägt sein können.

Gibt es vielleicht mächtige (auch unbewusste) Interessen, die dieses Dogma aufrechterhalten wollen? Wem nützt dies? Vielleicht schon dem eigenen Seelenhaushalt, wenn man irgendetwas noch lückenlos und fraglos und reflexartig verteufeln kann? Hat man vielleicht diese starke unbewusste Tendenz, irgendetwas in dieser Welt noch ganz klar verteufeln zu können, ohne nachdenken zu müssen, ohne differenzieren zu müssen, einfach mit ganzem Herzen etwas ,aburteilen’ zu können...? Sogar etwas, was, wenn man einen Moment lang aufrichtig wäre, einen tief berühren müsste, weil man eine innere Zärtlichkeit der Seele erlebt, die nirgendwo sonst mehr derart Realität ist...? Das reale Märchen...

Belles Wahrheit

Konkret beschreibe ich ein solche tief berührende Begegnung in zwei Romanen, die eigentlich kurz vor Weihnachten bei ,Books on Demand’ erscheinen sollten. ,Verrückt...’ beschreibt diese Begegnung aus der Sicht des Mannes. Der zweite Roman beschreibt sie aus der Sicht des Mädchens – aber Jahrzehnte später, weil man heute zusätzlich ja jedem Mädchen unterstellt, es wäre noch nicht urteilsfähig. Es ist also die reife Frau, die auf diese Begegnung zurückblickt. ,Belles Wahrheit’.

Es ist symptomatisch, dass dieser weibliche Blick das Prüfungsverfahren bei ,Books on Demand’ passiert hatte, zunächst, während die Rückmeldung zu dem anderen Roman sich immer weiter verzögerte. Als ich schließlich nachfragte, war das Ergebnis, dass beide Romane gekündigt wurden – auch ,Belles Wahrheit’. Selbst die Wahrheit des Mädchens, die Wahrheit der erwachsenen Frau, zählt also nicht, darf nicht sein, wird totgeschwiegen. Es muss beim Dogma bleiben: Diese Wahrheit ist ,falsch’, darf nicht erscheinen.

Und die Antwort lautete:

Wir haben Ihre Titel [...] intensiv BoD-intern diskutiert.
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Aufgrund der weiteren inhaltlichen Prüfung müssen wir die Titel [...] hiermit mit sofortiger Wirkung kündigen (Punkt 14.3 und 14.4 Autorenvertrag). Die Inhalte dieser Titel verstoßen gegen unsere Veröffentlichungsrichtlinien, die sich auch in der vertraglichen Gestaltung wieder finden. Weitere Titel werden zur Zeit geprüft.
Wir bitten um Ihr Verständnis.

Hier sehen wir also die Gründe. Das Dogma bestimmt alles – alle unterwerfen sich, weil alle es für gültig und richtig halten, sogar bis hin zu vorauseilendem Gehorsam. Nichts anderes hat mehr Wert – weder der Autor noch jene Leser, die ein solches Buch gerne lesen würden, vielleicht berührt werden würden, nicht einmal das Genre Roman ist mehr etwas wert, die Freiheit der Kunst und die Bedingungen dieser Freiheit. Alles muss dem Dogma unterworfen werden. Und die Herrschaft in diesem grenzenlosen Machtungleichgewicht haben die verlängerten Arme dieses Dogmas: anonyme, vorgeschobene ,Vorgaben der Vertriebsplattformen’ (wie etwa Amazon, Libri...), hinter denen man sich wunderbar verstecken kann. Je allgemeiner und abstrakter, desto mächtiger ist die Herrschaft des Dogma und desto brutaler die Vergewaltigung, die man vor diesem Hintergrund vollziehen kann. ,Wir bitten um Ihr Verständnis’...

Der Anstoß

Belles Wahrheit würde also niemand kennenlernen, wenn es nach diesem allmächtigen Dogma, diesen ,Vertriebsplattformen’ (angeblich zumindest) und ,Books on Demand’ ginge. Es geht nicht nur um die Enthauptung der Kunst und des Genres Roman, nicht nur um die Entmündigung eines Autors und potenzieller LeserInnen – es geht auch um die ohne ein Wimperzucken exekutierte Entmündigung der ProtagonistInnen, in diesem Fall des Mädchens und der Frau Belle.

Ich kenne die intern kursierenden (?) Richtlinien der ,Vertriebsplattformen’, also von Amazon oder Libri etc. nicht. Aber keine Vertriebsplattform ist gezwungen, sämtliche Bücher zu vertreiben – kann sie deshalb Druck auf Verlage oder andere Vertriebsplattformen ausüben, was diese vertreiben? Oder geht es immer nur um das behauptete Dogma, was unisono überall angebliche Grundlage wäre?

Das Einzige, was mir bekannt ist, ist der Autorenvertrag von ,Books on Demand’. Der sogenannte Verstoß gegen deren ,Veröffentlichungsrichtlinien’ ist jederzeit möglich, man hat es gar nicht in der Hand, weil es einzig und allein eine Entscheidung von ,Books on Demand’ ist. Denn laut Vertrag hat der Autor unter anderem zu garantieren, dass er:

[...] keine Inhalte verbreitet, die öffentlich Anstoß erregen können, politisch extremistische (z. B. nationalsozialistische) Positionen beinhalten und/oder gegen Gesetze verstoßen.

Und dies ist eine immer wiederkehrende Formulierung solcher ,Self-Publishing-Verlage’, mit der sie sich alle Rechte zu jeglicher Kündigung sichern. Gleichrangig neben so extremen Formulierungen wie ,politisch extremistisch’ und ,gegen Gesetze verstoßend’ steht dann immer auch, hier sogar an erster Stelle, ,die öffentlich Anstoß erregen können’.

Im Grunde ist hier die Kunst bereits getötet. Angst vor dem öffentlichen Anstoß! Und zugleich kann diese Angst immer perfekt vorgeschoben werden – etwa mit Verweis auf ein allmächtiges Dogma. Dann aber erstarrt eine ganze Gesellschaft, eine ganze Zeit, ein ganzes Genre, es stirbt einfach.

Und von der Sinnlogik her besagt der zitierte Halbsatz im Grunde sogar, dass politisch extremistische Positionen oder Gesetzesverstöße gar kein Anstoß mehr erregen – denn sonst würde die Gleichrangigkeit der Aufzählung gar keinen Sinn machen. Mit anderen Worten: Tipps zur Steuerhinterziehung oder Nazi-Parolen wären zwar auch verboten, aber sie würden eigentlich keinen Hund mehr hinterm Ofen hervorlocken – aber die berührende Begegnung zwischen einem Mädchen und einem Mann, das erregt öffentlich Anstoß, da muss die Kündigung aber ganz schnell her, oder die Absage von vornherein, während fast alles andere wahllos erscheinen darf!

Also: Getrieben von allmächtigen ,Vertriebsplattformen’ will ,Books on Demand’ keine Inhalte, die ,öffentlich Anstoß erregen können’ (können!). Alles, was keinerlei Anstoß erregt, was in die vorgegebenen Schemata passt, darf sein. Nur bitte keine Unruhe. Ordnung muss sein. Das wilhelminische Preußen hätte es auch nicht besser gekonnt. Und dazu gehört – ,leider’, ,wir bitten um Verständnis’! – auch Belles Wahrheit. Man kann ja nicht jede Wahrheit drucken, nicht wahr... Manche müssen sich ihre Unterdrückung schon gefallen lassen. Wo kämen wir denn hin, wenn die Vertriebsplattformen nicht mehr allmächtig wären – und man sich noch fragen würde, ob man der Kunst nicht soeben den Todesstoß versetzt hat? Nein, die vermeintliche Meinung von Amazon und Libri ist doch viel entscheidender...

Moderne Märchen

Belles Wahrheit würde also nie jemand kennenlernen können, wenn nicht als allerletzte Möglichkeit doch noch die bliebe, mit ungeheurem Aufwand und entsprechenden Kosten einen ganz eigenen Verlag zu errichten – und selbst noch jenseits von ,Books on Demand’ und der ohnehin schon existierenden Bücherschwemme von Millionen Neuerscheinungen ein absolutes Nischendasein zu fristen, damit auch Belle ihre Wahrheit zumindest aussprechen darf.

Das Mädchen Belle steht dabei für eine völlig neue, zukünftige Qualität – für Sanftheit, Empathie, für Offenheit, für das Nicht-Unterdrückende, für etwas Weiches ... was nicht etwa der Gegensatz zum Mann ist, schon gar nicht zu dem Mann, der sich in sie verliebt, aber der Gegensatz zum Kapitalismus.

Und vielleicht muss letztlich deswegen die sanfte, behutsame, zärtliche Begegnung zwischen Mädchen und Männern derart restlos und total(itär) unterdrückt werden – weil gerade diese Begegnung die Axt an die Wurzel jener Dogmen legt, auf die der Kapitalismus aufbaut: Dass wir noch lange weitermachen könnten mit dem Gegeneinander und der Konkurrenz. Die berührenden ProtagonistInnen (Männer und Mädchen) meiner Romane leben eine neue Zukunft vor. Sie zeigen, wie man in Wirklichkeit sein kann. Moderne Märchen eben. Märchen, die sich jederzeit hier und heute, direkt nebenan und mitten auf der Straße, ereignen könnten. Wenn man es nicht unterdrücken würde.

Cui bono?

Niemand hat mich je glücklicher gemacht als dieser Mann. Niemand hat mir mehr geschenkt. Niemanden habe ich mehr geliebt – niemals liebte dieses Wesen namens Belle mehr, als jenes zwölfjährige Mädchen geliebt hatte, höchstens genauso tief...
Und ich höre die unverbesserlichen Einwände von wegen: ,unver¬antwortliche Gefühlsverirrung’, ,ganze Jugend genommen’, ,gefähr¬liche Illusionen’ und so weiter, und so fort. Diese Menschen wissen gar nicht, wie sehr sie meine eigenen Seelenerlebnisse vergewaltigen – wie sehr sie sich das Recht herausnehmen, mich zu vergewaltigen, meine Geschichte, meine Erlebnisse, meine Wahrheit, mein Wesen. Sie vergewaltigen alles von mir, nur damit ich in ihr Dogma hineinpasse. Nur das wollen sie: Dass es wieder ,stimmt’. Was sie einem Mädchen dafür antun müssen, ist ihnen gleichgültig. Sie wollen ihr Dogma. Das Mädchen zählt gar nicht.

- Belle in ,Belles Wahrheit’

Wenn man nicht verstehen will, wie dieses Mysterium möglich ist, will man nur eines: Dass alles so bleibt, wie es ist – und dass die zunehmende Vernichtung der Welt weiterrollt, immer weiter. Die ProtagonistInnen meiner Romane aber stehen für etwas ganz Neues.