01.07.2011

Irene Diets skandalöser Umgang mit Rudolf Steiners Worten

Zum zentralen Skandal in Irene Diet: „Das Geheimnis der Sprache Rudolf Steiners. Vom ungelösten Rätsel des Verstehens.“ Ignis Verlag 2011.


Inhalt
Angriff über die „Kategorie des Denkens“
Der Skandal
Korrigendum? 


Angriff über die „Kategorie des Denkens“

Im zweiten Kapitel: „Rudolf Steiner übersetzen?“ führt Irene Diet einen Frontalangriff auf Mieke Mosmuller, indem sie ihre Gedanken im Anschluss an einen zentralen Satz Rudolf Steiners kritisiert und ihr vorwirft, sie würde willkürlich Worte austauschen:

Ein anthroposophischer Autor, der zeigen will, wie er mit den Texten Rudolf Steiners arbeitet, nimmt dazu folgenden Satz:
„Der Umstand, dass das Ich durch Freiheit sich in Tätig­keit versetzen kann, macht es ihm möglich, aus sich heraus durch Selbstbestimmung die Kategorie des Denkens zu realisieren, während in der übrigen Welt die Ka­tegorien sich durch objektive Notwendigkeit mit dem ihnen korrespondierenden Gegebenen verknüpft erweisen.“ (Rudolf Steiner)
Und im Anschluss daran behauptet er:

„Möglicherweise begreift man diesen Satz nicht, weil er sprachliche Schwierigkeiten mit sich bringt. Das ist jedoch etwas anderes als das Nicht-Begreifen der in den Worten verkörperten Gedanken. Die Probleme, die sich mit einem solchen komplizierten Satz erge­ben, sind also meistens Probleme der Sprache. Hat man den Gedanken daraus befreit, lässt er sich un­mittelbar und ohne weiteres verstehen.
(...) Welche Gedanken leben in dem oben zitierten Satz? Das Ich kann beliebig aktiv werden und kann daher nicht nur z.B. den Begriff des Kreises formen (dieser Begriff ist durch objektive Notwendigkeit mit dem Gegebenen – dem Kreis – verknüpft), sondern kann sein Begreifen auch zur Bestimmung seiner selbst ein­setzen. Wenn nun das Ich (der Denker) sich selbst bestimmt – und das tut er immer aus sich heraus, also ohne äußeren Anlass –, dann realisiert (d.h. verwirk­licht) das Ich den Begriff des Erkennens. Dieser Begriff ist nicht notwendig da, nicht schon von vornherein mit dem Ich verknüpft. Er wird erst realisiert, wenn das Ich sich dazu aufrafft.
Man kann es selbstverständlich auch anders for­mulieren, die Bedeutung ändert sich dadurch nicht. Über den Begriff des Kreises muss man denken, um ihn auf den Kreis beziehen zu können. Über den Be­griff des obigen Satzes braucht man nur zu denken, wenn man die Sprache nicht versteht. Versteht man sie, hat man auch die Bedeutung. (...)“


Im Anschluss unterstellt Diet Mieke Mosmuller, sie würde behaupten, Rudolf Steiner müsse zunächst übersetzt werden:

Der Autor behauptet also, dass das eigentliche Problem, das man mit den Texten Rudolf Steiners haben kann, rein sprachlicher Natur sei. Wolle man Rudolf Steiner lesen und begreifen, müsse man ihn als Erstes – übersetzen.


Es ist jedoch Diet, die Mieke Mosmuller mit ihrem falschen Verständnis umdeutet und keinerlei Rücksicht auf das nimmt, was Mieke Mosmuller sagt und meint. Was hierzu zu sagen ist, habe ich bereits in meinem Aufsatz „Irene Diet und das Nicht-Verstehen Rudolf Steiners“ gesagt.

Irene Diet versucht dann zu zeigen, wohin es führt, wenn man Rudolf Steiner in gewöhnliche Sprache übersetzen wollte und vereinfacht nach und nach jede Formulierung, bis der Satz lautet: „Weil ich frei tätig werden kann, wird es mir möglich, indem ich mich selbst bestimme...“.

Und nun kritisiert sie Mieke Mosmuller, dass sie den Begriff „Denken“ durch „Erkennen“ ersetzt habe, denn sie fährt fort:

Und weiter mit „die Kategorie des Denkens zu realisieren“.
Ja, was mache ich damit? [...] „Die Kategorie des Denkens“, das kann ich nicht verbessern, das muss bleiben, wie es steht. Hier gibt es kein anderes Wort, das ich gleichbedeutend einfügen könnte. Dem vom Autor vorgeschlagenen Austausch der Wortgruppe „Kategorie des Denkens“ durch „Begriff des Erkennens“ kann ich nicht zustimmen; beide Wortgruppen beinhalten – so meine ich – etwas ganz Verschiedenes. [...]
Das Experiment macht uns deutlich: „Übersetze“ ich Rudolf Steiner in meine eigene, mir geläufige und verständliche Sprache, so komme ich an Grenzen: Eine vollständige „Übersetzung“ ist nicht möglich, da sie immer Elemente des Satzes ausschließen muss. [...] Lesen wir nun, mit diesem verfeinerten Gefühl für Sprache, den Ursprungs-Satz Rudolf Steiners erneut:
„Der Umstand, dass das Ich durch Freiheit sich in Tätig­keit versetzen kann, macht es ihm möglich, aus sich heraus durch Selbstbestimmung die Kategorie des Denkens zu realisieren (...)“ (Rudolf Steiner)


Im nächsten Kapitel schreibt sie dann:

Warum aber verhalten sich Generationen von Menschen, die Rudolf Steiner lesen, über Rudolf Steiner reden und schreiben, immer wieder in derselben Weise? Warum ist es seit jeher absolut selbstverständlich, sein Wort umzuformen? Die „Inhalte“ seiner Sätze anders auszudrücken – und zwar durch die eigenen, doch so viel verständlicheren Sätze? Warum erlebt man bei Rudolf Steiner nicht dasselbe wie bei Goethe zum Beispiel? Warum erlebt man nicht beim Lesen des Satzes
„Der Umstand, dass das Ich durch Freiheit sich in Tätig­keit versetzen kann, macht es ihm möglich, aus sich heraus durch Selbstbestimmung die Kategorie des Denkens zu realisieren, während in der übrigen Welt die Kategorien sich durch objektive Notwendigkeit mit dem ihnen kor­respondierenden Gegebenen verknüpft erweisen.“ (Rudolf Steiner)
dass hier kein Wort verschoben oder ersetzt, kein Komma verstellt oder umgebaut werden kann? Wie kommt man darauf, sich diesem Satz so „frei“ gegenüber zu fühlen, wie man sich jeder x-beliebigen Aussage gegenüber fühlt? Warum erklärt man die Wortfolge beliebig, so dass man sie unbesehen zerstört und eine ganz andere an ihre Stelle setzt? Und zwar ohne ein Gefühl für das Gnadenlose und Ungeheuerliche der eigenen Zerstörung?


Ich habe in meinen Erwiderungen auf Irene Diet ausführlich darauf hingewiesen, wie sie an den Worten klebt, wie sie Rudolf Steiner sogar laut zu lesen empfiehlt. Ich habe gezeigt, wie sie sich in Widersprüche verstrickt und Steiners eigene Worte missversteht bzw. umdeutet.

Und dabei wird dann noch nicht einmal irgendwo ersichtlich, worauf es ihr eigentlich ankommt! Man weiß auch ganz am Ende ihres Buches noch nicht, welchen geistigen Gehalt sie den Worten Rudolf Steiners entnimmt und an ihnen erlebt. Dafür blickt sie hochmütig auf all jene herab, die Rudolf Steiner „nicht verstehen“, und präsentiert sich selbst als diejenige „Eingeweihte“, die es „besser weiß“ – ohne allerdings irgendetwas Genaueres zu sagen.

Und der erschütternde Skandal ist, dass Diet mit ihrer Wort-Manie Mieke Mosmuller bekämpft (ohne sich auch nur ansatzweise Mühe zu geben, sie zu verstehen) und dass sie sich dabei als getreue Hüterin von Rudolf Steiners Wort fühlt.

Der Skandal

Nicht ein Wort darf verändert werden, „kein Wort verschoben oder ersetzt, kein Komma verstellt“!

Und nun lesen wir den Satz, auf den Diet ihre Angriffe auf Mieke Mosmuller aufbaut, bei Rudolf Steiner nach und finden:

Der Umstand, dass das Ich durch Freiheit sich in Tätig­keit versetzen kann, macht es ihm möglich, aus sich heraus durch Selbstbestimmung die Kategorie des Erkennens zu realisieren, während in der übrigen Welt die Ka­tegorien sich durch objektive Notwendigkeit mit dem ihnen korrespondierenden Gegebenen verknüpft erweisen.
GA 3, S. 79.


Mieke Mosmuller zitiert diesen wunderbaren Satz in all ihren Büchern richtig – Irene Diet zitiert ihn in ihrem kleinen Büchlein achtmal falsch!

Auf Seite 17, 19, 22, 23, 24, 25, 29 und 34 – jedes Mal wieder falsch. Ganze zwei Kapitel mit über 15 von insgesamt nur 90 Seiten kreisen unmittelbar um diesen Satz und Diets Angriffe auf Mieke Mosmuller! 

Diet bemerkt ihre eigene Entstellung noch nicht einmal, als sie Rudolf Steiners eigene Worte zitiert, die auf den zitierten Satz folgen:

Das Wesen der freien Selbstbestimmung zu untersuchen, wird die Aufgabe einer auf unsere Erkenntnistheorie gestützten Ethik und Metaphysik sein. Diese werden auch die Frage zu erörtern haben, ob das Ich auch noch andere Ideen außer der Erkenntnis zu realisieren vermag. Daß die Realisierung des Erkennens durch Freiheit geschieht, geht aber aus den oben gemachten Anmerkungen bereits klar hervor.


Halten wir fest:

  • Rudolf Steiner spricht von „Kategorie des Erkennens“.
  • Irene Diet zitiert „Kategorie des Denkens“.
  • Irene Diet kritisiert Mieke Mosmullers Formulierung „Begriff des Erkennens“.

  • Irene Diet behauptet, der Begriff „Kategorie“ könne nicht verändert werden.
  • Rudolf Steiner selbst sagt aber schon im nächsten Satz „Idee der Erkenntnis“ oder sogar nur „Erkennens“.
  • Rudolf Steiner sagt immer wieder „Begriffe und Ideen“, fast synonym. Ideen sind „nur inhaltsvollere, gesättigtere und umfangreichere Begriffe“ (GA 4, S. 57).
  • Rudolf Steiner setzt auch Kategorien und Ideen durchaus gleich: „Die übrigen Kategorien (Ideen) wären auch dann...“ (GA 3, S. 69).


Mieke Mosmuller befindet sich also in voller Übereinstimmung mit Rudolf Steiner. Irene Diet dagegen entstellt Rudolf Steiners Worte und leugnet zugleich reale Übereinstimmungen und Zusammenhänge von Begriffen.

Korrigendum?

Inzwischen soll ihrem Büchlein ein Korrigenda-Zettel beiliegen, in dem Rudolf Steiners Zitat richtiggestellt wird, sie ihr Falschzitat also zugibt. In meiner Bestellung war dieses Korrigendum noch nicht beigelegt (dafür ein ganz anderes, da auf S. 59 eine ganze Zeile verschwunden war).

Wie auch immer: Mit der Richtigstellung von Rudolf Steiners Zitat ist eigentlich das ganze Buch obsolet geworden. Irene Diet muss selbst offenbaren, wie sie mit Steiners Worten umgeht, und zwei Kapitel mit Angriffen auf Mieke Mosmuller erweisen sich als haltlos und böswillig – was sich natürlich nicht auf dem Korrigendum findet, denn man kann ja nicht 15 Seiten berichtigen, zumal man sie eigentlich herausreißen müsste.

Rudolf Steiner sagt in seinem Vortragszyklus „Christus und die menschliche Seele“:

Nehmen Sie einen Menschen, von dem Sie wissen, daß er selber etwas Falsches geschrieben oder gesagt hat, und halten Sie ihm das vor. Sie werden finden, daß er heute in der Regel gar keine Empfin­dung dafür hat, daß das Unrecht ist. Er wird sofort die Ausrede gebrauchen: Ja, ich habe es im guten Glauben gesagt [und ein Korrigendum beilegen, H.N.]. [...] Die Menschen werden immer mehr verstehen lernen, daß man dazu kommen muß, zu wissen, daß das auch wirklich geschehen ist, was man behauptet. Man darf also nur dann etwas sagen oder mitteilen, nachdem man die Ver­pflichtung gefühlt und ausgeführt hat, zu prüfen, ob es auch so ist, zu vergleichen mit den Mitteln, die zu benutzen möglich sind. Erst wenn man dieser Verpflichtung inne wird, kann man die Wahrhaftig­keit als moralischen Impuls empfinden. Dann wird aber niemand mehr sagen, wenn er etwas Unrichtiges in die Welt gesetzt hat: Ich habe es so gemeint, ich habe es im guten Glauben gesagt. Denn er wird lernen, daß man nicht bloß verpflichtet ist, zu sagen, was man als richtig zu erkennen glaubt, sondern daß man verpflichtet ist, nur das zu sagen, was wahr ist, was richtig ist.
30.5.1912, GA 155, S. 118.