2019
NachDenkSeiten und Wutbürgertum
Vom Ernstnehmen einer spirituellen Menschenkunde.
Inhalt
Wachsende Destruktivität
Die Welt retten – oder nur Recht haben?
Das Herz schlägt links – nicht der Kopf
O Mensch – lerne, wieder zu fühlen!
Denken, Fühlen und Wollen
Das Mysterium des Fühlens
Das Geheimnis des Willens
Das Primat der Liebe
Wachsende Destruktivität
Lange habe ich die NachDenkSeiten sehr geschätzt – als eine der wenigen Plattformen, die tiefer blickten. Ist doch ihr Gründer Albrecht Müller gestandenes Urgestein der Sozialdemokratie und hatte unter Willy Brandt den Wahlkampf und später die Planungsabteilung des Kanzleramts geleitet. Die von vielen Lesern täglich mit zusammengetragenen ,Hinweise des Tages’ auf lesenswerte Presse- und andere Berichte sind immer wieder sehr wertvoll, und viele vertiefende Aufsätze ebenso.
Was sich jedoch seit langem abzeichnet, ist eine gewisse Destruktivität der Haltung. Kritik gegen die Medien wird immer unversöhnlicher, ja generalisierter. Man fühlt sich manchmal wie in einer Wagenburg – fast die gesamte Außenwelt der übrigen Medien ist ,einseitig’, gleichsam ,dumm’, ,interessegeleitet’ usw.
Natürlich kann man als Plattform für Hintergrund-Artikel leicht in eine solche Haltung geraten und darin erstarren. Dennoch ist dies weder ein Naturgesetz, noch ist dies fruchtbar.
Die Frage ist doch, was die Welt retten und verändern kann. Offenbar hängen Sozialdemokraten und Linke aller Art noch immer dem Dogma an, dass ,Aufklärung’ dies leisten könne. Aufklärung mag eine notwendige Bedingung sein, die Welt zu verändern – es ist aber keine hinreichende Bedingung. Sie reicht nicht – und kann in ihrer Art sogar zum Problem werden.
Ich hatte mit Herrn Müller vor Jahren bereits einen Austausch deswegen, aber an seinem ,Primat der Aufklärung’ war nicht zu rütteln. Seitdem sind die NachDenkSeiten in ihrer eigenen Haltung nur noch radikaler geworden.
Selten einmal finden sich Aufsätze von Götz Eisenberg, der die Geschehnisse in unserer Gesellschaft oft auf einer viel tieferen, menschlicheren Ebene beschreibt und erlebbar macht. Das sind inzwischen fast so etwas wie Oasen auf den NachDenkSeiten – so erlebe ich es.
Die Welt retten – oder nur Recht haben?
Was will ich damit sagen? Aufklärung allein hilft nicht das Geringste! Sie stößt den Leser auf Probleme – und wenn bereits der Schreiber mit einem unduldsamen, rechthaberischen Impetus auftritt, wird sich dies auf den Leser übertragen. Der Leser wird so in gewisser Weise zum Wutbürger – weil es bereits der Autor war, vielleicht ohne es zu merken. Allein die Entlarvung von ,Missständen’ und ,Übeltätern’ (zum Beispiel die gesamte übrige Presse) kann bereits eine intensive innere Befriedigung verschaffen. Man entlarvt nicht nur die ,Bösen’, sondern ist selbst der ,Gute’.
Dasselbe denken auch (andere) Wutbürger. Sie wählen die AfD, weil sie auf keinerlei Alternative mehr ,Lust haben’. Die LINKE und linksgerichtete Online-Plattformen können zwar aufklären – aber wozu die LINKE wählen, wenn die NachDenkSeiten zeigen, wie schlimm alles ist, und zwar mit einem Impetus, der die Abneigung gegen das ganze ,Establishment’ fast schon mitliefert? Wozu dann noch eine zahme LINKE wählen, die nicht einmal mehr das Niveau eines Haustigers hat – dann doch lieber gleich die ,echte’ Alternative: AfD! Man verstehe mich nicht falsch. Die NachDenkSeiten stehen ganz auf der Seite der LINKEN – aber die Art, wie dort manchmal geschrieben wird und wie Kritik auf Kritik gehäuft wird, kann mitunter fatal an das dumpfe, rechthaberische Wutbürgertum der AfD erinnern!
Der Unterschied ist einfach, dass die LINKE die Welt noch verändern will (zumindest offiziell, Sahra Wagenknecht wollte es wirklich noch) – während man bei den NachDenkSeiten oftmals das Gefühl bekommt, es reiche ihnen anzuklagen. Dieses Gefühl hat man auch bei verlorenen Existenzen, die mit der Bierflasche in der Hand auf die Ausländer und ,die da oben’ schimpfen. Sie wollen und können ihr eigenes Leben gar nicht mehr ändern – aber das macht auch gar nichts, es reicht ja, gegen die übrige Welt zu ,hassen’ – dann hat man kurzfristig immer seine psychische und hormonelle Befriedigung, dass man ja als Einziger weiß, wie ,scheiße’ alle anderen sind. (Aber das Wutbürgertum hat gar nicht unbedingt immer mit sozialem Abgehängtsein zu tun – selbst gut situierte Bürger wählen die AfD, es hat auch mit arrogantem ,Sattsein’ und ,frei flottierender Unzufriedenheit und Antipathie’ zu tun).
Ein Götz Eisenberg, der das Erleben des gesellschaftlichen Ist-Zustandes noch auf einer ganz anderen Ebene ermöglichen will, steht einsam und allein auf den NachDenkSeiten. Seine Aufsätze alle paar Monate können die Richtung der NachDenkSeiten nicht ändern. Eisenberg will Menschen wirklich noch auf menschlicher Ebene erreichen – und es gelingt ihm auch unmittelbar. Seine Aufsätze erreichen das Gefühl und machen auf diese Weise wirklich betroffen. Die übrigen Aufsätze erreichen in der Regel nur den Intellekt – und von hier aus öffnen sich zwei Wege: entweder in bloß intellektuelle Betroffenheit oder in überhaupt keine Betroffenheit, sondern Wutbürgertum. Die Grenzen sind fließend.
Ich habe den NachDenkSeiten in der Vergangenheit für ihre ,Hinweise des Tages’ mehrmals Links zu meinen Aufsätzen zum Zeitgeschehen geschickt – vergeblich. Nichts davon wurde je erwähnt:
05.02.19 Selbstmord einer Schülerin. Zur Pathologie von Schule und Gesellschaft – weit über Mobbing hinaus.
11.02.19 Von glücklichen Kubanern und abgehängten Gelbwesten. Zur Pathologie der Gesellschaft.
22.02.19 Wenn selbst der IWF gezwungen ist, sich der Wahrheit zu nähern. Verkehrte Welt und ein bleibender Götze.
23.02.19 Die Klima-Katastrophe – physisch und seelisch-geistig
12.03.19 Ein schwarzer Tag für die Politik. Zum Rücktritt von Sahra Wagenknecht.
06.08.19 Erden-Liebe zwischen Wahrhaftigkeit und korrumpierenden Dogmen - Offener Brief an einen „Spiegel“-Journalisten.
Der letzte Aufsatz wandte sich an einen ,Spiegel’-Journalisten, der für kurze Momente in Delhi ein existenzielles Erleben hatte – und dies sogar aufrichtig beschreibt. Ich habe versucht, erlebbar zu machen, was die Essenz solcher Erlebnisse ist – und dass es um nichts anderes geht als darum, diese Ebene des Erlebens nicht wieder zu verdrängen.
Auch Götz Eisenberg versucht, diese Ebene der Seele zu berühren. Man spürt, dass er selbst nicht nur aus der intellektuellen, sondern einer anderen Ebene heraus schreibt. Kann es sein, dass die übrigen NachDenkSeiten daran arbeiten, diese Ebene zu verdrängen, ja sie auszurotten?
Das Herz schlägt links – nicht der Kopf
Am 30. Juli schrieb ich Herrn Müller:
Lieber Herr Müller, der Artikel "Eine Schutzimpfung gegen Establishment-Schwachsinn" geht ganz in die richtige Richtung – vom Ansatz her. Dennoch bleibt er intellektuell. Er will sich wieder den Blick der Kinder aneignen – aber bleibt doch ganz im erwachsenen Kopfdenken. Auf diese Weise werden die Herzen der Menschen nicht wirklich andere. Tendenziell kommt man so nur zu neuen Wutbürgern – ein Teufelskreis, aber kein Ausweg.
Ich kann Ihnen nur einmal mein Büchlein "Vom Blick des Mädchens" (2018) empfehlen. Dort wird wirklich ins Zentrum gegangen. Erst dort wird der Blick wieder wirklich unschuldig – und erst dieser Blick sieht wirklich. Alles Andere sind Gedankenkämpfe, die die Herzen doch nur weiter verhärten. Und die Welt wird sich nicht ändern. Das wird sie erst tun, wenn die Herzen wieder anders brennen werden. Mädchen wie Greta Thunberg sind schon ein Anfang.
Um den Blick der Kinder und auch der Mädchen geht es – denn sie können noch fühlen. Erwachsene verlieren dies und werfen es auch aktiv von sich, auch die intellektuelle Linke. Und was bleibt dann übrig? Analysen, Debatten, Flügelkämpfe – sinnloses Sich-Zerfleischen und sinnlose ,Aufklärung’, Kraftausdrücke (,Establishment-Schwachsinn’) und das Lustgefühl ,Recht zu haben’. Aber was ist alle Aufklärung und überhaupt alles wert, wenn es nicht mehr die Herzen erreicht – oder wenn man aus dem Herzen eine Mördergrube macht und ... Wutbürger wird?
Der ach so intellektuelle politische Linke hält sich für die Spitze der Avantgarde – und lächelt nur amüsiert über die Bemerkung, er könne von einem Kind oder einem Mädchen noch etwas lernen. Wenn er aber nicht begreift, dass er das Wesentlichste verraten hat, was den Menschen ausmacht, nämlich nicht seinen Kopf, sondern sein Herz, dann ist er verloren. Auch hartherzige Manager haben Köpfe – und es ist nicht so sehr die ,Vernunft’, die den Linken auf der anderen Seite stehen lässt. Aber was hilft das, wenn dieser Linke seinen eigenen Ursprung verleugnet und verrät?
Das Herz schlägt links – aber in dem intellektuellen Linken wird es noch immer verleugnet. Er ist stolz auf seine Analysefähigkeiten, auf Strategie und Taktik, auf sein Erkennen der gesellschaftlichen Widersprüche. Aber wenn er nicht erkennt, was ihn im Innersten auf die menschliche Seite stellt, hat er diese menschliche Seite selbst auch schon ein ganzes Stück weit verloren. Und wird sogar zu ihrem Verräter, wenn er nicht bereit ist, zu erkennen, dass das Menschliche immer nur über das Herz gefunden, gewonnen und bewahrt werden kann.
Der Linke kommt vom Herzen, geht irgendwo vom Herzen aus, oft aber ganz unbewusst – und bewegt sich zugleich vom Herzen weg, nämlich in den bloßen Intellekt hinein. Dies ist der Sündenfall auch der Linken. Sahra Wagenknecht hat diesen Sündenfall nie mitgemacht. Ihr hat man das innere Feuer immer abgenommen, denn es war wahrhaftig – egal, wie kämpferisch und konfrontativ sie auftrat. Das Menschliche war bei ihr in jedem einzelnen Moment zu spüren. Dieses Menschliche war zugleich eins und gleichbedeutend mit dem unmittelbaren Ansprechen des Menschlichen im anderen. So ist es auch bei Götz Eisenberg. So ist es jedoch nicht bei den anderen. Und das ist der Kern des Problems.
Diese Welt geht an einem Mangel an Empfindung zugrunde. Wir sind dominiert von dem Dogma der Vorrangigkeit des Intellekts. Aber die Aufklärung war zugleich die Geburtsstunde des Materialismus und der Ausbeutung von Natur und Mensch. Nicht, dass es Dominanz und Ausbeutung nicht schon vorher gegeben hätte – aber nun wurde sie perfektioniert. Und Herz und Seele gerieten immer mehr in den Hintergrund.
Man muss sich doch einmal fragen, woher das zeitlose, unvermindert Berührende etwa des ,Kleinen Prinzen’ rührt. Es rührt eben daher, dass dieses Werk rührt und berührt. Es berührt das Herz – und das Herz ist dasjenige, was wirklich begreift. Es begreift, weil es fühlt. Und alles andere ist kein wirkliches Begreifen, sondern nur ein unfruchtbares Erkennen gewisser Dinge und Tatsachen. Wo das Herz kalt bleibt, ist man kein Mensch. Wo das Herz kalt wird, ist man auch kein Mensch. Wo das Herz nicht die Führung übernimmt, ist man auch noch immer kein wahrer Mensch. Solange das Herz noch vom Intellekt dominiert wird, ist das Menschliche selbst noch dominiert und unterdrückt. Der Intellekt selbst ist herzlos und unmenschlich – er mag noch so sehr anderes behaupten. Erst die Führung des Herzens würde alles menschlich machen – sogar den Intellekt. Von sich aus ist er es nicht.
O Mensch – lerne, wieder zu fühlen!
Wer als intellektueller Linker oder Sozialdemokrat noch nicht begreift, was er von einem Mädchen lernen kann, der hat die Welt noch nicht verstanden. Und auch nicht das, was ,die Welt im Innersten zusammenhält’.
Wer nicht bereit ist, von einem Mädchen zu lernen, was es heißt, Herz zu haben, der mag über seine Intellektualität und sein ,Stehen auf der richtigen Seite’ noch so stolz sein – es kann sein, dass er unvermerkt über einem Abgrund tanzt und mit seinen ganzen Äußerungen nur noch (oder vor allem) das Wutbürgertum nährt. Weil er längst auch das eigene Herz vergessen und verraten hat, aufgefressen von intellektuellem Kopfstolz und Superioritäts-Phantasien. Ach, die böse Presse! Ach, die bösen, dummen, unfähigen Politiker!
Im Kopf eines Linksintellektuellen gibt es nichts Positives. Und das einzig Positive, seine Herzensgründe, lässt er auch nicht sprechen. So wird er Sprachrohr fruchtloser Anklagen und Polemiken – und nährt das Fruchtlose, Polemische, Wütende. Ohne es zu merken, ist er längst Wutbürger geworden – und nährt jene, die ihn in der Aggressivität noch überflügeln werden.
Was ist demgegenüber die Botschaft des Mädchens? O Mensch – lerne, wieder zu fühlen! Nicht umsonst habe ich vorgestern den Film ,Macquia’ so enthusiastisch besprochen. Nicht weil er unterhaltsam wäre, nein – sondern weil auch in ihm die absolute, die tiefste Essenz des Menschlichen zu finden ist. O Mensch – lerne, wieder zu fühlen! Oder willst du, dass die Welt untergeht? Willst du einfach nur Recht behalten haben – oder willst du die Welt retten? Dann habe auch den Mut, das Rettende zu erkennen. Es ist nicht der Intellekt...
Das ist für die Intellektuellen natürlich eine unerwünschte, vielleicht sogar verhasste Botschaft. Deswegen werden sie sich auch kaum ändern – dann aber umso mehr auf der falschen Seite stehen, weil sie es nun wissen könnten. Sie können sich vielleicht nicht vorstellen, wie man mit Herz und Seele schreibt – aber Menschen wie Götz Eisenberg machen es ja vor. Wenn man dies selber nicht kann, liegt dies nur daran, dass man die innere Einstellung nicht wahrmacht – es ist zunächst vielleicht Unfähigkeit, mehr aber Unwille. Man will es nicht! Man ist stolz auf seinen Intellekt, dieser will sich produzieren, in Rechthaben, in analytischer Überlegenheit. Man will die Welt nicht retten – man will einfach nur ,die Schuldigen’ festnageln.
Die NachDenkSeiten könnten die Probe aufs Exempel machen. Sie könnten auch vermehrt Artikel bringen, die nicht den Intellekt, sondern das Herz ansprechen – die also nicht potenziell das Wutbürgertum nähren, sondern ein aufrichtiges Betroffensein, ein wieder immer menschlicheres Fühlenkönnen. Und dann sehen, welche Reaktionen kommen. Viele Menschen sehnen sich nach nichts so sehr wie nach mehr Menschlichkeit – wenn sie es noch können: sich danach zu sehnen. Der Wutbürger ist in einer schrecklichen Einbahnstraße gefangen und wird hier kaum noch umkehren. Es gibt aber genügend Menschen, die in ihrem Innersten spüren, dass all das Intellektuelle einfach nur eines ist: unfruchtbar.
Fruchtbar ist einzig und allein eines: wieder die Herzen sprechen lassen. Sie auch die Gedanken bilden lassen – bis in die Worte hinein. Das wäre die Rettung. Die einzige. Goethe schrieb einmal: ,Es ist mit Meinungen, die man wagt, wie mit Steinen, die man voran im Brette bewegt; sie können geschlagen werden, aber sie haben ein Spiel eingeleitet, das gewonnen wird.’ Dies gilt umso mehr von allen Gedanken und Empfindungen des Herzens. Das Herz rettet die Welt – oder sie wird nicht gerettet werden. Man mache sich mit vollem Ernst diese Wahrheit bewusst...
Denken, Fühlen und Wollen
Die menschliche Seele ist dreigliedrig: Sie denkt, sie fühlt und sie will. Noch keine Befreiungsbewegung hat wirklich ernst mit dem gemacht, was dies heißt.
Das Denken kann Realitäten erkennen. Er kann sie einordnen, kategorisieren, begrifflich ordnen und auf einen Begriff bringen, analysieren. Erkennen bedeutet, etwas auf seinen Begriff zu bringen.
Linke Bewegungen bringen alles tausendfach auf Begriffe. Das ist auch der Sinn von ,Aufklärung’. Aufklärung dient jedem, der nicht von allein die notwendigen Begriffe fassen kann, um zu Erkenntnissen zu kommen. Man kann über konkrete und über allgemeine Missstände aufklären – und dann ist man (als ,Empfänger’ der Aufklärung) aufgeklärt, weiß Bescheid. Das Ziel der Aufklärung ist erreicht. Die Missstände sind erkannt. Die Aufgabe des Denkens ist in Bezug auf die Aufklärung beendet, erst recht, wenn die Alternative gleich mit-gedacht wurde.
Aber das Denken hat für sich nichts mit dem Seelenganzen zu tun. Wenn ich Missstände, Ungerechtigkeiten, drohende Zukunftsszenarien etc. nur denke, kann ich noch immer völlig unbeteiligt bleiben. Für das Denken macht es keinen Unterschied, ob eine Schachfigur bewegt wird oder ob die ganze Erde ein Schachbrett wird. Ob eine neue Eissorte erfunden wird oder die Atombombe. Ob morgen die Sonne scheinen wird – oder die Welt untergehen. Dem Denken ist dies egal – es kann die Dinge erkennen ... und nimmt sie eben zur Kenntnis. Der zu Ende gekommene Prozess des Erkenntnisvorgangs ist als solcher befriedigend, das Ergebnis an sich interessiert nur als Erkenntnis-Datum, und alle Daten sind im Prinzip gleichwertig, es sind eben Daten, Erkenntnisse.
Daran kann man die Kurzsichtigkeit der Aufklärer erkennen – denn sie bewegen sich fast nur auf dieser Ebene. Und wundern sich dann, warum die mit Aufklärung ,Beglückten’ so untätig bleiben. Wie kann man etwas anderes erwarten – hat man doch nur eines angesprochen ... ihren Kopf! Die ganzen Aufklärungsschriften, die Aufsätze, die Hintergrundartikel, das alles sind Kopfgeburten, die ihrerseits wiederum nur andere Köpfe ansprechen. Der Kopf wird aufgeklärt, gleichsam an- und abgefüllt mit Aufklärung – vielleicht so lange, bis er die Sache ,satt’ hat … und schlicht und einfach aufhört, sich zu informieren, denn wozu das alles? Man weiß eh schon mehr als genug. Man zieht einen Schlussstrich und lässt die NachDenkSeiten NachDenkSeiten sein. Wozu soll man ständig neue Informationen aufnehmen? Es ist sinnlos. Schlicht und einfach sinnlos.
Unzählige Menschen kommen an diesen Punkt. Sie werden es einfach müde. Mit Recht.
Der sogenannte Primat des ,Denkens’, den die Aufklärer mit bisweilen so (unsichtbar) stolzgeschwellter Brust vor sich hertragen ist nichts weiter als … ermüdend. Er wendet sich an das Denken, und mit der Zeit erkennen die Seelen, wie sinnlos das ist. Und sie wenden sich ab. Das Denken hat keinen Bedarf mehr, ständig neue Dinge zu erkennen. Wozu auch?
Eine unmittelbare Verwandtschaft hat das hier Besprochene mit der ,Aufklärung’ in einem anderen Sinne – der sogenannten Sexualkunde. Der junge Mensch kann noch so viele Informationen bekommen und noch so aufgeklärt werden, es macht ihn in keiner Weise glücklicher. Aufklärung ist so gesehen eine sinnlose Schimäre, die die ganzheitliche Seele geradezu verleugnet. Rationale Aufklärung ist ein Verrat an der Seele.
Das Mysterium des Fühlens
Erst da, wo das Fühlen beginnt, bekommen die Dinge und Tatsachen, die Wesen und Geschehnisse Bedeutung für mich. Denkend ist alles ein Element für mein Erkennen, aber das war es dann auch. Fühlend hat alles unmittelbar Bedeutung für mich, mich als Ganzes, für meine Seele, mein Sein, meine Existenz. Erst das Fühlen macht etwas existenziell. Und wo nicht mehr gefühlt wird, ist nichts mehr existenziell – schlichtweg nichts.
Wer als Aufklärer leugnet, dass das Fühlen eine zentrale Bedeutung hat, weil es allem erst Bedeutung gibt, der ist selbst noch nicht aufgeklärt – über die grundlegendsten Wahrheiten der Seele.
Der Linksintellektuelle kann sagen: ,Was soll das ,Fühlen’? Die Leute sollen aus ihrem Subjektiven heraus und begreifen!’ Aber dann begreift er in seinem ganzen Hochmut nicht, dass das Fühlen auch jenseits von subjektiv-objektiv lebt und das Denken diese Kategorien erst schafft und mitunter völlig falsch anwendet. Das Fühlen ist nicht einfach subjektiv, so wie auch das ,Subjekt’, nämlich das Ich, nicht einfach subjektiv ist, sondern eine Realität – und das Fühlen verbindet diese Realität, nämlich mich, mit der übrigen Realität. Erst das Fühlen.
Dieser Linksintellektuelle fühlt ja auch – nur verdrängt er das fortwährend. Aber er fühlt zum Beispiel die Ungerechtigkeit in der Welt – sonst wäre er kein Linker. Es wäre eine Lüge und ein Selbstbetrug, würde er sagen, er ,erkennt’ die Ungerechtigkeit nur und das wäre alles. Der Linke hat eine Art Abneigung oder sogar Hass gegen dieses ganze ,subjektive Fühlen’ – aber er basiert ganz und gar darauf. Würde er die Ungerechtigkeit nicht fühlen, wäre er kein Linker – so einfach ist das. Erkennen tut die Ungerechtigkeit auch der Reiche oft genug, daran liegt es also nicht.
Der Linke lehnt das ,Fühlen’ auch deshalb ab, weil er glaubt, dass das ,Subjektive’ keine ,objektive Analyse’ zuließe – und dass ,weichliche Gefühlsduselei’ auch vom Handeln ablenken würde, überhaupt von knallharter Konfrontation mit den Mächten des Bösen (sprich: Profit, Kapital etc.).
Was aber, wenn das ganze ,Denken’ (sprich: Aufklärung, Analyse etc.) noch viel mehr vom Handeln ablenkt? Nicht ihn, den ,Aufklärer’, aber die meisten anderen? Was, wenn die Aufklärung keinen Strom schafft, sondern sich selbst das Wasser gerade abgräbt?
Ohne das Fühlen ist nichts von dem denkbar, was einen Menschen menschlich macht – keine Betroffenheit, kein Mitleid, kein Leiden und Mit-Leiden, kein Committment. Ohne das Fühlen steht man mit leeren Händen da – der Kopf kann noch so voll sein, aber der Rest ist eine leere Hülle, denn das Herz ist gar nicht da, ist nicht involviert. Es bleibt herzlos.
Darum ist es sinnlos, mit Schiffen in See zu stechen, wenn gar keine Sehnsucht nach dem Meer existiert. Ohne die Sehnsucht werden die Schiffe nicht einmal gebaut werden. St. Exupéry hat das erkannt.
Das Geheimnis des Willens
Erst über das zentrale Reich der Seele, das Fühlen, wird auch das tiefste und geheimnisvollste Gebiet erreicht: der Wille.
Die Aufklärer setzten Fühlen und Wollen voraus und wollen hochmütig über bloße Aufklärung andere Menschen ,in die Tat bringen’. Das funktioniert heute nicht mehr. Früher war dies vielleicht möglich, weil die Menschen noch existenziell mit allen Lebensvorgängen verbunden waren – und ihnen die Kräfte des Fühlens und Wollens noch urwüchsig zur Verfügung standen, wodurch die Menschen von ihnen aber auch mitgerissen werden konnten (man denke etwa an die Schrecken der Revolutionen!).
Heute ist der Mensch bis in exzessive Extreme abgelenkt von seinen eigenen Seelenregungen – und sind diese sehr weitgehend korrumpiert. Wozu soll man sich für die Welt oder ihre Rettung interessieren, wenn man stattdessen in den nächsten Kinofilm gehen kann – und ,die Sintflut eh nicht mehr erlebt’? Heute kann der Mensch an ,Pokémon 7’ mehr Gefühle haben als an der Nachricht bedrohtester Lebensgrundlagen.
Dass dies alles im Grunde perverse Krankheitssymptome der Seele selbst sind, müsste jeder Mensch eigentlich empfinden können – auch der Betroffene könnte erkennen, wie absurd dies eigentlich ist. Trotzdem kann er das wahre Empfinden längst völlig verloren haben – und einfach nur staunend feststellen, dass ihm ein kurzer Ego-Genuss mehr bedeutet als die gesamte Menschheitszukunft.
Das Fühlen ist bis zur Perversität erkrankt. Aber aus dem Fühlen speist sich der Wille. Und ist das Fühlen krank, geht ein entsprechender Wille daraus hervor – nämlich zum Beispiel einer, der es gerade noch zum nächsten Kino schafft, aber nicht mehr zu irgendeiner politischen Aktivität. Wozu, wenn einem die Zukunft nichts bedeutet, weil man an ihrer Bedrohung nichts empfindet? Selbst mancher Linker ist ja nur noch gewohnheitsmäßig aktiv und würde, wenn er sich aufrichtig befragt, gestehen müssen, dass er eigentlich nicht mehr viel empfindet.
So kommen dann auch die ,Wutbürger’ zustande. Sie empfinden wenig – außer ihrem eigenen Ego-Trip und ihr eventuelles ,Abgehängtsein’, wobei sie ihr Selbstmitleid sofort in Hass nach außen projizieren und sich daran innerlich befriedigen. Hass gegen alles andere, gegen ,die da oben’, gegen ,die Ausländer’ etc. Mit Bierbauch- und Konsumenten-Mentalität explodiert die eigene innere Leere in Hassbewegungen nach außen. Das antipathische Gefühl, das im Grunde ein Gefühls-Vakuum ist, entlädt sich in Willenshandlungen, die im Grunde auch ein Willens-Vakuum sind, sich erschöpfen in dumpfen Protesten, Protestwahlen und Hass. Innere Leere wird zu äußerer Destruktivität. Innerer Mangel an echten Visionen eines gesellschaftlichen Zusammenlebens wird zu dumpfen Forderungen nach ,Law and Order’ und der ,guten alten Zeit’, wo es noch ,keine Ausländer’ gab oder man mit ihnen ,kurzen Prozess’ gemacht hat.
Wenn auch nicht jeder ,Wutbürger’ bereits dieses Degenerationsstadium des Seelischen erreicht hat, mag doch deutlich sein, wie der Weg verläuft.
Das Primat der Liebe
Was folgt nun daraus – aus alledem? Es folgt daraus, dass die Aufklärung ihr Primat längst verloren hat, wenn sie es denn je hatte.
Aufklärung hat keinerlei Sinn, wenn sie nicht die Liebe in der Welt vermehrt. Selbstverständlich kann man mit Liebe keine Diktatoren stürzen – aber wir leben nicht in Nordkorea, sondern in Mitteleuropa. Der Kapitalismus etwa ist durch Aufklärung nicht zu stürzen – sondern nur durch Liebe. Die ,Aufklärer’ haben das noch nicht erkannt.
Wir haben längst ein Stadium erreicht, wo Aufklärung Wutbürger produziert. Die Seelen sind so verarmt, dass Aufklärung nicht mehr ,Linksintellektuelle’ hervorbringt (was auch schon eine Verarmung ist), sondern Wutbürger! Eine linke Bewegung, die dieses Problem nicht erkennt, ist keine linke Bewegung. Sie muss nicht nur die kapitalistischen Verhältnisse analysieren, sondern auch die veränderten Bedingungen des Seelenlebens, die veränderte Realität der Seele selbst. Und diese Analyse muss dann andere Strategien zur Folge haben. Das ist allerdings die linke Rhetorik, die in sich schon gefühlsentleert ist. In Wirklichkeit geht es nicht um ,Strategien’, sondern um vollmenschliche Erkenntnisse und Herzensimpulse, die eine andere Richtung als früher haben müssen.
Bleibt man dem alten, überholten Aufklärungs-Gedanken verhaftet, kann man sich noch die persönliche Befriedigung auf die Fahne schreiben, aber nicht mehr. Man hat kein Recht, die ,Empfänger’ der Aufklärung zu verachten, wenn sie die ,Beglückung’ nicht mehr dankbar und fruchtbar entgegennehmen. Denn die Aufklärung selbst ist nicht mehr fruchtbar. Fruchtbar ist heute nur noch dasjenige, was auch und vor allem das Fühlen anspricht. Das ist die goldene Regel der Zukunft:
Bei jedem Element, über das du aufklären willst, frage dich dreimal, wie du das Herz des Lesers erreichen kannst – und dann tue dies...!
Man beende seine fruchtlosen Bemühungen der Aufklärung und beginne endlich mit der eigentlichen Arbeit, die nämlich viel anstrengender ist: das Erreichen der Herzen.
Das Ziel kann heute nicht mehr sein, nur die ,Machtverhältnisse’ zu ändern. Es müssen die Machtverhältnisse in der Seele selbst verändert werden. Das Denken muss seine Diktatur abgeben – und dem Fühlen endlich das gleichberechtigte Mitleben ermöglichen, so lange, bis das Fühlen seine sanfte Herrschaft übernehmen wird.
Wenn dies einst geschehen wird, dann wird der Kapitalismus zu Ende gehen. Vorher nicht. Und Greta ist ein erster leiser Anfang, das Primat des Denkens zu durchbrechen. Greta denkt nicht – sie fühlt. Und gerade deswegen kann sie weiter denken als jeder andere – und tiefer wollen.
O Mensch – lerne, wieder zu fühlen!