10.02.2008

Judith von Halle versus Rudolf Steiner

Buchbesprechung: Mieke Mosmuller: Stigmata und Geist-Erkenntnis. Judith von Halle versus Rudolf Steiner. Occident, 2008 (264 S., 18,50€). | Auszüge.

Dieser Aufsatz ist vom „Goetheanum“ abgelehnt worden. Siehe dazu meine Korrespondenz mit dem Redakteur und meinen Aufsatz „Anthroposophie und journalistische Standards?“

Viele Menschen sprechen über Judith von Halle, kennen ihre Bücher, haben sie gelesen. Und die Frage stellt sich: Hat man es mit einer Eingeweihten zu tun? Mit jemandem, der die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners ergänzt und erweitert? – Die niederländische Anthroposophin Mieke Mosmuller hat sich geisteswissenschaftlich mit den Büchern von Judith von Halle auseinandergesetzt. In ihrem eigenen Buch: „Stigmata und Geisterkenntnis. Judith von Halle versus Rudolf Steiner“ belegt sie ausführlich, wie jene Bücher und die darin enthaltenen „Erkenntnisse“ mit Anthroposophie oder esoterischem Christentum nichts zu tun haben.


Judith von Halle trägt nach eigenen Angaben seit Ostern 2004 Stigmata und erlebt seitdem jeden Freitag die Ereignisse der Zeitenwende mit, den Tod und die Auferstehung Christi. Seit 2005 („Und wäre er nicht auferstanden...“) veröffentlichte sie sieben Bücher über ihre Schauungen – erschienen im Verlag am Goetheanum. 

Der zentrale Ansatzpunkt von Mieke Mosmuller ist die Frage, was sich bei dem unbefangenen Mitdenken mit den Worten Judith von Halles zeigt – und bei dem Vergleich mit den Schilderungen von Rudolf Steiner. Die Autorin zieht beidseits umfangreiche Zitate heran und weist nach, wie Judith von Halle Erkenntnisse Steiners benutzt, um eigene Aussagen zu stützen, wobei sie aber Steiners Erkenntnisse derart verdreht und missversteht, dass man von einer völligen Irreführung sprechen muss.

Das Grundproblem ist die von Judith von Halle beanspruchte sinnliche Wahrnehmung der Ereignisse der Zeitenwende und ihre Behauptung, dass ihr dies durch den Auferstehungsleib, das Phantom, möglich sei. Dieser Behauptung hält Mieke Mosmuller ausführliche Darstellungen über das Phantom entgegen, in denen sie – auf der Grundlage ihres eigenen jahrzehntelangen Schulungsweges – zeigt, dass mit diesem rein geistigen Urbild des physischen Leibes rein geistig wahrgenommen wird. Und ihrem Buch stellt sie als Motto den folgenden Satz Rudolf Steiners voran: ‚Alles, was sich noch so zeigt, wie in der physischen Welt, ist eben Vision.' (GA 227).

Mieke Mosmuller weist darauf hin, dass der Geistesschüler sein Denken innerlich so stark machen muss, dass dieses in sich die Kraft der Wahrheit selbst aufnimmt und das Wahre vom Unwahren von innen her unterscheiden lernt: Das Mitdenken von Gedanken anderer wird dann ganz konkret als möglich oder eben als unmöglich, ja krankmachend erlebt – etwa bei der Vorstellung, Christus habe vor dem Abendmahl eigenhändig zwei Lämmer geschächtet.

Neben den inhaltlichen Widersprüchen zu den Darstellungen Rudolf Steiners weist Mieke Mosmuller auch auf die Art und Weise hin, wie Judith von Halle ihre Erkenntnisse schildert: Über das Größte und Heiligste wird scheinbar objektiv, in Wahrheit aber mit einem subtilen Hochmut gesprochen, ohne jede Scheu oder Verehrung – auch wenn sie wiederholt das Gegenteil beteuert.

Die sinnlichen Schilderungen der Zeitenwende durch Judith von Halle sind Folge eines viel zu sinnlichen Denkens, das vom Wesen wirklich geistiger Erkenntnis nichts ahnt. Dies zeigt sich zum Beispiel, wenn sie behauptet, zur Zeitenwende begann der Ätherleib zu sklerotisieren (!) und die Physiognomie etwa der Peiniger des Christus zu „vertieren“, was einige Renaissance-Maler aufgegriffen hätten. Dass es sich hier um Imaginationen für deren niederes Seelenleben handelt, kann Judith von Halle nicht begreifen.

Versinnlichte Schilderungen, die das Geistige zerstören

Diese versinnlichten Schilderungen erstrecken sich bis auf Vorgänge, die wenn überhaupt geistig wären. Angeblich hätten auf dem Kreuzweg Diener der Elohim das Ätherische der Absonderungen, von Hautfetzen, Blut und Schweiß des Christus „aufgesammelt“ und damit die Folterwunden wieder „aufgefüllt“, damit dem Auferstehungsleib nichts fehle! Der Ätherleib Christi braucht aber keinerlei Heilung, denn er ist die Zusammenfassung aller Heilkräfte, und die Hierarchien sind ein Teil dessen. Auch die heilige Leibesform des Phantom wurde durch die Folterungen gar nicht berührt.

Mieke Mosmuller weist detailliert nach, wie Judith von Halle an verschiedensten Stellen in bezug auf die spirituelle Menschenkunde und andere Fragen in Widerspruch zu Steiners Schilderungen steht – auf den sie sich doch stützen will. Immer sind ihre Schilderungen zu sinnlich, zu oberflächlich oder in anderer Weise einfach falsch. An mehreren Stellen macht die Autorin deutlich, dass sie nur die wichtigsten Widersprüche aufzeigt, obwohl man zu jedem Absatz etwas sagen müsste (dann aber würde ihr Buch einige Bände umfassen müssen).

Nun könnte man die Werke Judith von Halles einfach beiseitelegen, doch Mieke Mosmuller weist noch auf einen weiteren Punkt hin: Wenn man all diese sinnlichen Schilderungen – bis hin zu exakten Beschreibungen der angeblichen Ereignisse um die Folterungen und die Kreuzigung Jesu – mit dem Lesen aufgenommen hat, wirken diese natürlich in einem fort. Und es braucht größte Mühe und energischste Konzentration, um sich in der eigenen Meditation wieder davon zu lösen! Judith von Halles „religiös-materialistische“ Schilderungen zerstören und verhindern geradezu die zarten geistigen Erlebnisse, die man haben kann, wenn man sich meditativ dem Mysterium von Golgatha oder auch anderen Geistesinhalten zuwendet, um sich der geistigen Welt und dem Christus-Wesen zu nähern!

Rudolf Steiner schildert eindrücklich, wie es gerade zu den jesuitischen Exerzitien gehörte, sich alle Stationen des Jesuslebens sinnlich auszumalen – und wie dies ganz direkt auf den Willen wirkte. Dies steht in stärkstem Widerspruch zum Rosenkreuzerweg und zur Anthroposophie. Rudolf Steiner schilderte über viele Jahre hinweg zunächst nur den Erkenntnisweg der Geisteswissenschaft und teilte auf dieser Grundlage in freier Weise seine geistigen Erkenntnisse mit, die sich ganz an das verstehende Denken der Menschen wenden. Und gerade dem Leiden Christi kann man sich nicht direkt nähern. Man findet durch die Schilderungen von Judith von Halle einen Götzen – nicht den Menschensohn. Die siebenstufige christliche Einweihung hat – wenn man sie gehen wollte – einen vollständig anderen Charakter.

Die wahre Geisteswissenschaft – ein Aufruf

Trotz all dieser Widersprüche stellt sich Judith von Halle – unterstützt durch Peter Tradowsky – selbst als Eingeweihte dar: Sie sei Trägerin des Auferstehungsleibes, habe die „Kontinuität des Bewusstseins“ und Erlebnisse „jenseits der Schwelle zur geistigen Welt“. Und natürlich würden ihre Erkenntnisse „wie Puzzle-Teile mit den von Rudolf Steiner gemachten Aussagen“ zusammenpassen. All diese Aussagen und natürlich die Tatsache der Stigmata – durch die sich angeblich Christus selbst offenbaren will – bewirken eine ungeheure Autorität. Im Grunde soll hier etwas (die Wahrheit ihrer Aussagen) bewiesen werden durch etwas anderes, was nicht bewiesen werden will und kann. Judith von Halle: „Es tritt zwar etwas vor Sie hin – und ich erlaube mir zu sagen, dass die geistige Welt eine solche, sichtbare Demonstration ihrer selbst sicherlich nicht für die einzelne betroffene Person, sondern für die Umgebung dieser Person hinstellt –, aber es zwingt Sie zu nichts.“ Welche Unwahrhaftigkeit! Das Denken der Bewusstseinsseele – wenn es seine Freiheit bewahren will – muss von alledem absehen und nur den Inhalt und die Art und Weise ihrer übrigen Aussagen miterleben – und danach über Wahrheit und Wert urteilen.

Mieke Mosmuller weist darauf hin, wie das Phantom tatsächlich die Einweihung im christlichen Sinne verleiht. Deren Merkmale sind aber unter anderem Freiheit (Einweihungs-Erkenntnisse überkommen einen nie) und ein weitergebildetes reines, sinnlichkeitsfreies Denken. Aus den detaillierten Ausführungen der Autorin wird klar, dass Judith von Halles Wahrnehmungen gleichzusetzen sind mit Visionen und anderen leibgebundenen, „untersinnlichen“ Wahrnehmungen, die nichts mit dem Auferstehungsleib zu tun haben können.

Im Verlaufe der Auseinandersetzung mit Judith von Halle entwickelt Mieke Mosmuller anhand der Schilderungen Steiners und eigener Erfahrungen eine wahrhaft spirituelle Menschenkunde und zeigt so klar, wie es wohl nirgendwo sonst zu finden ist, das Wesen der anthroposophischen Geisteswissenschaft (und ihren realen Zusammenhang mit dem Auferstehungsleib) auf. Ganz diesem geistigen Erkenntnisweg und dem auf diesem Weg möglichen Christuserleben widmet sie sich in ihrem vor wenigen Monaten erschienenen Buch „Der Heilige Gral“ (siehe die Rezension in der Michaeli-Ausgabe, „Das Goetheanum“ 39/07).

So kann man zu folgendem Schluss kommen: All diesen sinnlichen Wahrnehmungen von Judith von Halle entspricht ein völlig sinnlichkeits-beladenes Denken bzw. ein Denken, das dort, wo es sich um ‚anthroposophische Interpretationen‘ dieser viel zu sinnlichen Wahrnehmungen bemüht, stets wieder in die Irre geht und zu falschen Behauptungen kommt. Deshalb haben die Wahrnehmungen für jedwede geistige oder sonstwie christliche Entwicklung keinerlei Wert und verhindern diese Entwicklung aus den immer wieder beschriebenen Gründen geradezu, indem sie sowohl die wahren geistigen Tatsachen verdrehen, als auch verhindern, sich dem geistigen Wesen des Christus wirklich zu nähern und darüber hinaus verhindern, den Christus überhaupt dort zu suchen und zu finden, wo er heute von jedem gesucht werden will und zu finden ist.

Zur Frage der „Nahrungslosigkeit“ gibt Mieke Mosmuller ebenfalls wichtige Gedanken. Laut Peter Tradowsky wirkt irdische Nahrung bei Judith von Halle wie Gift. Doch der Auferstehungsleib könnte Nahrung durchaus ertragen (vgl. Emmaus, Luk 24, 42). Wenn die Nahrung wie Gift wirkt, muss entweder eine erhebliche Schwäche der Ich-Organisation vorliegen – oder ein extremer Egoismus, der alles Ich-Fremde abwehrt und zu dem auch eine deutlich gesteigerte Sensibilität[1] passt. Tradowsky führt die Nahrungslosigkeit auf das „reine Denken“ zurück. Bei Judith von Halle ist aber das Gegenteil vorhanden: eine verstärkte Sinneswahrnehmung. Umgekehrt wird am Willenspol durch den Willen Stoff erzeugt, der durch Liebe wiederum vernichtet wird. Auch hier entspräche Egoismus also der Stofferhaltung!

Am Ende zieht Mieke Mosmuller folgendes Fazit:

„Ich habe mit beiden (Judith von Halle und Rudolf Steiner) kräftig mitgedacht, und es zeigt sich von selbst, wo die Wahrheit zu finden ist. [...] Ich habe mir viel Mühe gemacht, in diesem Buch die Anthroposophie von Judith von Halle zu befreien. Denn die wahre Gestalt der wahrhaftigen Anthroposophia wird durch derartige Tätigkeiten verspottet. Die Vorstellungen und Gedanken von Judith von Halle sind nicht mitzudenken, sie sind verworren, verfinstern das Licht des Denkens und verführen zum einfachen Glauben.“

Was bedeutet nun aber die Tatsache, dass die Bücher von Judith von Halle im „Verlag am Goetheanum“ erschienen sind und sie im Goetheanum Unwahrheiten über den Menschheits-Repräsentanten und über Rudolf Steiner verbreiten durfte?

Mieke Mosmuller legt ein ganz persönliches Bekenntnis ab: „Während vierzehn Jahren war ich Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft. [...] Ich habe die Anthroposophie nur bei Rudolf Steiner gefunden. Als es sich dann ereignete, dass die niederländische anthroposophische Gesellschaft sich [1998] dazu verführen ließ, ‚rassistische‘ Abschnitte im Werk Rudolf Steiners aufzusuchen und zu veröffentlichen, bin ich gleichsam mit Rudolf Steiner aus der Gesellschaft ausgetreten. Zumindest hätte man auch die anti-rassistischen Stellen aufsuchen müssen, um im Gleichgewicht zu bleiben. [...]“

Mit dieser tief wahrhaftigen Studie ist von Mieke Mosmuller wiederum ein Buch erschienen, das jeden einzelnen Leser wirklich aufruft, den eigenen Schulungsweg der Erkraftung des Denkens zu beschreiten. Denn es handelt sich darum, „daß man mit dem Erleben des Geistes Ernst macht.“ (Rudolf Steiner, GA 217, S. 52).

Fußnoten

 


 

[1] Judith von Halle behauptet, dass zum Beispiel ihr Geruchssinn so intensiviert sei, dass sie Bestandteile von Cremes oder einen erhöhten Eisengehalt des Blutes eines anderen Menschen identifizieren könne.