21.06.2011

Von Anfang an hochmütig

Meine ausführliche Besprechung von Irene Diets Büchlein „Das Geheimnis der Sprache Rudolf Steiners. Vom ungelösten Rätsel des Verstehens“ mag gezeigt haben, dass Irene Diet über die Sprache Rudolf Steiners nichts wirklich Erhellendes zu sagen hat, sondern stattdessen einen dunklen Nebel verbreitet. Neben allen eklatanten Fragwürdigkeiten ihres Buches sagt sie wirklich nichts, was das von ihr aufgebauschte „Geheimnis“ und „Rätsel“ lösen würde. Im Gegenteil, sie macht aus Rudolf Steiners Sprache erst ein regelrecht magisches Geheimnis und gefällt sich in der Attitüde, dieses Geheimnis als einzige richtig zu erleben, ohne auch nur wirklich anzudeuten, worin es denn nun bestehen solle.

Nun hat sie in der aktuellen „Gegenwart“, einer vierteljährlich in der Schweiz herausgegebenen anthroposophischen Zeitschrift, erneut Raum bekommen, sich über ihr Thema zu äußern. Unter dem Titel „Der unbequeme Rudolf Steiner“ schreibt sie:

Rudolf Steiner über das Verhältnis zwischen sich und seiner Lehre (19. Oktober 1915):
„Ja, wenn aber die Lehre, um die es sich handelt, gerade darin besteht, dass derjenige, der die Lehre und die Bewegung für diese Lehre  vertritt, durch diese Lehre seine Beziehungen zu den andern herstellt – dass er also das Verhältnis zwischen sich und den anderen gerade durch die Lehre herstellt –, wenn er überhaupt nichts anderes sein will als der Träger dieser Lehre...“

Rudolf Steiner ist unbequem.
Die Art und Weise der anlässlich seines 150. Geburtstages laut gewordenen Pressestimmen macht deutlich: Rudolf Steiner ist unbequem, und sogar mehr als das. So unbequem, wie es eigentlich nicht ein Verstorbener zu sein pflegt, sondern höchstens ein noch Lebender. Rudolf Steiner ist derart unbequem und störend, dass man ihn lächerlich machen muss. Ausreichend Material zu diesem Zweck hat inzwischen ein Herr Zander zusammengetragen: seine Bücher sind eine „wertvolle Fundgrube“ für alle die, sogar auch „Anthroposophen“, denen der unbequeme, da alles infrage stellende Rudolf Steiner ein schmerzender Dorn im Auge ist.
Das ist ja furchtbar! mögen nun die treu verbundenen Anthroposophen ausrufen, die in Rudolf Steiner ihren Meister und ihren Lehrer gefunden haben. Leider aber ist diese Treue noch immer nicht der Kern des wahrhaft unbequemen Rudolf Steiners.


Bis hierhin hat Irene Diet wiederum nichts wirklich gesagt, außer auf die Tatsache hinzuweisen, dass Rudolf Steiners reale Geist-Erkenntnis unbequem ist und dass ein Helmut Zander eine Fundgrube für Pervertierungen aller Art ist, der sogar „Anthroposophen“ verfallen.

Was allerdings hier schon auffällt, ist der grundsätzlich hochmütige Duktus, den Irene Diet an den Tag legt. Schon im ersten Satz wird eigentlich klar, dass sie sich als „Wissende“ betrachtet. Später macht sie sich dann noch über all jene „treu verbundenen Anthroposophen“ lustig, die Rudolf Steiner anhängen, ohne zu realisieren, dass Treue allein gar nichts wert ist. Es ist das ewige Thema der „Anthroposophen“, die Rudolf Steiner verehren, ohne ihn wirklich zu verstehen.

Irene Diet mag sich hochmütig über diese Menschen erheben. Aber dann sollte sie wenigstens etwas zu sagen haben! Dies würde ihren Hochmut nicht entschuldigen, aber zumindest verstehen lassen, wie sie dazu kommt.

Strebende Menschen lächerlich gemacht

Sie fährt fort:

Was der Kern wirklich ist, das steht nämlich gleich hier oben: es ist die absolute und nicht auseinander zu reissende Beziehung, die Rudolf Steiner zwischen sich selbst und seiner Anthroposophie einfordert.
Hier hat er vielleicht ein wenig übertrieben – so scheinen die meisten seiner Anhänger im Stillen zu meinen. Denn natürlich kann ich mich selbst zu einem Träger der Anthroposophie machen; ich kann sie studieren, ich kann anthroposophische Inhalte wiedergeben, ja, ich kann sogar zu einem „in die Anthroposophie Eingeweihten“ werden und dann – beinahe auf gleicher Höhe wie Rudolf Steiner – seine Anthroposophie, die nun die meine geworden ist, in der Welt vertreten. Und wie sollte es auch anders sein, da doch alles das, was denkbar ist, in dem Moment, wo es von einem anderen gedacht wird, in dasselbe Verhältnis tritt, wie es zu demjenigen gestanden hat, der es als Erster dachte. In unserem Falle: alles, was von Rudolf Steiner gedacht wurde, hat in dem Moment, in dem ich es selbst denke, dasselbe Verhältnis zu mir wie zu Rudolf Steiner.
Nun aber erklärt der, der die Anthroposophie geschaffen hat, dass das ganz anders sei. Dass “die Lehre, um die es sich handelt, gerade darin besteht, dass derjenige, der die Lehre und die Bewegung für diese Lehre vertritt, durch diese Lehre seine Beziehungen zu den andern herstellt“. Dass das Wesentliche dieser Lehre also nicht die Lehre selbst sei, sondern die Beziehung, die Rudolf Steiner mit Hilfe dieser Lehre zwischen sich und den anderen herstellt! [...]


Irene Diet beansprucht hier also, den Kern „des wahrhaft unbequemen Rudolf Steiners“ entdeckt zu haben! Dieser Kern stehe „gleich hier oben“, nämlich als einleitendes Motto über ihrem Aufsatz. Er sei also ausgesprochen in dem zitierten Satz aus der Gesamtausgabe, Band 254.

Und wieder ist sie es, die Menschen lächerlich macht, nämlich die meisten (!) „seiner Anhänger“, die – nach Diet – „im Stillen meinen“, Rudolf Steiner habe mit dieser grundlegenden Beziehung zwischen ihm und seiner Anthroposophie „vielleicht ein wenig übertrieben“.

Dass Diet hier mit Recht auf die Auswüchse hindeutet, die darin bestehen, dass sich Menschen hinstellen, sich „Anthroposophen“ nennen und in allerlei Vorträgen und Seminaren glauben, Anthroposophie zu repräsentieren und in der Welt zu vertreten, während sie nur abstrakte intellektuelle Schatten bringen, ist eine Sache. Dass aber die meisten Menschen, die sich Rudolf Steiner und seiner Anthroposophie verbunden fühlen, sehr wohl erleben, dass sie einen solchen Anspruch gar nicht erheben dürften – und dies auch nicht wollen –, scheint Diet zu entgehen. Es gibt eine sehr große Zahl von Menschen, die unmittelbar erleben, dass dem Wesen der Anthroposophie intellektuell nicht beizukommen ist und dass der Intellekt viel weiter reicht, als man oft annimmt.

Und noch immer sagt Irene Diet nichts über die Frage, wie denn Rudolf Steiner wirklich zu verstehen sei, außer auf Steiners Wort von der Beziehung zwischen ihm und seiner Lehre zu verweisen.

Dann kommt der Abschluss der Aufsatzes:

Was ist also Anthroposophie? Und vor allem: Wer ist denn nun Rudolf Steiner?
[...] wer Rudolf Steiner wirklich ist – dies kann nur erfahren werden, wenn ich mich so auf seine Anthroposophie einlasse, dass ich niemals vergesse: es ist nicht meine, sondern Rudolf Steiners Anthroposophie, die ich zu verstehen suche. Wenn ich mir in jedem Moment bewusst bin, dass ich am Anfang eines Weges stehe. Und wenn ich bewusst bin, dass ich nur dann nichts anderes suchen werde als den Weg (nicht das „Ziel“), wenn die Beziehung, die auf diese Weise zwischen mir und Rudolf Steiner entsteht, zum Wegweiser, zum „Führer“, wird.


Mit anderen Worten: „Der Weg ist das Ziel. Suche die Beziehung zu Rudolf Steiner, dann wirst Du finden, wer Rudolf Steiner und was Anthroposophie ist...“

Ich frage mich wirklich, wie viele „Anhänger“ Rudolf Steiners dies nicht wissen sollten? Wer aus der Anthroposophie ein abstraktes Wissen macht, wird diese grundlegende Wahrheit, den Weg, ganz verfehlen. Die meisten Menschen aber, die eine wirkliche innere Verbindung zur Anthroposophie empfinden, werden niemals die Anthroposophie von Rudolf Steiner trennen wollen, weil sie unmittelbar eine Beziehung zu Rudolf Steiners Anthroposophie und zu ihrem Begründer empfinden.

Es bleibt schleierhaft, was Irene Diet hier an weitergehendem „Wissen“ oder „Erleben“ beansprucht. Sie sagt dazu auch in diesem ganzen Aufsatz – nichts.

Angriff aus der Leere des Nominalismus

Abgesehen von dem Inhaltlosen und Hochmütigen ihres Aufsatzes enthält dieser aber nun noch ein Drittes: Einen weiteren hässlichen Angriff auf Mieke Mosmuller. Denn sie schreibt:

Was ist also Anthroposophie? Und vor allem: Wer ist denn nun Rudolf Steiner?
Auf diese Frage kann weder mit einem „Meister des Abendlandes“ noch mit einem „Meister der weißen Loge“* geantwortet werden. Beide Vorstellungen tragen zur selben Verwirrung bei, da beide in gleicher Weise dem Bilder-Almanach entspringen, das dem Kino- und Film-geprägten heutigen Menschen entspricht. Nein, wer Rudolf Steiner wirklich ist [...]

* „Meister des Abendlandes“: siehe dazu die Schriften von Mieke Mosmuller. „Meister der weißen Loge“: siehe dazu das gleichnamige jüngste Werk von Judith von Halle.


Hier nun steigert Diet ihren Hochmut gleichsam ins Unermessliche, indem sie kurzerhand behauptet, jemand, der Rudolf Steiner „Meister“ nenne, schöpfe dieses Wort aus dem Bilder-Almanach des heutigen kino-geprägten Menschen. Hier wird nun auch Diets Nominalismus völlig offenbar – etwas, was uns auch in ihrem Buch „Das Geheimnis der Sprache Rudolf Steiners“ immer wieder begegnet.

Irene Diet klammert sich an die Worte – Rudolf Steiners Worte erhebt sie zu magischen Mysterien, die Worte anderer verurteilt sie, ohne imstande zu sein, den inneren Sinngehalt zu erfassen.

Es gibt weltenweite Unterschiede, ob ein Mensch das Wort „Meister“ gebraucht, oder ob ein anderer Mensch dies tut. Man muss sich fragen, ob Irene Diet überhaupt irgendeinen substantiellen Begriff von dem geistigen Inhalt des Wortes „Meister“ hat – außer jener kino-geprägten Vorstellung, auf die sie selbst verweist. Dass der Missbrauch von Worten niemals etwas darüber aussagen kann, wie bestimmte Menschen dasselbe Wort in ganz anderer Weise gebrauchen, sollte doch gerade seit und durch Rudolf Steiner deutlich geworden sein.

Irene Diet regt sich doch auch über Rudolf Steiners Wort „Ätherleib“ nicht auf, obwohl man auch hier an Kino usw. denken könnte! Warum macht sie sich nicht die Mühe, auch bei anderen Menschen zu empfinden, wie jedes einzelne Wort wirklich gemeint ist und was es bedeutet?

Wahrscheinlich interessiert es Irene Diet auch wenig, dass Rudolf Steiner selbst von Meistern gesprochen hat. Oder vielleicht interessiert es sie – aber niemand dürfe Rudolf Steiner einen „Meister“ nennen. Dass zwischen Judith von Halle und Mieke Mosmuller ein diametraler Unterschied besteht, scheint Irene Diet bewusst verschleiern zu wollen – aber darüber hinaus scheint sie die Unterschiede im Wortgebrauch und in der spirituellen Substanz dieses Wortgebrauchs wirklich nicht empfinden zu können.

Wenn Mieke Mosmuller von Rudolf Steiner als dem „Meister des Abendlandes“ spricht, so ist dies kein abstraktes „Wissen“ und auch kein „terminus technicus“, sondern eine tief erlebte Realität, eine Bezeichnung, die gewählt wurde aus der unmittelbaren Anschauung dessen, was die Tat Rudolf Steiners war.

Auch Irene Diet kann doch auf nichts anderes als auf diese Tat hinauswollen? Fast bekommt man den Eindruck, Diet tue genau das, was sie fälschlicherweise „den treuen Anhängern“ vorwirft: nämlich Rudolf Steiner und die wahre Erkenntnis des „Kerns Rudolf Steiners“ für sich zu beanspruchen. Spirituell kann sie Mieke Mosmuller nicht beikommen, so versucht sie, sie mit Hilfe eines Wortes zu bekämpfen.

Das kann man natürlich immer tun. Wirkliche Anthroposophen werden diese lügenhaften, unwahrhaftigen Versuche aber unmittelbar als solche empfinden und sich angewidert abwenden...

Wenn es Irene Diet wirklich um einen Hinweis auf die notwendige Beziehung zu Rudolf Steiner ginge, so müsste sie anerkennen, dass wohl kaum jemand je ein derart berührendes, lichtvolles Zeugnis davon abgelegt hat, wie Mieke Mosmuller, insbesondere mit ihrem Buch „Der lebendige Rudolf Steiner“.

Rudolf Steiner – der Meister des Abendlandes

Ich wiederhole noch einmal das Zitat, das ich schon in meiner Besprechung von Diets Buch wiedergab. Mieke Mosmuller schreibt:

Jeder Mensch, der sich im Sinne des Meisters des Abendlandes zum Bewusstsein der reinen Form erhebt, findet unmittelbar die Individualität dieses Meisters als Freund neben sich. Er fühlt das verbindende Karma. Die Form muss jedoch Kraft sein, sonst leitet sie den Geist nicht. Überall, wo ein Bewusstsein der Form der Anthroposophie – ein Gewahrwerden der reinen Form des Denkens – da ist, ist der Meister des Abendlandes da.
Der lebendige Rudolf Steiner, S. 110.


Wenn Irene Diet behauptet, Mieke Mosmuller hätte keine Beziehung zu Rudolf Steiner, so macht sie sich blind für Mieke Mosmullers eigene Worte und den gesamten geistigen Gehalt ihrer Bücher und verbreitet ungeheuerlichste Lügen.

Und wenn Irene Diet behauptet, Mieke Mosmuller habe keine Beziehung zu den Worten Rudolf Steiners, verbreitet sie nochmals ungeheure Lügen. Denn wie könnte jemand eine Beziehung zu Rudolf Steiner haben, wenn er keine Beziehung zu seinen Worten hätte? Schon in ihrem Buch über Judith von Halle schreibt Mieke Mosmuller:

Ich wende mich an jeden, der denken will, der erlebend denken will, und bitte um ein klares Schritt-für-Schritt-Mitdenken der nachfolgenden erlebten Gedanken, damit der Leser selbst zur Einsicht gelange, womit man es hier zu tun hat.
Ich bin mir klar bewusst, dass die vorliegende Arbeit als Dogmatismus, Schriftgelehrtheit, sogar als Pharisäertum dargestellt werden wird, weil ich die Schriften Rudolf Steiners als maßgebend für das Urteil verwende. Ich kann dagegen nur einwenden, dass ein Mensch, der sich auf die Anthroposophie beruft, um seinen Erkenntnissen die Grundlage zu geben, auch mit dem Meister des Abendlandes einig sein muss. Es kann Erweiterungen geben, aber es können keine Widersprüche da sein, wenn ein Schüler dieses Meisters seinen Erkenntnisweg richtig verfolgt.
Stigmata und Geist-Erkenntnis, S. 25f.


Dass es Mieke Mosmuller niemals um ein „Wissen“ und bloßes Zitieren geht, geht bereits aus ihrem Buch „Der Heilige Gral“ hervor, wo sie das Wesen ihrer geistigen Erkenntnis in erschütternder Weise schildert. In dem gleichen Buch schreibt sie aber auch:

Der Meister des Abendlandes ist sicherlich der meistunterschätzte Mensch des modernen Abendlandes, aber er ist ebenso sicher dessen Meister. In Büchern [...] ist seine Geisteswissenschaft zu finden, die nicht mit einmaligem Lesen zu fassen ist, sondern wofür meditatives Lesen notwendig ist. Unbegrenzt wird dann das Wissen, das mit Christus erworben wird.
Der Heilige Gral, S. 93.


In ihren Büchern, die mit jedweder „Sekundärliteratur“ nicht zu vergleichen sind, zeugt Mieke Mosmuller von der Realität der Anthroposophie – und sie selbst nennt Rudolf Steiner den „Meister des Abendlandes“.

Irene Diet, die nichts weiter tut und kann, als Nebel über Rudolf Steiners Worte und das „Geheimnis seiner Sprache“ zu verbreiten, stellt sich hin und meint, Mieke Mosmuller den Wortgebrauch des heutigen kino-geprägten Menschen vorwerfen zu können! Ein größerer Hochmut ist mir wirklich und wahrhaftig kaum jemals begegnet...

Möge auch dies alles wiederum dazu beitragen, dass jeder Einzelne selbst auf die Suche geht, was Anthroposophie wirklich ist.

„Prüfet alles, und das Gute haltet fest.“
1. Paulusbrief an die Thessalonicher, 5,21.

„Unbestrittener Höhepunkt...“

Tief seltsam muss es doch anmuten, wenn dann in demselben Heft der „Gegenwart“ ein anderer Mensch berichtet, wie er ein Seminar mit Mieke Mosmuller wahrgenommen hat. Auf Seite 46 finden wir die Meldung:

Kongress in Hamburg: Architektur wirkt!
Er stand im Mittelpunkt der Tagung – der Begriff Umstülpung. Eine Bezeichnung, die Rudolf Steiner vielfach benutzt hat und der Hans Bonneval, Betreiber der Hamburger Denkschule, in seinem ausgezeichneten Buch Umstülpung als Schöpfungs- und Bewußtseinsprinzip intensiv nachgegangen ist. Der Autor bot denn auch als Organisator des gut besuchten Kongresses immer wieder grundsätzliche Erläuterungen zu diesem Thema, während vor allem Umstülpungsvorgänge in der Architekturentwicklung für Johannes Gabert von Interesse waren. In seiner gleichnamigen Broschüre deutet er Bauformen „als Ausdruck menschlicher Entwicklungsschritte“, schlägt den Bogen von den alten Kulturen zur Gegenwart und versteht Architektur als  „Menschheitsbiografie“. [...]
Unbestrittener Höhepunkt der Tagung waren jedoch die Vorträge von Mieke Mosmuller. Aus lebendiger Geistesschau setzte sie die Umstülpung des menschlichen Herzens und Bewusstseins mit der Kathedrale von Chartres und dem Goetheanum in Beziehung. Erkenntnisse, die man gerne vertieft hätte. [...]
Thomas Senne

Ringen mit Rudolf Steiner oder jeden verstehen?

Und dann findet sich in demselben Heft noch die Besprechung von Irene Diets Buch durch den Herausgeber der „Gegenwart“, Gerold Aregger.

Unter dem Titel „Ringen mit Rudolf Steiner“ beginnt er seine Besprechung mit einer eigenen Jugenderfahrung:

In meiner Jugend einmal traf mich die Gedichtszeile „die genau sind“ (in einem Gedicht von Magnus Enzensberger) – ich fragte, was denn damit gemeint sei. Der Lehrer schwieg darauf. Das erwies sich als fruchtbar. Die Frage blieb mir: Weshalb sollte es im Leben darauf ankommen, genau zu sein? 


Mit diesem Beginn suggeriert er, dass es in Diets Buch um Genauigkeit gehe. Sie selbst suggeriert dies ja auch, da sie fortwährend auf das Mysterium der Worte und der Sprache Rudolf Steiners verweist. Dass es auf Genauigkeit ankommt, ist zweifellos – nur das, was Irene Diet daraus macht, wird zu einem undurchdringlichen Nebel, der sich vor das Wesen der Anthroposophie legt. Bei Irene Diet findet sich nur scheinbar eine Genauigkeit, in Wirklichkeit aber nur ein Nominalismus, und selbst dieser verliert sich im Nebel...

Danach bringt Aregger das unsäglich entlarvende Zitat, in dem Diet sagt: „Heute ahne ich, dass es diese Brücke gar nicht gibt.“, in dem sie den Anspruch erhebt, sie sei diejenige, die Steiner wirklich verstehe, während anderen das Verständnis vielleicht nie möglich sein werde (siehe meine Besprechung).

Aregger fährt fort:

Das ist allerdings ein grosses Thema. Den Ausgangspunkt, die Differenzen, wird niemand bestreiten können. Ebensowenig, dass die Erlebens Ebene hier massgebend ist. Doch ist das Erleben im Tieferen bei denen, die in diesem Leben zur Anthroposophie gefunden haben, tatsächlich „hoffnungslos unterschiedlich“? Natürlich, im Gewöhnlichen schon. Mein Erlebnis ist hingegen, dass Verbindungen über manche Gräben zustande kommen, wenn es jemandem gelingt, aus der Tiefe zu sprechen. Und ich erlebe eine Bereicherung darin, mich um ein Verstehen der Erlebnisweise des Anderen zu bemühen. Die mag anders bleiben – aber ich verstehe vielleicht ein wenig, weshalb das so ist, und kann eine Berechtigung, oder eine Abirrung, darin sehen. Und erkenne umgekehrt meine Beschränkungen. Vor allem: das Hindernde sind meist Selbstsüchtigkeiten. Die, welchen es um „die Sache“ geht, verstehen einander leichter. Man kann erahnen, dass noch ganz anderes als das von einem selbst Gesehene notwendig ist. Gerade dem heftig geistig Strebenden droht die Intoleranz und ist das Wort im Neuen Testament eine Warnung: „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen.“ – Am andern Pol steht die so verbreitete billige Wischiwaschi-Toleranz.


Dies berührt nun wirklich eine entscheidende Frage! Ich habe zu dieser Frage mehrere Aufsätze verfasst, zum Beispiel „Was ist Wahrheit – was ist Anthroposophie?“. Die Frage ist: Wann steht man auf dem Boden der Verständigung und wann auf dem Boden einer Wischiwaschi-Toleranz? Deutlich ist doch wohl, dass hier ein ganz klares Unterscheidungsvermögen notwendig ist!

Natürlich sollte Verständigung unter jenen Menschen, die um das Verstehen ringen, immer möglich sein, zumindest schrittweise, allmählich. Die Frage ist nur: Wer ringt wirklich darum? Herr Aregger mag eine Bereicherung darin erleben, sich um ein Verstehen der „Erlebnisweise des Anderen“ zu bemühen. Die Frage ist: Wieweit gelingt ihm dies? Wie weit versteht er Mieke Mosmuller? Was versteht er bei Irene Diet?

Wer alle zu verstehen versucht, gerät oft sehr leicht und eben unerkannt in eine falsche Toleranz, die gerade die wirklichen (real-übersinnlichen) Geisteskämpfe überhaupt nicht wahrzunehmen bzw. zu verstehen vermag.

Wie weit versteht Irene Diet Mieke Mosmuller? Die Antwort ist offensichtlich. Sie versteht nichts, und sie will auch nichts verstehen, stattdessen hat sie sie in einem eigenen Buch und in nunmehr drei Aufsätzen jeweils auf wüsteste und haltloseste Weise angegriffen. – Gerold Aregger aber scheint Irene Diet zu verstehen und gibt ihr in seiner Zeitschrift Raum für ihre Gedanken und auch ihren Angriff.

Ich kann mit dieser Art „Bemühen zu verstehen“ nicht viel anfangen, denn es verdeckt die wirklichen Fragen. Meint Aregger gar etwa noch, Irene Diet würde „aus der Tiefe sprechen“!? Das wäre dann wirklich Blasphemie gegenüber dem Geist!

Man kann sich in Irene Diet durchaus einfühlen – und man mag dieses eigene Bemühen auch als „Bereicherung“ erleben. Und man wird beim Bemühen, andere Menschen zu verstehen, oft genug auch eigene Beschränkungen erkennen. Aregger verabsolutiert dies aber. Es gibt „Abirrungen“, die eklatant sind und die der eigenen Erkenntnis nichts hinzufügen können.

Aregger suggeriert, dass man in fast jeder Begegnung ebensoviel über sich selbst wie über den anderen lernen könne – aber das stimmt einfach nicht. Wir sind nicht „alle gleich weit von der Wahrheit entfernt“ – aber genau das ist das Dogma unserer heutigen „Konsensgesellschaft“, die glaubt, die Wahrheit gerade in der Verständigung und im „Bemühen um Verständnis des Anderen“ finden zu können. Das ist vielleicht die größte Lüge unserer heutigen Zeit...

„Man kann erahnen, dass noch ganz anderes als das von einem selbst Gesehene notwendig ist.“ – Das kann man eben da, wo ein anderer einem voraus ist. Man kann es aber nicht da, wo Irene Diet ihre Nebelmysterien verbreitet, und schon gar nicht da, wo sie Mieke Mosmuller angreift. Mit alledem beweist Diet eben nur, dass sie ganz Entscheidendes selbst nicht sieht. Und daher helfen Areggers Sätze hier kein bisschen, sie untergraben vielmehr die Urteilsfähigkeit.

Mut zur michaelischen Unterscheidung

Natürlich verstehen diejenigen, denen es „um die Sache geht“, einander leichter – aber nur, wenn sie auch auf dem Wege sind, „die Sache“ wirklich zu erfassen. Bei den Angriffen von Irene Diet steht man wie vor einem Rätsel. Derart wüste Angriffe können nur auf Selbstsüchtigkeit beruhen – und sie sind zugleich nur möglich, weil Diet nicht ansatzweise versteht, dass Mieke Mosmuller von Realitäten spricht. Worauf setzt Aregger überhaupt seine Hoffnung?

Und will er selbst behaupten, er sei am wenigsten selbstsüchtig, weil er jeden zu verstehen bemüht ist? Das wäre nun wirklich Wischiwaschi-Toleranz. Denn wenn man die Wahrheit und die Lüge hat und man gibt beiden Raum, weil man den Wunsch hat, beide „besser zu verstehen“, dann versündigt man sich an der Wahrheit.

Es kommt auf ein wirkliches Unterscheidungsvermögen an. Wenn man zu dieser Unterscheidung nicht den Mut hat, dann wird man hundert Jahre streben können, ohne der Wahrheit näher zu kommen. Man wird zwar immer mehr das Gefühl haben, alle und jeden verstehen zu können, aber die Wahrheit lebt in einer ganz anderen Sphäre. Diese Sphäre wird man nur finden können, wenn man auch den Mut findet, eine bestimmte Anschauung nicht verstehen zu „können“ oder zu wollen, weil es sich um etwas handelt, was von der Wahrheit abführt.

Gerade das meinte Rudolf Steiner mit einem wirklichen Erleben des „Krankmachenden“ statt eines bloßen „richtig oder falsch“; des „Zerstörenden“ einer Lüge oder Halbwahrheit. Da geht es nicht mehr um ein „Sich-Bemühen um zu verstehen“, sondern um eine klare Erkenntnis und Abwehr dessen, was zurückgewiesen werden muss. Dieser michaelische Aspekt des Wahrheitsstrebens darf nicht schwach sein, er muss immer stärker werden! Und das hat wirklich nichts mit Intoleranz zu tun, die es natürlich auch gibt, aber nur dann, wenn man auf seinem eigenen Weg stehenbleibt und abirrt. Mir scheint aber, heute ist die unerkannte Gefahr einer falschen Toleranz noch viel, viel größer geworden als die Gefahr der unberechtigten Intoleranz.

Intoleranz lebt dort, wo man mit wütenden Angriffen dasjenige bekämpft, was berechtigt ist. Das tut Irene Diet. Falsche Toleranz lebt dort, wo man dasjenige nicht genügend scharf zurückweist, was unberechtigt ist. Und ebendies versäumt Gerold Aregger in diesem Fall.

Irene Diets Angriffe auf Mieke Mosmuller sind keine „Ausrutscher“, sie sind Methode. Aber selbst wenn sie bloße Entgleisungen wären, so würden sie auch als solche schon beweisen, dass das, was Irene Diet sonst noch sagt, kaum Substanz haben kann. Was sie einzig und allein beweisen, ist, dass Irene Diet zu einem Verstehen gar nicht bereit ist. Aregger mag Diet dann noch so sehr verstehen wollen, er tut der Wahrheit damit keinen Dienst.

Gerold Aregger schreibt am Ende:

[...] Irene Diet versucht dem Leser zu zeigen, an Text-Beispielen Steiners, dass ein schnelles Verstehen dieser Sätze über den Text hinweggeht. Dass ein banales Verständnis dieser Texte im Ernst nicht haltbar ist. So begegnet dem Leser die erste Hürde: ich verstehe das nicht. Weshalb diese umständlich scheinenden Formulierungen? Jetzt kommt ein entscheidender Punkt: Gebe ich Rudolf Steiner die Schuld dafür, dass die Dinge unklar werden, „seinem schlechten Stil“, oder kann ich mein Nicht-Verstehen ertragen, ja es als Ausgangspunkt nehmen. Der wäre fruchtbar: Ist doch beim Lernen das erste die Frage. [...]
Irene Diet nimmt Steiners Text ernst. Ihre These lautet: Jedes Wort im schriftlichen Werk ist bewusst gesetzt. Ist Dichtung. Und mehr: ist ein mit Worten gestaltetes neues Land, in das der Leser eintreten kann. Sieht er die neue Landschaft, oder sieht er bloss das Altbekannte, sein Mitgebrachtes? Aber Neues sieht man nicht einfach. Neues sehen zu lernen ist eine Geburt, mit Wehen. [...]
Wie geht das? Die Autorin sucht Hinweise dazu zu geben (Kapitel Denken als seelisches Tastorgan). Sie spricht von der Sprache zwischen Kunst und Wissenschaft und vom Kampf mit dem Sprachgeist.
Möglicherweise kann der Leser bei den vorgeführten Beispielen nicht überall gleich folgen. Doch kann er anstossen und aufmerksam werden. Und vielleicht da tiefer stossen, wo er einmal stehengeblieben ist auf seinem Weg. Vor dem Eintritt aber steht immer eine Hürde, ja ein Hüter. [...]


Die großen Worte von den „Wehen“ des Neuen sind natürlich wahr – aber es ist kaum erträglich, diese mit Diet in Verbindung zu bringen. Diet nämlich tut nichts, um zu einer solchen Geburt zu führen! Sie beansprucht, den Leser auf diese Wahrheit hinzuweisen, aber sie verhöhnt diese Wahrheit geradezu, weil sie selbst fortwährend mit dem Duktus der „Wissenden“ spricht, während ihre „Hinweise“ gerade ganz in die Irre führen. Auch dies habe ich in meiner ausführlichen Besprechung gezeigt. Der Leser kann den „Hinweisen“ höchstens aus dem Grunde „nicht überall gleich folgen“, weil er ihnen nicht folgen sollte. Verständlich sind sie sehr wohl, aber man kann auch erkennen, warum sie nicht zum Verstehen, sondern in die Irre führen.

Anstoßen kann man bei Irene Diet nirgends. Entweder ihre Ausführungen verlieren sich ins Nebelhafte, oder sie sind schlichtweg irreführend oder sogar regelrecht abstoßend. Jeder Leser mag selbst entdecken, wo er „einmal stehengeblieben“ sein mag. Irene Diet ist in jedem Fall irgendwo stehengeblieben, und zwar weit, weit vor dem Hüter.

Der Lehrer und die Lehre

Betrachten wir nun noch Rudolf Steiners Vortrag, aus dem Irene Diet zitiert hat. Aus dem Zusammenhang wird ersichtlich werden, dass Diet selbst dieses Zitat und seinen Wortlaut wieder verabsolutiert.

Ich habe, gedrängt durch die Tatsachen, Ihnen eine Stelle aus einem Briefe einer Dame vorlesen müssen, der die Worte enthielt, daß gewollt wurde von jener Seite her nicht die Lehre und nicht der Lehrer, sondern der Mensch. [...] Dann kam etwas anderes, dann kam just die Umkehr. Der Mensch wurde in intensiver Weise abgelehnt und von der Lehre wurde behauptet, daß man sie als eine richtige anerkennen müsse. [...]
Es ist wichtig, sich solch einen wirklichen Widerspruch vor Augen zu führen. Denn wenn wir solche Dinge unter uns nicht bemerken, dann werden wir den geraden Weg in die Erkenntnisse der geistigen Welt niemals finden. Selbstverständlich kann uns vieles entgehen, aber wir müssen den guten Willen haben, solche Lebenswidersprüche wirklich zu bemerken.
Aber auf der anderen Seite werden solche Widersprüche benützt, gerade um die Wahrheit gewissermaßen aus den Angeln zu heben. [...] Ja, wenn aber die Lehre, um die es sich handelt, gerade darin besteht, daß derjenige, der die Lehre und die Bewegung für diese Lehre vertritt, durch diese Lehre seine Beziehungen zu den anderen herstellt – daß er also das Verhältnis zwischen sich und den anderen gerade durch die Lehre herstellt –, wenn er überhaupt nichts anderes sein will als der Träger der Lehre: dann verlangt man aus solcher Einstellung heraus, daß er etwas anderes sein soll! [...]
Wie oft ist gerade in unserer Bewegung gesagt worden, unsere Lehre soll nicht bloß Theorie sein, sondern soll unmittelbares Leben sein. Indem man sie zur bloßen Theorie macht, tötet man sie; man übergibt sie Ahriman, dem Gotte des Todes. [...]
Es ist ein Versuch, das, was als Wahrheit in die Welt treten will, zu verleumden. Man fühlt sich zu schwach, die Lehre zu widerlegen, also klagt man denjenigen an, der die Lehre zu vertreten hat. Damit ist verknüpft, daß man selber zu schwach ist, die Lehre zu durchdringen.
Es ist ein ungeheuer bemerkenswertes Problem für denjenigen, der mit Ernst und Würde in unseren Reihen steht, denn diese Dinge müssen wir von einem höheren Gesichtspunkte aus durchschauen. Ich will noch ein Beispiel geben. Ich führe diese Beispiele an, weil sie naheliegen und weil sie uns zeigen, wohin wir den Blick richten müssen und wie sie dazu dienen können, die nächsten Dinge von einem höheren Gesichtspunkte aus zu beurteilen. Es muß in unserer Bewegung aufs schärfste betont werden – und es geschah die ganzen Jahre hindurch, seitdem unsere Bewegung von mir vertreten wird –, daß das atavistische Hellsehen in das richtige Licht gestellt werde, daß man niemals sich täusche über das alte atavistische Hellsehen. Was man erfand, um das, was wir tun oder wollen, in der allerschärfsten Weise zu entstellen, dafür ist ein Beispiel, daß man sagte: Man kann sehen, da ist eine Bewegung, die sich darauf verlegt, das Hellsehen zu pflegen –, und daß man sich bemühte, die Sache so zu wenden, als ob in dieser Bewegung alle Menschen veranlaßt würden, das Hellsehen zu pflegen. Wenn so etwas getan wird, dann breitet man über diese Bewegung einen Nebel aus. [...]
Selbstverständlich hat derjenige, der das sagt, keine Ahnung, was er eigentlich sagt. Er ist selbstverständlich ein Figurant. Aber wir müssen tiefer hineinschauen in die Zusammenhänge. Wir müssen uns klar sein darüber, daß wir in einer Zeit leben, wo solche Impulse gegen uns geltend gemacht werden. Und besonders grotesk würde uns das dann entgegentreten können, wenn unsere Lehre selber als Waffe gegen uns genommen würde, und wir von unserer Lehre aus widerlegt würden. Auch das ist sogar schon geschehen. Sie wissen, in einer der Gegenschriften der letzten Woche ist mit Zitaten der „Mysteriendramen“ und der „Geheimwissenschaft“ ein Angriff geformt worden gegen das, was von mir vertreten wird. Sie haben also überall die Mächte am Werke, die die Wahrheit nicht aufkommen lassen wollen.
19.10.1915, GA 254, 117ff.


Rudolf Steiner beschreibt also, dass die Gegner einerseits nicht die Lehre und nicht einmal den Lehrer, sondern nur „den Menschen“ wollen – und auf der anderen Seite nur die Lehre, nicht aber den Lehrer. Im ersteren Fall sieht man in der Lehre nichts von Wert, sondern will nur „das Menschliche“, im anderen Fall meint man, die Lehre zu verstehen und zu bejahen, lehnt aber den Lehrer ab.

Ein „Goetheanum“-Redakteur sagte mir einmal, er habe Probleme mit Rudolf Steiner und seinem – von diesem Menschen so wahrgenommenen – „So-ist-es“-Duktus. Das ist exakt ein Beispiel für diese zweite Gegnerschaft: Man will die Lehre, hat aber zumindest „Probleme“ mit dem Lehrer...

Gerade weil aber der Lehrer nichts anderes sein will – und ist – als ein Träger der Lehre, so versteht man die Lehre definitiv nicht, wenn man glaubt, den Lehrer ablehnen zu müssen.

Diese Tatsachen können unmittelbar einleuchten und empfunden werden. Wer eine Antipathie gegen Rudolf Steiner, gegen seine Worte oder seine Art der Darstellung hat, der kann und wird das Wesen der Anthroposophie nicht erfassen. Gerade durch diese Lehre und ihre besondere Gestalt stellt Rudolf Steiner seine Beziehung zu den anderen Menschen her, und er will nichts anderes sein als der Träger der Lehre.

Irene Diet macht aus alledem wiederum einen Nebel und suggeriert noch etwas, was über diese Tatsachen hinausgehen solle. Es wird nicht klar, was Diet meint – und sie führt damit auch hier wieder von dem ab, was Rudolf Steiner meint.

Die Anthroposophie kann nichts anderes sein als zugleich auch die Begründung von Rudolf Steiners Beziehung zu den anderen Menschen. Denn die Anthroposophie ist der Weg zum Geist und damit auch zu dem wahren Menschentum. Es gibt nicht auf der einen Seite den „Menschen“ Rudolf Steiner und auf der anderen Seite die Anthroposophie. Denn Rudolf Steiner selbst war der Träger der Anthroposophie und das heißt zugleich eines allertiefsten Menschentums. Seine Beziehung zu den anderen Menschen ging unmittelbar hervor aus der Anthroposophie, deren Träger er war.

Das alles liegt in Rudolf Steiners Worten. Wenn Irene Diet aber etwas ganz anderes daraus machen will, dann legt sie etwas Irreführendes hinein.

Eine Woche später äußert Rudolf Steiner sich über die Verbindung zwischen dem Lehrer und der Lehre in ganz allgemeiner Form – geht also über den sehr besonderen Fall seiner Verbindung mit der Anthroposophie noch hinaus, was Irene Diet ebenfalls nicht berücksichtigt:

Aber luziferisch bleibt die Anschauung, daß man dem Menschen etwas wegnehmen und es dann wie etwas außer ihm Vorhandenes verwerten kann, zum Beispiel, daß man einem Lehrer seine Lehre wegnimmt und sie objektiv in der Welt verwerten würde. [...] Man kann von einem Irrtum sehr viel lernen, von dem Irrtum nämlich, daß losgelöst werden könne die Lehre vom Lehrer. [...] Man kann lernen, welche Gefahr darin liegt, wenn so etwas in der Zukunft der Menschheitsentwickelung mehr usuell würde. Und diese Gefahr besteht!
25.10.1915, GA 254, S. 195.

„...sich ein ganz klares, exaktes Denken anzueignen“

Nun sind aber ganze Teile von Rudolf Steiners Vortrag sehr weitgehend auf Irene Diet anwendbar, insofern Diet sich in ihrem Buch mehrfach in Widersprüche verstrickt bzw. ihre eigenen Widersprüche zu Rudolf Steiner nicht bemerkt, Mieke Mosmuller angreift, die weitgehender als jeder andere ebenfalls eine Trägerin lebendiger Anthroposophie ist (siehe auch ihr neues Buch: „Das Menschliche Mysterium“) und so weiter:

Ist ein Interesse für eine einseitige Richtung vorhanden, so findet sie immer eine Stütze; die Wahrheit im allgemeinen aber wird angefochten und alles mögliche geschieht, um die Wahrheit an sich gar nicht herauskommen zu lassen. Und es wird zu dem richtigen Stehen innerhalb unserer geistigen Bewegung gehören, daß wir uns voll bewußt sind, daß die Wahrheit, die gesucht wird, von vielen, vielen Seiten angefochten werden wird. Aber nichts ist notwendiger, als daß wir versuchen, um gewappnet zu sein, wirklich nach allen Seiten hin Klarheit des Denkens zu entwickeln. Sie müssen ins Auge fassen, daß dasjenige, was als gegnerisch, namentlich was als gegnerische Persönlichkeiten gegen unsere Bewegung auftritt, wirklich zum großen Teile Figuranten sind für die gegnerischen Mächte. Wir treten da in ein Wirken übersinnlicher Gewalten ein. Diese übersinnlichen Gewalten, zu denen Ahriman und Luzifer gehören, wirken selbstverständlich im Menschenleben durch Menschenseelen, die einfach ihre Werkzeuge sind.
Daher ist es notwendig, genau zu wissen, um was es sich in dem einen und in dem anderen Falle handelt; aber das Allernotwendigste ist, niemals zu versäumen, sich ein ganz klares, exaktes Denken anzueignen – so gut man eben kann. [...]
Ahriman und Luzifer können nur etwas machen, wenn ein Widerspruch unbemerkt bleibt, wenn wir nicht die Kraft und den Willen haben, den Widerspruch aufzudecken. Überall da, wo wir uns in einen Widerspruch verwickeln, den wir nicht als Widerspruch erkennen, sondern einfach gelten lassen als einen lebenswahren Inhalt, überall da haben Luzifer und Ahriman die Möglichkeit, sich unserer Seele zu bemächtigen. [...]
19.10.1915, GA 254, 116.


Gerade bei Büchern und Aufsätzen wie denjenigen von Irene Diet ist ein ganz klares Denken notwendig. Man muss wirklich erkennen, was man vor sich hat, wo Widersprüche da sind, was diese Widersprüche offenbaren, welcher Art das Denken ist und so weiter. Das Allernotwendigste ist es! „Niemals zu versäumen, sich ein ganz klares, exaktes Denken anzueignen – so gut man eben kann.“

Indem sich der Mensch als freies Wesen in Michaels Nähe fühlt, ist er auf dem Wege, die Kraft der Intellektualität in seinen „ganzen Menschen“ zu tragen; er denkt zwar mit dem Kopfe, aber das Herz fühlt des Denkens Hell oder Dunkel [...].
Leitsätze, GA 26, S. 117.


Am Ende seines Vortrages sagt Rudolf Steiner:

Über die Wahrheit selbst brauchen wir uns keine Sorge zu machen, insbesondere dann nicht, wenn wir wahrnehmen, daß wir mit unseren eigenen Wahrheiten sogar angegriffen werden, daß man also das, was wir selber sagen, gegen uns wendet. Also nicht um eine Widerlegung, sondern um das, was wir eigentlich tun, handelt es sich. Wir haben daher nicht nötig gehabt, solange wir nicht angegriffen wurden, irgendwie auf Polemiken uns einzulassen. Daher auch unsere Ablehnung der Polemik, wie oft früher betont wurde. Die Wahrheit darf in die Welt gehen, indem sie nur das Positive betont. Aber in dem Augenblicke, wo Behauptungen in die Welt gehen, die die Wahrheit gar nicht berühren, da müssen wir gewappnet sein und erkennen, von welchem Gesichtspunkte aus solche Dinge zu beurteilen sind. [...]
Die Notwendigkeit der Polemik beginnt erst, wenn wir angegriffen werden. Dann aber müssen wir wissen, daß wir eine Lehre haben, die sehr leicht in ihr Gegenteil verkehrt werden kann, die wir daher zu hüten und zu bewachen haben. [...]
Ich habe gestern auf die verschiedenen Gefahren hingewiesen. Aber gerade dabei habe ich die Notwendigkeit empfunden, heute noch etwas hinzuzufügen, weil ich das Augenmerk darauf lenken wollte, daß man nicht etwa in die anderen Extreme verfallen darf. Unser ganzes Wirken und das ganze Wesen unserer Bewegung muß darauf beruhen, die geistige Welt geltend zu machen, muß darauf beruhen, unser eigenes Leben mit der geistigen Welt im Zusammenhang zu empfinden und zu erleben.
Dann aber, wenn uns das heilig ist, müssen wir in taktvoller Weise es ablehnen, daß das unmittelbar persönliche Leben, das subjektiv persönliche Leben in die Dinge hineingezogen werde. [...]
Aber auf der anderen Seite muß man mit aller Strenge zu Werke gehen, damit nicht das eintritt, was einer okkultistischen Bewegung im eminentesten Sinne schädlich wäre, nämlich das allmähliche Sich-Hineinleben in eine Dunstsphäre, in eine Sphäre der Unklarheit. Und was ist das für eine unglaubliche Unklarheit, wenn man sagen kann: Nicht die Lehre und nicht der Lehrer, sondern der Mensch wird gesucht – und dann wieder: Ach, der Mensch ist vom Bösen, die Lehre ist aber gut –, die Lehre, die man zuerst eben abgelehnt hat. Das ist ein Hineinleben in eine nebulose Sphäre; aber um Klarheit, Genauigkeit handelt es sich. Von diesem Gesichtspunkte aus müssen wir im Dienste unserer Bewegung die Sache betrachten.
19.10.1915, GA 254, 120ff.


Wie ich in meiner im Osterheft der „Anthroposophie“ veröffentlichten Entgegnung auf Irene Diet gezeigt habe, versucht Diet sogar, Mieke Mosmuller gerade in dem anzugreifen, was diese fortwährend betont. Mieke Mosmuller schildert von immer anderen Gesichtspunkten her die Befreiung von der Leibgebundenheit des Denkens, doch Diet wirft ihr ein leibgebundenes Denken vor! Mieke Mosmuller ruft mit wirklichem „Enthusiasmus“ dazu auf, das reine Denken zu entwickeln, und Diet kritisiert, dass sie Enthusiasmus habe! Mieke Mosmuller schildert auch die Schwierigkeiten und das zutiefst Entsagungsvolle bei der Entwicklung des reinen Denkens, und Diet behauptet, sie schildere die Schwierigkeiten nicht!

In dieser Weise könnte man sämtliche Einwände, die an anderer Stelle detailliert ausgeführt wurden, wiederholen. Wichtig ist hier, den Aufruf Rudolf Steiners ernst zu nehmen: Die Widersprüche bei den Gegnern zu entdecken, die Sphäre der Unklarheit... Und demgegenüber mit aller Energie danach zu streben, „sich ein ganz klares, exaktes Denken anzueignen – so gut man eben kann.“