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Alräunchen

von Manfred Kyber, aus: Das Manfred Kyber Buch. Rowohlt, 1979. Siehe auch www.manfredkyber.de.

Alräunchens Geburt

Es war ein trüber Regentag, als Alräunchen geboren wurde. Es war kein Landregen, von dem man Gutes erhofft. Es war ein nasser kalter Nebel, der alle Farben löscht und alle Kon­turen verwischt. Es war im Februar und Karnevalszeit, und durch den Nebel huschten Masken. Alräunchen lag in den Kissen, wimmerte und sah scheußlich aus. Drei Ärzte standen dabei und sprachen lateinisch. Zum Schluß meinten sie einstimmig, das Kind wäre ein „Fall“ und für die Lebensfähigkeit könnten sie nicht garantieren.

Die Eltern waren sehr betrübt. Es ist nicht angenehm, einen „Fall“ zum Kind zu haben. Kinder sollen hübsch normal sein. Nur tut man meistens nichts dazu im eigenen Leben. Man schließt Ehen standesgemäß und portemonnaiegemäß und nennt das Gottes Willen. Die Natur hat sich danach zu rich­ten. Das tut sie aber nicht. Deshalb ist die Natur auch nicht anständig, und man verhüllt sie, wo es irgend angeht. Das Verhüllen nennt man Sittlichkeit. Aus dem, was man Gottes Willen nennt, und aus dem, was man Sittlichkeit nennt, baut man das menschliche Leben auf. Es hält auch wunderschön, wenn alles hübsch normal ist. Nur, wenn die unanständige Natur sich meldet, reißt der Damm. Woraus man zu ersehen daß alles schön normal sein soll, daß man die Natur als unanständig auszuschließen hat und alles so zu sein hat, wie es getauft ist.

Alräunchen war also nicht normal, und darum wußte man nicht recht, wie man ihn taufen sollte. Ich sage „ihn“, Alräunchen war ein Knabe, vorausgesetzt, daß er am Le­ben blieb, was die Ärzte mit lateinischen Worten lebhaft in Zweifel zogen.
Die Verwandten standen auch herum und trösteten mit der bekannten großen und innigen Verwandtenliebe, die daher kommen soll, daß man denselben Namen trägt, und sagten, es könne doch noch etwas daraus werden. Man könne nie wissen und es hätte schon Fälle gegeben, wo... Sie erzählten die Fälle.
Es war sehr liebevoll von ihnen; denn im stillen waren sie froh, daß ihnen der „Fall“ nicht passiert war.
Schließlich faßte man sich allerseits und gab Alräunchen auch einen Namen. Aber der kommt für uns nicht in Frage. Wir wollen ihn so nennen, wie er den Leuten erschien, als Alräunchen. 

Alräunchen ist ein Wechselbalg, ein Wurzelmännchen, das tief in der Erde wurzelt und zum Wechselbalg wird, wenn man die Wurzeln aus der Erde herausreißt.
Dann zogen feinfühlige Verwandte den Vorhang der Wiege rücksichtsvoll zu, und Alräunchen blieb im Dämmerlicht seiner ersten Lebensstunde.
Draußen regnete es, und die Masken huschten durch den Regen. ­Drinnen war es still. Die Uhr tickte leise, und ein großer Kater schnurrte am Ofen.
Schließlich stand der Kater auf, schlich leise zur Wiege und schob den Vorhang behutsam mit der Pfote beiseite. Sein Schnurrbart sträubte sich tastend nach vorne, und er beäugte und beschnüffelte das Etwas in den Kissen mit genauester Sachkenntnis.
„Nein, das ist kein Mensch“, sagte er anerkennend, „das ist so etwas von uns, aber doch nicht ganz. Es ist sehr merk­würdig. Ich will mal sehen, was daraus wird.“
Da griff die Kinderhand nach der Pfote des Katers und hielt sie fest. Das war Alräunchens erste Freundschaft. 

Die Ansichten des Nußknackers

„Die Hauptsache im Leben ist, daß man alles zerbeißt und immer sauber zwei Schalen und einen Kern ausspuckt“, sag­te der Nußknacker und sah Alräunchen aus seinen wasserblauen Augen herausfordernd an.
Alräunchen war kein Baby mehr, sondern ein kleiner Knabe, und hatte den Nußknacker zu Weihnachten bekommen. Er hatte mitten unter dem Lichterglanz der Tanne gestanden, hatte eine bunte Uniform und einen Zopf gehabt und aus­nehmend grimmig ausgesehen. Seine Uniform, der lange Zopf und die Grimmigkeit nahmen seine ganze kleine Person im­mer völlig in Anspruch. 

Alräunchen liebte ihn in seiner Weise, wie alles, was seiner Obhut anvertraut war. Aber die Uniform und der Zopf ge­fielen ihm nicht, und die hölzerne Würde fand er komisch. Alräunchen war eben kein normales Kind. Noch immer nicht, wie die Verwandten sagten.
„Jawohl“, sagte der Nußknacker und knackte ordentlich mit der Kinnlade, „immer zerbeißen und ausspucken. Dann weiß man, woran man ist. Du bist natürlich wieder anderer An­sicht“, schloß er vorwurfsvoll.
„Alles kann man nicht zerbeißen“, sagte Alräunchen nach­denklich.
Der Nußknacker griff empört an seinen Zopf.
„Natürlich kann man das“, schrie er, „ich kann es wenigstens und alle, die eine Uniform und einen Zopf haben und solch einen Mund wie ich!“
Alräunchen schüttelte den Kopf. Er dachte an die Nächte, in denen er mit wachen Augen dagelegen und Dinge gesehen hatte, die nicht greifbar waren. Denn Alräunchen sah die See­len der Dinge und hörte lautlose Stimmen flüstern. Oh, die Kommode hatte neulich so schön aus der Großmutterzeit er­zählt und so komische Gesten dazu gemacht mit den zier­lichen Rokokobeinchen, und der Teekessel hatte immer die große Schnauze auf- und zugeklappt und hatte dazwischen­gesprochen, bis die Kommode pikiert geschwiegen hatte. Spä­ter hatten dann Schatten im Zimmer gesessen, schwache, um wahrnehmbare Gestalten mit Kleidern wie aus Spinn­web, und hatten ganz so ausgesehen, wie die Kommode es geschildert hatte. Sie hatten auf die alte Standuhr gezeigt und sich zugenickt . . . Oh, soviel hatte Alräunchen gesehen, wenn es auch noch nicht verstehen konnte.

Es sind traurige Augen, die das sehen. Es sind Alräunchen­augen. Sie sind selten, wie die Alräunchen selten sind. Das ist ein großes Glück; denn wo blieben sonst die Uniformen und die Zöpfe, die normale Sittlichkeit und all das, was die Menschen Gottes Willen nennen – wenn viele mit den traurigen Augen hinter die Dinge sehen würden?

„Nein, alles ist nicht greifbar“, sagte Alräunchen, „es gibt viel, viel mehr als das, was man greifen kann. Das Greifbare ist nur so nebenbei. Es ist nicht das Eigentliche.“
„Das ist Unsinn!“ schrie der Nußknacker und wurde noch röter, als er sonst war. „Was nicht greifbar ist, kann man nicht zerbeißen und ausspucken, also ist es gar nicht da. Das ist die einzig wahre Weisheit. Das ist exakt.“
Er spuckte zwei Nußschalen und einen Kern aus, gerade vor Alräunchens Füße. Es war wie ein ausgespuckter Beweis. Alräunchen schob die Schalen beiseite und aß den Kern auf. „Was war im Kern?“ fragte er.
„Wie soll ich das wissen, wenn du ihn verschluckt hast?“ brüllte der Nußknacker wütend, „du bist ein dummer Junge!“
Das war auch ein Beweis und sogar ein sehr üblicher und be­liebter. Alräunchen hatte ihn schon oft von anderen gehört, in der Schule und zu Hause, wenn er nach solchen Dingen fragte.

Der Nußknacker sah ein, daß er zu weit gegangen war. Er kriegte so viele Nüsse von Alräunchen und wurde abends immer sorgsam in ein kleines Bett gelegt, in dem er behaglich die hölzernen Beine ausstrecken konnte. Das war nötig. Denn es ist viel ermüdender, auf hölzernen Beinen zu stehen als auf beweglichen.
Er beschloß also, einzulenken.
„Es würde dir überhaupt viel besser gehen“, sagte er, „und du würdest nicht überall anstoßen und dir Beulen holen, wenn du hübsch und hölzern wie ich auf einem Fleck stehenbleiben würdest, statt dich auf allerlei Gebieten herumzutreiben. Man muß immer auf einem Fleck stehen. Dann passiert einem nichts. Man stört niemand und wird nicht gestört, weil alle wissen: auf dem Fleck steht der Nußknacker, da gehe ich nicht hin, sonst trete ich ihn, und er brüllt mich an. Das ist ganz einfach.“
„Wenn ich aber doch drauf trete - auf dich natürlich nicht - aber zum Beispiel überall dahin, wo sonst Nußknacker sind?“
„Das tut niemand, der vernünftig ist. Denn wer vernünftig ist, sitzt auf einem Fleck und rührt sich nicht.“
„Ich tu's aber“, sagte Alräunchen eigensinnig, „was dann?“
„Dann schnappen alle Nußknacker nach dir.“ 

Alräunchen lachte selig. „Huh - muß das komisch aussehen!“
„Sei nicht frech, weißt du“, sagte der Nußknacker, „das geht über den Zopf, verstehst du, das ist Revolution.“
­Alräunchen wußte nicht, was Revolution war. Er dachte, es könne nicht schlimm sein, wenn es nur an den Zopf geht. Alräunchen war ein Kind und wußte nicht, wie fest die Köpfe an den Zöpfen hängen und daß es oft Blut kostet, wenn die Zöpfe abgeschnitten werden.
„Nein, das ist nichts“, fuhr der Nußknacker fort, „du mußt immer auf dem Fleck bleiben, wo man dich hingestellt hat. Das ist die einzig wahre Weisheit.“
„Ich möchte in die Ferne“, sagte Alräunchen und sah mit den traurigen Alräunchenaugen in die Abenddämmerung.
„Was ist das - Ferne?“ sagte der Nußknacker mißbilligend. „Kannst du die Ferne greifen? Nein. Also ist sie nicht da. Nur der Fleck ist da, auf dem du mit den hölzernen Beinen stehst.“
„Ich sehe die Ferne“, sagte Alräunchen, „ich sehe viele, viele Fernen - ich möchte zu allen hin. Es muß schön sein. Ich möchte wissen, was dahinter ist...“
„Was nützt das?“ sagte der Nußknacker, „kannst du das zer­beißen und ausspucken?“
„Nein“, sagte Alräunchen etwas kleinlaut.
Denn die Fernen waren sehr, sehr fern, wie ihm schien. Es mußte ein weiter Weg sein, viel Weiter, zum Beispiel, als bis zur Stadt, wo Jahrmarkt war zur Johannisnacht. Da konnte man schon nicht zu Fuß hingehen. Jedenfalls war es nicht glaublich. Aber die Fernen, die lagen noch weiter, viel, viel weiter... 

„Siehst du“, sagte der Nußknacker befriedigt, „bleibe nur im­mer hübsch auf demselben Fleck! Eine Uniform mußt du auch tragen und einen Zopf, dann siehst du aus wie alle anderen Leute, und keiner tritt dich. Das ist die einzig wahre Weisheit.“
„Aber sind denn alle auf der Welt Nußknacker?“ fragte Alräunchen.
„Natürlich. Was denn sonst?“ sagte der Nußknacker und stell­te sich besonders gewaltig auf die steifen hölzernen Beine. „Natürlich. Wenigstens die Vernünftigen. Die anderen kom­men gar nicht in Frage. Das ist ein großes Glück. Man müßte ja sonst immer weiter vorwärtsgehen und würde geschubst werden. Ich danke! Man müßte ja vom Fleck gehen, und der Fleck ist so warm, wenn man immer drauf ist.“
Er spuckte die Nußschalen nur so um sich.
„Ich will aber nicht“, dachte Alräunchen und sah in die Abenddämmerung, bis dahinaus, wo sie sich in unbestimmten Linien verlor - in der Ferne...

Müffchen

Alräunchen saß beim Kater in der Sonne.
Die beiden hatten sich sehr lieb und waren immer zusammen, wenn der Kater nicht auf Mausefang oder sonst beruflich ver­hindert war.
Er hatte auch Alräunchen in alle Geheimnisse der Tierwelt eingeweiht, soweit er sie kannte und soweit er diese Kenntnis Alräunchen zu vermitteln für richtig hielt. Denn obwohl Alräunchen ein halbes Tier war, so war er doch auch ein Mensch und entwickelte sich mit menschlicher Langsamkeit. Also müßte das alles mit behutsamer Pfote geschehen, und eine solche hatte der Kater. Er war überaus klug und selbst unter diesen philosophischen Tieren ein Philosoph. Vor allem aber hatte er Alräunchen lieb, und Liebe führt noch sicherer und besser als Philosophie. 

„Ich fühle mich fremd hier“, sagte Alräunchen traurig und kraulte den Kater hinter dem Ohr.
Der Kater blinzelte mit zugekniffenen Augen in die Sonne. „Du wirst immer fremd sein“, sagte er mitleidig, „du siehst die Natur anders als die Menschen. Du fühlst dich eins mit ihr. Die Menschen glauben, sie stünden drüber. Sie müssen doch zurück zu ihr. Irgendwo führen alle Mäuselöcher ins Freie, wenn sie noch so kunstvoll und verzweigt sind. Es ist sportsmäßig ausgedrückt, entschuldige! Aber es ist ganz ähnlich.“
Alräunchen sah sehr traurig aus.
„Du mußt dich deswegen nicht grämen“, fuhr der Kater fort und schnurrte beruhigend, „du bist ja kein richtiger Mensch.“
„Was bin ich denn?“ fragte Alräunchen.
„Das weiß ich nicht“, sagte der Kater, „wahrscheinlich bist du ein Alräunchen. Ich weiß auch nicht alles. Nur die Menschen denken, daß sie alles wissen.“ 

„Ich möchte in die Ferne“, sagte Alräunchen, „da würde ich es gewiß erfahren. Aber der Nußknacker sagt, es gäbe gar keine Ferne.“
„Der Nußknacker ist ein Stück Holz“, sagte der Kater.
„Aber er spricht doch und schimpft sogar. Er sagt `dummer Junge´. Er zerbeißt Nüsse und spuckt sie aus. Darauf ist er sehr stolz. Er hat eine Uniform“, wandte Alräunchen ein.
„Viele Holzstücke haben Uniform“, sagte der Kater.
Alräunchen gab weitere Details. „Er streckt die Beine, wenn ich ihn ins Bett stopfe. Es knackt dann. Ich habe es deutlich ge­hört. Ganz gewiß. Er lebt also. Nicht wahr?“
„Was man Leben nennt, ja“, sagte der Kater, „aber es ist eben ein Nußknacker, weiter nichts. Ein Stück Holz, aus dem man eine Figur geschnitzt hat.“
„Der Lehrer in der Schule macht es aber ganz ebenso“, sagte Alräunchen, „er sagt auch: Das gibt's, und das gibt's nicht. Wenn man mehr fragt, sagt er auch: Dummer Junge! Der ist aber doch kein Nußknacker? Er ist auch nicht von Holz.“
Der Kater machte ein arrogantes Gesicht, so arrogant, wie es nur Katzen machen können.
„Man braucht nicht von Holz zu sein, um ein Nußknacker zu sein.“ 

Alräunchen dachte nach. Seine traurigen Augen waren weit und sehnsüchtig geöffnet. Er faßte die beiden Vorderpfoten des Katers und sah ihm ge­rade ins Gesicht.
„Ich habe dich immer sehr lieb gehabt, solange ich denken kann“, sagte er. „Bist du in der Ferne gewesen? Dann sage mir, wie man in die Ferne kommt!“
Da verlor sich das Grasegrün in des Katers Augen. Die kleinen Augenschlitze erweiterten sich, und die Pupillen wurden dun­kel und tief, als lägen lauter Rätsel dahinter. Er setzte sich groß und dick vor Alräunchen hin und sagte in feierlich mauendem Ton: „Ich wußte, daß du mich danach fragen wür­dest. Ich werde es dir sagen. Denn du mußt den Weg in die Ferne gehen, weil deine Augen sie suchen. Man sieht das im­mer an den Augen - bei meiner Übung natürlich. Bis jetzt durfte ich es dir nicht sagen. Du warst noch nicht reif dazu.“
„Ich bin ja auch jetzt noch ein Kind“, sagte Alräunchen zwei­felnd.
„Kinder finden es oft leichter als Erwachsene“, sagte der Ka­ter, „man findet es, wenn man danach sucht. Man ist reif, wenn man danach fragt.“
Ein verklärtes Lächeln ging über Alräunchens Gesicht, das blaß war vom Nachdenken. 

„In die Ferne kann ich dich nicht führen, die muß man selber suchen“, fuhr der Kater fort, „nur den Eingang kennen wir. Es ist ein großes Geheimnis. Die Menschen haben es gewußt. Jetzt haben sie es verlernt. Aber früher, weißt du, in den Isistempeln, als sie uns noch heilig hielten und in allen Geschöpfen den Bruder sahen - da, wo die Pyramiden auf dem gelben Sand stehen und die Palmen in der Sonnenglut - es war ein heiliges Land -, da kannten sie das Geheimnis.“
„Von dem Land hast du mir erzählt“, nickte Alräunchen.
„Jetzt wissen es nur wenige. Die Menschen sagen jetzt, sie stünden drüber. Sie sind Nußknacker. Aber ich weiß es. Ich war auch in dem Land - durch den Eingang, verstehst du. Das Land sieht jetzt anders aus. Aber die Spuren sind noch da, Welche die bronzenen Menschen in den Wüstensand gruben, die die Katzen liebten und das Geheimnis kannten.“ Alräunchen schauderte zusammen.
„Dann lehre mich das Geheimnis!“ bat er und sah in die klu­gen Tieraugen wie in einen Tempel.
„Du mußt dich nicht so aufregen“, sagte der Kater freundlich, „es ist ganz natürlich. Die Rätsel liegen nicht darin, sondern dahinter. Wir kennen sie nicht. Das ist das Menschliche in dir, das sich so aufregt. Das gibt sich. Die Menschen sind entwöhnt von allem, was Natur ist. Sie haben sich von ihr getrennt und klammern sich an das, was sie selbst ausgedacht haben. Sie hören die Stimme in sich nicht mehr.“
„Ich weiß es“, sagte Alräunchen, „aber bitte, sage mir das Ge­heimnis!“ 

„Sei nicht ungeduldig! Wenn du es kennst, brauchst du noch viel mehr Geduld. Du weißt doch, was Müffchen ist?“
„Ja“, sagte Alräunchen etwas enttäuscht, „wenn ihr euch so hinlegt, daß ihr ausseht wie eine Badewanne, und die Pfoten vorn so zusammenlegt, daß es aussieht wie ein Muff. Das ist Katzensitte, das hab' ich von dir gelernt. Aber was soll das? Das sieht niedlich aus. Aber das ist doch kein Geheimnis. Das seh' ich jeden Tag.“
„Alle Geheimnisse sind alltäglich. Man weiß es nur nicht. Das Geheimnis ist Müffchen. Die Menschen im Heiligen Lande nannten es Meditation. Du mußt also Müffchen machen - Müffchen.“ Der Kater zeigte die Müffchenstellung, obwohl Alräunchen sie kannte. „Das andere kommt von selbst“, er­klärte er.
„Ich kann aber nicht richtig Müffchen machen“, sagte Alräun­chen und versuchte es vergeblich.
„Es muß nur so ähnlich sein“, tröstete der Kater, „du brauchst bloß deine Pfoten zu falten, wie du es tust, wenn du abends dein Gebet hersagst.“
„Ja, das kann ich“, sagte Alräunchen, „und das andere kommt dann von selbst? Dann komme ich also in die Ferne?“
„Nur zum Eingang“, belehrte der Kater, „heute abend ver­suchen wir es beide, wenn du zu Bett gegangen bist. Den Nuß­knacker mußt du aber in den Schrank einschließen.“ Alräunchen war sehr froh. 

„Wohin gehen wir zuerst? Ins Heilige Land mit den Isis­tempeln?“
„Nein“, sagte der Kater, „ich kann gar keine Verantwortung übernehmen. Erst gehen wir zum Eingang. Das Weitere sagt uns Habakuk.“
„Wer ist Habakuk?“
„Ein Waldkauz, mit dem ich befreundet bin, aber nur müff­chenweise.“
„Also gehen wir zu Habakuk“, sagte Alräunchen, „hat er auch solche Laternenaugen wie die Eule im Tierbilderbuch?“
„Ja, die hat er.“
„Ich freue mich so, und ich danke dir“, sagte Alräunchen.
„Du brauchst mir nicht zu danken. Du hast mich lieb gehabt. Auf Wiedersehen am Abend! Ich habe jetzt noch beruflich zu tun.“ Der Kater schlich in eine Hecke, wo er etwas rascheln hörte.

- - -

Es war eine ganz stille Nacht in Alräunchens Schlafzimmer. Nur die Atemzüge eines Tieres und eines Menschenkindes waren hörbar, das kein richtiges Menschenkind war. Beider Atemzüge waren schwach und leise. Es war, als atmeten sie nur wie Pflanzen in nächtlicher Schwüle. Ihre Seelen waren fern. Der Mond sah mit blassem Gesicht zum Fenster hinein. Er sah, was er schon vor abertausend Jahren gesehn: Medi­tation - Müffchen...

Habakuk

Alräunchen schlief nicht. Aber es war sehr ähnlich, als ob er einschlafen wollte. Ihm war es, als drehe sich ein Rad um ihn, ein großes Rad mit vielen, vielen Speichen. Immer schneller drehte es sich, man konnte schwindlig werden dabei.
Dann stand es still. 

Alräunchen war es, als löse sich etwas von ihm los, das frei war, und als bliebe etwas von ihm zurück, das nicht frei war. Aber das, was frei war, war das Eigentliche. Alräunchen ging auf grünem Waldboden. Er fühlte das weiche Moos deutlich unter seinen Füßen. Die Farnblätter raschelten. Ihre seltsamen Formen regten sich im Winde. Es war dunkel im Walde, und doch war es hell. Es war, als leuchteten alle Gegenstände in sich und hätte jeder sein eigenes Licht. Es war sanft und schwach; aber doch sah man alles deutlicher als im Licht, das von außen auf die Dinge fällt.

Alräunchen sah um sich. Neben ihm ging der Kater.
Sie kamen an einem Nest vorbei. Kleine Flügel lagen reglos im Schlaf unter den Flügeln der Mutter.
„Jetzt sind wir gleich bei Habakuk“, sagte der Kater und blieb an einem hohlen Baumstamm stehen.
„Ist Habakuk zu Hause?“ fragte er eine Kröte, die am Fuße des Baumes saß.
„Jawohl“, sagte die Kröte und kokettierte mit den Augen. Kröten sind voller Warzen, aber sie haben sehr schöne Augen.
„Bitte, melden Sie uns!“ sagte der Kater von oben herab. Er hielt nichts von quabbeligen Leuten.
Die Kröte, die sich ihrerseits aus alten Katern nichts machte, kokettierte mit Alräunchen. Dann unkte sie etwas in den hoh­len Baumstamm hinein. Es war eine Art Haustelefon, denn gleich darauf erschien Habakuk oben in einem Loch. Er sah aus wie ein Paket aus Federn, dem man Augen ein­gesetzt hat. Die Augen glühten. 

„Guten Abend“, sagte der Kater, „erlaube, daß ich vorstelle: Alräunchen - Habakuk.“ Er machte eine vollendete Pfoten­bewegung. Das Paket verbeugte sich.
„Alräunchen möchte in die Ferne“, sagte der Kater, „er will dich fragen, wie man das am besten macht. Du bist so sehr klug.“
Das Paket räusperte sich krächzend.
„Ja, ich möchte in die Ferne“, sagte Alräunchen, „ich will auch gerne weit gehen, wenn ich nur weiß, wohin ich gehen soll.“ Habakuk sah ihn mit seinen großen Augen lange an. „So weit, wie du willst, bin ich niemals gewesen. So weit, wie du willst, wirst du auch kaum gehen können“, sagte er.
„Nimm's mir nicht übel, lieber Habakuk“, sagte der Kater, „das sind Eulenrufe. Wir glauben auch gar nicht, daß du mit deinen rheumatischen Krallen sehr weit gelaufen bist. Wir wollen Anhaltspunkte, wo man sich einhaken kann. Verstehst du – mau!“ 

Habakuk warf Alräunchen ein grünes Blatt vor die Füße. „Was ihr wollt, steht auf allen Blättern zu lesen, den grünen und den verwelkten.“
„Ach, bitte, lies es mir vor!“ bat Alräunchen.
Habakuk kniff die Augen zusammen.
„Eigentlich vorlesen läßt sich das nicht. Der Weg beginnt bei den Schlafenden, steht drauf.“
„Er beginnt bei den Schlafenden“, wiederholte Alräunchen, „was heißt das?“
„Das weiß ich nicht“, sagte Habakuk, „dann führt er zu den Wachenden, und von den Wachenden führt er in die Ferne.“
„Das verstehe ich nicht“, sagte Alräunchen.
„Glaubst du, daß ich es verstehe?“ schrie Habakuk empört. „Sonst wäre es doch kein Geheimnis! Sei froh, daß du das weißt! Was brauchst du mehr zu wissen als eine Eule? So was muß man glauben! Du bist ein dummer Junge!“ Das Paket verschwand wütend. 

„Siehst du, er sagt dasselbe, was mir immer gesagt wird“, sagte Alräunchen gedrückt.
„Es ist ein unhöflicher Patron“, sagte der Kater, „er meint es nicht so. Er hat Rheumatismus.“
„Nun werde ich niemals die Ferne finden“, sagte Alräunchen traurig.
„Ja, da hilft nun weiter nichts“, tröstete der Kater, „es wird schon irgendwie gehen. Wir müssen eben suchen.“
„Ja, wir wollen suchen“, sagte Alräunchen. 

Die Morgendämmerung spann ihre ersten Fäden ins Dunkel. Die Kröte hatte sich verkrochen. Im Vogelnest regten die Kleinen ihre Flügel unter den Flügeln der Mutter.
„Suchet, so werdet ihr finden“, sagte Alräunchen vor sich hin. Er hatte es in der Schule gelernt, aber er hatte es nicht verstand­en. Es war wohl auch ein Geheimnis.
Es war sonderbar, daß es ihm nun so plötzlich einfiel. Am Ende war es das Geheimnis, das in die Ferne führte? . . . Hatte er es überhaupt gesagt? Ihm war, als sei es nicht seine eigene Stimme gewesen.
Er blickte sich scheu nach allen Seiten um. Es war niemand da.
Nur der Kater trottete neben ihm durch den Morgentau und hob vorsichtig die Pfoten. Es sah sehr komisch aus, und Alräunchen mußte lachen. 

So glitt Alräunchen ins Menschenleben zurück. Er wachte in seinem Bett auf. Die Sonne schien ins Zimmer.
Der Kater saß und leckte sich die Pfoten. 

Alräunchens Gang zu den Schlafenden

Das Rad drehte sich wieder. Dann stand es still.

Alräunchen war ganz klein geworden. Er war mitten in der Erde. Dazu muß man erst ganz klein werden, sonst kann man nicht hinein. Drinnen konnte man ganz schön sehen, obgleich es in der Erde war. Es war ähnlich wie in der Nacht bei Haba­kuk. Die Dinge leuchteten in sich. Es war, als ob sie aus bun­tem Glas wären und von innen erleuchtet würden. Alräunchen stand an einem Stein. Es war ein durchsichtiger Kristall von bläulicher Farbe.

„Mir ist es hier zu tief“, sagte der Kater und schnupperte, „ich möchte an die Oberfläche. Da müßten Feldmäuse sein.“ Sein Schnurrbart sträubte sich.
Alräunchen hörte nicht hin. Er sah etwas, was er noch nie ge­sehen hatte. Der Stein bewegte sich. Kaum merklich erst. Jetzt ging es schneller. Der Stein wuchs. Er setzte lauter bläuliche durchsichtige Kristalle an. Einer war dem anderen so gleich, als wären sie in eine Form hineingewachsen, die nicht da war. Alräunchen wollte die Form suchen. Aber er fand sie nicht. Die neuen Kristalle regten sich wieder. Es war, als ob sie atmeten. Alräunchen kletterte an ihnen hoch. Der Kater folgte. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie oben waren. Sie waren ja jetzt so klein geworden. Dabei war das Ganze nicht größer als der Stein in einem Ring. Auf den Kristallen lag Erde. Sie war weich und warm. Der Kater scharrte darin mit den Pfoten. Er fand nichts als ein Samenkorn.
„Ich gehe jetzt an die Oberfläche“, sagte er, „die Sache mit dem Stein war ja sehr nett. Aber ich glaube, oben sind Feld­mäuse. Ich höre da so leise trommelnde Schritte. Schade, daß ich hier nur in Meditation bin.“
Der Kater verschwand. 

Das Trommeln kam aber nicht von oben. Es war hier unten im Samenkorn. Alräunchen hörte es deutlich. Es klopfte leise von innen an die Hülle. Die Hülle spaltete sich, und ein schwaches Flämmchen lohte auf. Alräunchen faßte sich ein Herz und tauchte hinein. Er hatte vollauf Platz darin. Er war ja so klein geworden. Das Flämmchen hatte seltsame Formen. Es war eine ganz richtige Zeichnung darin.
Jetzt krochen feine Wurzeln draus hervor und klammerten sich um den Kristall wie schwächliche Ärmchen. Nun hatten sie ihn eingesponnen und hielten sich daran fest.
Alräunchen freute sich. Er fand es sehr praktisch. 

Mit einem Male wurde er emporgezogen. Er saß wie in einer engen Röhre, durch die noch viele tausend kleine Röhren lie­fen. Es arbeitete unaufhörlich darin wie in einer großen Was­serleitung. Alräunchen fühlte, wie er selbst immer stärker und dicker wurde und wie er immer höher gehoben wurde. Es war sehr schön – so, als ob man ganz tief aufatmet und der Druck um einen immer schwächer wird. Nur zog es so sonderbar in den Gliedern.
Dann war er wieder in lauter feine Tücher eingewickelt, die kühl waren und nach Rosen dufteten. Alräunchen wunderte sich. Aber er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er lebte und lebte doch nicht. Er sah auch nichts mehr. Er fühlte nur, daß er da war und daß es ruhig und erholend war. 

Da falteten sich die kühlen feinen Tücher auseinander. Die Sonne schien herein, und Alräunchen rieb sich die Augen.
Ich habe geschlafen und geträumt, dachte er.
Alräunchen lag in einer Rose, die sich schaukelte. Unten am Stamm saß der Kater und schnurrte.
„Ich habe keine Feldmäuse gefunden“, sagte er. „Ich habe mich wohl versehen. Das, was auf so leisen Sohlen ging, war nicht oben, sondern unten.“
Alräunchen kletterte vorsichtig auf den Boden hinab. „Es war alles sehr merkwürdig“, sagte er. „Wir wollen nach Hause gehen. Aber es war eigentlich ein recht kurzer Spaziergang.“ 

„Es ist ein sehr weiter Weg“, sagte eine Stimme neben ihm, „er scheint dir nur so kurz, weil du in die Ferne siehst.“ Es war dieselbe Stimme, die sprach, als sie von Habakuk gingen in der Dämmerung. War es seine – war es eines anderen Stimme? Alräunchen wußte es nicht.
Da sah er jemand neben sich gehen. Es war ein stiller, ernster Mann mit guten, traurigen Augen, die in die Ferne sahen. Er war sehr einfach gekleidet. Um seinen Kopf war ein Schein von Licht. Alräunchen erschrak gar nicht. Es kam ihm sehr selbstverständlich vor. Er kannte den stillen Begleiter. Er wußte nur nicht, wann er ihn schon gesehen hatte. Einmal vielleicht, als er in die Ferne gesehn... 

„Es war der Gang zu den Schlafenden“, sagte der stille Be­gleiter freundlich. „Sie schlafen. Aber sie träumen schon.“
Alräunchen nickte und sah zu dem stillen Begleiter auf. Es war sonderbar. Der Mann bewegte die Lippen nicht, wenn er redete. Und doch redete er.
Es war ein Reden in der Stille. Das hatte Alräunchen noch nie gehört. Nun wußte er, daß es das gab. Er konnte es sich nicht erklären. Aber es beglückte ihn. 

Alräunchens Gang zu den Wachenden

Das Rad drehte sich wieder. Dann stand es still.

„Es ist das Rad des Lebens“, sagte der stille Begleiter. Alräunchen sah ihn vor seinem Bett stehen und freute sich.
„Das ist schön, daß du kommst“, sagte er, „ich will es gleich dem Kater sagen.“
„Den Kater wollen wir heute in Ruhe lassen“, sagte der stille Begleiter und strich dem schlafenden Tier behutsam über das feine Fell. „Heute müssen wir allein gehen. Für deinen Kater ist der Gang zu weit.“
„Es ist gewiß der Gang zu den Wachenden, von denen Haba­kuk erzählte, bevor er wütend wurde“, sagte Alräunchen und war sehr neugierig. „Für mich wird es auch gewiß nicht zu weit sein“, schloß er eifrig, „denn ich will ja in die Ferne.“
Der stille Begleiter lächelte. Es war ein trauriges Lächeln. „Für dich ist der Weg auch zu weit“, sagte er, „wenigstens heute. Ich werde dich nur zum Anfang führen. Später gehst du ihn allein weiter. Er ist sehr mühsam. Stufe um Stufe. Am Ende ist die Ferne. Komm!“
Er nahm Alräunchen bei der Hand.
„Dann werde ich die Ferne doch noch sehen?“ fragte Alräun­chen glücklich.
Der stille Begleiter nickte mit dem Kopf. Es war ein Licht­schein um ihn.
„Einmal wirst du sie sehen“, sagte er. 

Sie gingen nebeneinander. Es war Wildnis um sie. Es waren Blutspuren in der Wildnis.
Alräunchen freute sich nicht mehr, daß er mitgegangen war. Ein Raubtier strich an ihnen vorbei. Alräunchen konnte es nicht erkennen. Es war groß und stark und leckte sich hungrig die Schnauze. Seine Augen flatterten. Es schlich leise auf fe­dernden Sohlen nach Beute. Dann schrie etwas auf, gellend und voller Entsetzen. Das Raubtier heulte siegesfroh im Dickicht. 

Alräunchen schauderte und griff nach der Hand dessen, der mit ihm ging.
„Muß das sein?“ fragte er angstvoll.
Der stille Begleiter sah zur Seite.
„Es folgt den Blutspuren, die andere vor ihm hinterlassen haben. Es ist eine Stufe. Der Weg, den wir gehen, hat lauter Stufen. Darum ist er so mühsam.“
„Ich glaube, mir ist der Weg zu weit“, sagte Alräunchen klein­laut. 

Der stille Begleiter faßte die Hand des Kindes ganz fest. „Du mußt ihn doch gehen, wenn du in die Ferne willst“, sagte er. „Aber heute führe ich dich nicht mehr weit. Sonst wirst du zu müde. Man darf nicht müde werden, wenn man den Weg geht.“
„Ich will auch nicht müde werden“, versprach Alräunchen tapfer, „denn ich will in die Ferne.“ 

Die Wildnis lichtete sich. Sie kamen auf einen Weg. Andere Wege kreuzten ihn. Es standen wenig Blumen am Wegrand. Die Gleise in den Wegen aber waren sehr tief. In den Gleisen kroch ein Lastwagen. Die Räder knirschten im Sande. Jetzt stockte die Last. Der Führer trieb die müden Klepper an. Sie keuchten und legten sich von neuem ins Joch. Von der an­deren Seite her trieb man eine Kuh zum Schlachthof. Sie brüllte klagend nach ihrem Kalb. Das Kalb hörte sie nicht mehr. Es war weit. Das Schlachthaus stand groß und grau in der dicken Nebelluft.
Alräunchen war müde und weinerlich. „Ich will nach Hause“, sagte er.
„Sie fahren immer dieselben Gleise“, sagte der stille Begleiter, „sie fahren in den Gleisen, die andere vor ihnen gefahren sind. Die Gleise sind schon zu tief. Es ist eine Stufe.“ 

Sie gingen weiter. Im Straßengraben saß ein alter Mann. Er hatte einen ganz gekrümmten Rücken. Man sah es deutlich, denn er hatte den Kasten abgenommen, den er sonst auf dem krummen Rücken schleppte. Es war Tand im Kasten. Der alte Mann handelte damit. Er zählte das Geld nach, das er eingenommen hatte. Es war wenig. Aber heute konnte er nicht mehr weiter mit dem Kasten. Es war zu schwer. Der Mann beugte den Rücken noch mehr und hustete. So wie alte Leute husten – schleppend und qualvoll.
„Es sind so wenig Blumen am Wegrand, wo der alte Mann sitzt“, sagte Alräunchen.
„Es sind mehr Blumen da“, sagte der stille Begleiter freund­lich. „Du siehst sie noch nicht. Du wirst sie sehen lernen.“
„Sieht der alte Mann sie auch nicht?“
„Er wird sie bald sehen“, sagte der stille Begleiter. 

„Die Wege gehen so durcheinander“, sagte Alräunchen, „ich wüßte nicht, welchen ich gehn sollte. Es war schöner bei den Schlafenden als bei den Wachenden.“
„Sie wachen. Aber sie sehen noch nicht. Darum gehn ihre Wege durcheinander. Es sind Irrwege. Sie drehn sich im Kreise um sich selbst in den alten Gleisen. Die Wege führen alle auf eine große Straße. Wenige finden sie.“
„Es ist auch zu dunkel“, sagte Alräunchen.
„Man muß im Dunkel gehn, um die Sterne zu sehen“, sagte der stille Begleiter.
„Ich will die Straße finden“, sagte Alräunchen.
Der Schein um das Haupt des stillen Begleiters wurde ganz hell und licht.
„Du wirst sie finden“, sagte er, dies ist nur der Anfang. Wei­ter mußt du allein gehen.“
Alräunchen wurde es schwindlig.
Das Rad des Lebens drehte sich wirr und wild. 

Als Alräunchen am Morgen erwachte, war er müde. So müde, wie er noch nie gewesen war.

Ein Ende, das nur ein Anfang ist

Alräunchen war vom Lande in die Stadt gekommen. Er sollte eine höhere Schule besuchen. Es war die Stadt, wo zum Johannisfest Jahrmarkt war. Alräunchen kam es vor, als sei immer Jahrmarkt in der Stadt, bunt und laut und lärmend. Er sehnte sich nach dem Kater.
Eines Tages teilte man ihm mit, daß der Kater gestorben wäre.
Man sagte es schonend und vorsichtig. Man wußte nun schon, daß Alräunchen kein normales Menschenkind war. Alräun­chen ging auf sein Zimmer und weinte. Er weinte bitterlich, es war der erste große Schmerz seines Lebens, und Al­räunchen war ein Kind. 

Alräunchen wußte damals noch nicht, daß er immer ein Kind bleiben würde. Sonst hätte er noch viel bitterlicher geweint. Aläunchen weinte. Der Jahrmarkt des Lebens versank vor ihm, und es war still um ihn wie früher, als er Müffchen machte mit dem Geschöpf, um das er weinte. Es war ganz still. Nur sein Herz schlug hörbar.
„Ich möchte noch einmal meinen Kater sehn“, sagte Alräun­chen. Aber er sagte es lautlos. Es war ein Reden in der Stille. Das konnte er nun. Es ist sehr viel, wenn man das kann. 

Da stand der stille Begleiter neben ihm und legte ihm die Hand auf die Augen.
Alräunchen war es, als sähe er die ganze Erde umsponnen mit einem Netz von Wegen. Es waren die Irrwege. Er kannte sie deutlich wieder. So viele irrten in dem Netz, es war nicht zu übersehen. Mitten hindurch aber zog sich eine breite Straße, so klar und deutlich, daß man sich sehr wundern mußte, daß niemand sie sah. Es waren nur wenige auf der Straße.
„Das ist die Straße des Erbarmens“, sagte der stille Begleiter, „nun siehst du in die Ferne, weil du durch Tränen gesehen hast.“ 

Jetzt sah Alräunchen den Kater auf der großen Straße gehen. Er erkannte ihn genau. Nur sein Fell erschien ihm lichter, und es war ein fremder Schein um ihn. Am Ende der Straße stand eine Brücke. Die war das Schönste, was Alräunchen je gesehn hatte. Aber man konnte nicht er­kennen, wohin sie führte. Sie verschwand im Licht. Alräunchen sah den Kater auf der Brücke. Dann sah er ihn nicht mehr. Das Licht hatte ihn aufgenommen. Da begriff Alräunchen, was er bisher nur geahnt hatte – die Heiligkeit des Geschöpfes.

Und er wußte, welche Straße er gehen würde. Er wußte auch, daß er sehr, sehr einsam sein würde auf diesem Weg. Denn die Straße des Erbarmens ist menschenarm.
Alräunchen barg den Kopf in den Händen. Ihm graute vor sei­nem Leben.
„Du wirst doch nie ganz allein sein“, sagte der stille Begleiter. Es ist kein Ende.
Es ist nur ein Anfang. Es ist ein kleiner Anfang. Aber es ist ein Aufstieg.
In der Ferne des Weges steht die Brücke im Licht.