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Mummelchen

von Manfred Kyber, aus: Das Manfred Kyber Buch. Rowohlt, 1979. Siehe auch www.manfredkyber.de.


Es war einmal eine schöne kleine Nixe, die hieß Mummelchen und lebte im Mummelteich. Mummelchen fühlte sich immer so sehr einsam im Mummelteich, denn der Mummelteich war recht sumpfig, und alle, die darin herumkrabbelten, waren sehr versumpft und scheuten sich beinahe schon vor dem kla­ren Wasser. Sonst waren ja auch ganz nette Leute darunter, zum Beispiel die Froschvettern, die abends so schön sangen und auch stets von ausgesuchter Höflichkeit waren. Die Un­ken waren dicke alte Tanten, die es gut meinten; aber immer, wenn sie Mummelchen sahen, so unkten sie sie an und rieten ihr, doch endlich auch einen richtigen anständigen Kraken zu heiraten und mit ihm ins Meer hinauszuschwimmen, so wie es ihre Schwestern getan hatten. Das war so langweilig, denn wenn auch Mummelchens Schwestern alle so sehr richtige und anständige Kraken geheiratet hatten - Mummelchen selbst hatte gar keine Lust dazu. Sie sehnte sich nach etwas ganz anderem, nur wußte sie selbst nicht recht, wonach sie sich eigentlich sehnte, und niemand im ganzen Sumpf wußte es, weder die Froschvettern noch die Unkentanten und nicht einmal die Seerosen, die immer träumten und mit offenen Kelchen das silberne Mondlicht tranken.

Aber eines Nachts, als Mummelchen mitten unter den See­rosen saß, da schienen die Sterne am Himmel so klar und spie­gelten sich im Mummelteich, so daß es aussah, als wäre die ganze gestirnte Nacht in den See versunken. Denn die Sterne scheinen in jeden Sumpf, und es ist nicht ihre Schuld, wenn es die Unken nicht merken.
Mummelchen aber hatte die Augen, die die Sterne sehen, und wie sie die vielen Sterne sah, da wußte sie mit einem Male, wonach sie sich immer gesehnt hatte: Sie wollte eine Seele haben, darin sich auch die ewigen Sterne spiegeln könnten. Was eine Seele war, wußte sie freilich noch nicht genau zu sagen, aber das hätte sie ja auch erst gekonnt, wenn sie eine gefunden hätte. Sie sagte sich auch, daß es gewiß sehr schwer sein würde, eine Seele zu finden, aber versuchen wollte sie es jedenfalls.
Wenn sie nur jemand nach dem Weg zu einer Seele hätte fra­gen können - sie war ja eine so unerfahrene junge Nixe und wußte gar nicht Bescheid mit solchen Dingen. Aber die Frosch­vettern hätten ihr nur Höflichkeiten gesagt, und die Unken­tanten hätten ihr nur wieder geraten, endlich einen anständi­gen Kraken zu heiraten. Da beschloß Mummelchen, den alten Quabbelonkel zu fragen, denn er war die älteste und klügste Person im ganzen Sumpf - und wenn der es nicht wußte, dann konnte es gewiß niemand wissen.

So stieg denn Mummelchen in den tiefsten Sumpf hinab, und da saß der Quabbelonkel und aß Miesmuscheln. Der Quabbel­onkel war so eine Art Gallertkugel mit Froschbeinen und Krötenärmchen. Sein ganzer Körper war mit Miesmuscheln bedeckt, die auf ihm wuchsen und die er sich absuchte und verspeiste. So hatte er seine Nahrung immer bei sich. Er hatte ganz kleine, geschlitzte Äuglein im Quabbelkopf, aber dafür war sein Mund so ungeheuer groß, daß er mit der Mitte des Mundes sprechen, in der einen Ecke Miesmuscheln hinein­stecken und aus der anderen Ecke die Schalen wieder aus­spucken konnte. Und das konnte er alles gleichzeitig.

„Onkel Quabbel“, sagte Mummelchen, „ich möchte dich gerne etwas fragen.“
„Ich weiß schon“, sagte der Quabbelonkel, „du hast schon wieder Sehnsucht und weißt nicht, wonach. Aber mir ist nun eingefallen, wonach du dich immer sehnst. Du sehnst dich nach mir, mein liebes Mummelchen.“ Und der Quabbelonkel lachte, daß sein ganzer Gallert ins Schwanken geriet und die Miesmuscheln an seinen Beinen klapperten.
„Nein“, sagte Mummelchen, „nach dir sehne ich mich nicht. Dich habe ich ja auch immer da und brauche dazu nur in den tiefen Sumpf hinunterzusteigen. Aber ich weiß jetzt, wonach ich mich sehne.“
„So“, sagte der Quabbelonkel, „dann setze dich auf meinen Schoß und erzähle es mir.“
„Auf deinen Schoß kann ich mich nicht setzen, Onkel Quab­bel“, sagte Mummelchen, „du hast ja gar keinen Schoß, weil dein Bauch so groß geworden ist.“
„Ja, das ist wahr“, sagte der Quabbelonkel und sah auf seinen Gallertbauch, „ich mache mir zu wenig Bewegung. Aber wenn ich mir Bewegung mache, dann wachsen mir die Mies­muscheln nicht mehr am Leibe, und das ist so sehr bequem. Du könntest aber mal Kribbel-Krabbel auf meinem Bauch machen, das habe ich sehr gern, und dann bekommen mir die Miesmuscheln auch besser.“

Mummelchen schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Lust dazu. Der Onkel war so scheußlich glitschig. „Nein, Onkel Quabbel“, sagte sie, „ich habe keine Zeit, Krib­bel-Krabbel auf deinem Bauch zu machen, du kannst die Un­kentanten darum bitten. Ich muß fort von hier, denn ich muß gehn, mir eine Seele zu suchen.“
„Liebes Kind“, sagte der Quabbelonkel, „bleibe lieber hier und iß Miesmuscheln. Ich will dir die fette Muschel schenken, die auf meinem linken großen Zeh sitzt.“
„Nein, ich danke dir“, sagte Mummelchen, „iß sie nur allein auf - und guten Appetit! Sage mir lieber, was ich tun muß, wenn ich eine Seele suchen will.“ „Ja, Kindchen“, sagte der Quabbelonkel, „ich denke mir, wenn jemand etwas suchen will, wird er sich bewegen müs­sen, du mußt wandern. Aber ich täte es nicht, es wird dir nicht bekommen.
„Ich will wandern gehen“, sagte Mummelchen, „denn ich sehne mich so sehr nach einer Seele. Aber wohin muß ich wandern, um eine Seele zu suchen?“
„Ja, Kindchen“, sagte der Quabbelonkel, „ich denke mir, du wirst wohl aus dem Sumpf heraus müssen. Wohin du dann gehst, weiß ich auch nicht. Ich bin noch nie aus meinem Sumpf herausgekommen.
„Die Sterne riefen mich, ich will den Sternen nachgehen“, sagte Mummelchen und stieg langsam zum Spiegel des Mum­melsees hinauf.
„Es kann dir nicht bekommen, Kindchen“, rief der Quabbel­onkel und streckte beschwörend den linken großen Zeh mit der fetten Miesmuschel aus.

Aber es war zu spät. Mummelchen war ans Ufer geschwom­men und wanderte durch Ried und Heide den Sternen nach...
Aber je weiter sie wanderte, um so ferner rückten die Sterne, und es schien ihr, daß der Weg nach den Sternen ein sehr wei­ter und beschwerlicher Weg sein müsse. Und als sie müde wurde vom weiten Weg, da wurde die Nacht dunkel und die Sterne erloschen. Das geht einem jeden so, der den Sternen nachgeht.
Mummelchen war sehr erschrocken, als sie sah, daß die Sterne erloschen und es dunkel und weglos um sie herum wurde.
„Aber wenn die Sterne vom Himmel fort sind“, dachte sie, „so sind sie sicherlich auf die Erde heruntergefallen und spie­len dort Verstecken. Ich werde ins Dunkel hineingehen, bis irgendwo ein Lichtlein aufloht. Dem will ich dann nachwan­dern, und das wird sicher ein Stern sein, denn es ist doch viel zu schwer für einen Stern, sich auf der Erde zu verstecken, daß man gar nichts mehr davon sieht.“

Mummelchen wußte eben nicht, daß nicht immer ein Stein vom Himmel fällt. Und sie wußte auch nicht, daß ein Stern sich gar nicht zu verstecken braucht, wenn er mal vom Him­mel auf die Erde gefallen ist. Es sieht ihn auch so niemand, und alle Leute gehen dran vorüber, selbst wenn es ein noch so leuchtender klarer Stern ist und wenn er auch mitten auf der Gasse liegt. Es sind die Alltagsgedanken der Menschen, die ihr graues Bahrtuch drüberdecken, und darunter sind schon manche Sterne erloschen. Mummelchen hätte ja vielleicht den Stern bemerkt, weil sie kein Mensch war, aber es fiel nun mal keiner vom Himmel. Die Sterne fallen nur, wenn sie selbst wollen, und das kann ihnen niemand verdenken.
So wanderte Mummelchen weiter durchs sternenlose Dunkel, und ihre Füße wurden so müde und wund, wie die Füße aller werden, die den Sternen nachgehen.

Da endlich lohte ein Licht auf einem hohen Berge auf, und als Mummelchen näher kam, da sah sie, daß das Licht in einem großen Schlosse war, das Mauern und Türme und Erker hatte und in dem es eine Menge Prunkzimmer geben mußte, denn es blitzte aus allen Fenstern heraus von Gold und Edel­steinen.
„Das muß eine ganze Sternenversammlung sein“, dachte Mummelchen und ging gerade in das Schloß hinein.
Im Schloß waren ein König und eine Königin und eine ganze Menge Lakaien und Zofen, die nur für den König und die Königin da waren. Die Lakaien des Königs waren die Würden­träger des Reiches, und die Zofen der Königin waren die Frauen der Lakaien und hießen Hofdamen.
„Es ist mehr bunt als schön, und eine Sternenversammlung ist es nicht, wie ich hoffte“, dachte Mummelchen, „aber eine Seele muß ich sicher hier finden, wo so viele vornehme Menschen sind. Ich werde warten, bis die Leute näher kommen, dann will ich sie nach einer Seele fragen.

Und Mummelchen setzte sich, da sie so müde geworden war, auf ein Ruhebett im Königssaal, um zu warten, bis die ganze Hofgesellschaft näher kommen würde. Als die vielen Lakaien Mummelchen sahen, machten sie sehr entsetzte Gesichter, Aber sie sagten nichts, denn sie waren Lakaien und durften lur sprechen, wenn sie gefragt wurden. Die Königin aber, die keine Märchenkönigin, sondern eine Menschenkönigin war, lag auf Mummelchen zu und fragte sie, wer sie sei und ob sie am Ende Hofdame werden wolle. Denn die Königin war eine sehr praktische Frau, und sie hatte gleich gesehen, daß Mummelchen sehr schön war.
„Bekomme ich dann eine Seele?“ fragte Mummelchen.
„Nötig ist das nicht“, sagte die Königin, und sie war sehr un­angenehm berührt von einem so wenig hoffähigen Wunsche. „Dann möchte ich lieber keine Hofdame werden“, sagte Mum­melchen, „denn ich bin eine Nixe und suche eine Seele.“
„Pfui, wie scheußlich!“ sagte die Königin, „eine Nixe hat nasse Kleider, und damit setzt sich die Person auf mein königliches Kanapee!“ „Scheußlich!“ riefen alle Lakaien und Hofdamen.
Mummelchen aber ging traurig aus dem Schloß hinaus, und sie wußte nun, daß hier eine Seele nicht zu finden war. 

So wanderte Mummelchen weiter, bis sie wieder ein Licht schimmern sah aus einem großen Hause mit dicken Mauern und festen Gewölben. Das Licht war sonderbar gelb und fahl und sah nicht aus, als ob es ein Stern wäre. In dem Hause lebte ein reicher Mann und zählte seine Schätze.
„Ich möchte gern eine Seele haben“, sagte Mummelchen.
„Eine Seele?“ fragte der reiche Mann, „ja, ich kann dir meine Seele geben, sie regt sich immer mal dazwischen, also wird sie wohl noch da sein. Nur sehr viel Geld mußt du mir dafür geben.“
„Geld hat der Quabbelonkel im Mummelteich genug und übergenug“, sagte Mummelchen, „aber solch eine Seele wie du möchte ich nicht haben. Lieber habe ich gar keine. Eine Seele muß man auch nicht kaufen, man muß sie geschenkt bekommen.
„Geschenkt wird bei mir nichts“, sagte der reiche Mann und warf die Tür hinter Mummelchen zu.

Mummelchen aber wanderte weiter, bis sie wieder ein Haus sah, in dem ein Lichtehen brannte. Das Haus war klein, und das Lichtchen war noch kleiner. Es war sehr unwahrscheinlich, daß es ein Stern wäre, der vom Himmel gefallen war. Aber Mummelchen war schon so müde und traurig, und so wollte sie alles versuchen und trat in das Haus ein. Im Hause waren bloß Bücher, ganz schrecklich viel Bücher, dicke und dünne, aber meistens sehr dicke, und unter all den dicken Büchern saß ein gelehrter Mann bei einer trüben Tranlampe und las. „Was willst du hier?“ fragte der gelehrte Mann und betrach­tete Mummelchen im Licht seiner Tranlampe.
„Ich bin eine Nixe und suche eine Seele“, sagte Mummel­chen.
„Es gibt weder Nixen noch Seelen“, sagte der gelehrte Mann.
„.Ich bin aber eine Nixe“, sagte Mummelchen, und es zuckte trotzig um ihre Lippen, „ich komme gerade vom Mummel­teich, wo die Froschvettern und Unkentanten leben und Quabbelonkel.“ Die Tranlampe begann zu flackern.
„Es gibt keine Nixen“, sagte der gelehrte Mann, „also bist du gar nicht da.“
Der gelehrte Mann las weiter, die Tranlampe brannte auch weiter, und Mummelchen ging hinaus. 

Immer weiter wanderte sie und war nun schon sehr müde und traurig geworden. Da erblickte Mummelchen etwas Wunderbares. Sie sah eine große Kirche mit herrlichen Spitzbogen und Türmen, und das Kerzenlicht vom Altar flutete durch die bun­ten Fenster in die Nacht hinaus.
„Das ist der Stern, den ich suche“, dachte Mummelchen, und sie wollte in jubelnder Erwartung in die Kirche eintreten, denn nun mußte sie ja sicher eine Seele finden! An der Schwelle aber stand ein Mann in einem schwarzen Gewand und fragte sie nach ihrem Begehr.
„Ich bin eine Nixe und suche eine Seele“, sagte Mummelchen, und in ihren Augen leuchtete schon der Widerschein der Ker­zen am Altar.
„Die Kirche ist nicht für Nixen“, sagte der Mann im schwarzen Gewand und schloß die Tore, daß sie dröhnend zuschlugen.

Es war ganz finster, und die Glocken läuteten. Da sank Mum­melchen in die Knie und barg das Gesicht in den Händen. Sie war so müde und traurig und hatte keine Hoffnung mehr, eine Seele zu finden, die sie so brennend suchte. Wenn in diesem Hause mit den heiligen Kerzen nicht Gottes Sterne waren und keine Seele zu finden war, dann gab es sicher keine Seele auf der Erde und keinen Stern, der vom Himmel gefallen war.
Die Glocken läuteten, und Mummelchen hörte deutlich, daß sie weinten. Aber die Glocken weinten nicht um Mummelchen, sondern um den Pfarrer in der Kirche, und das tun sie schon lange.
Dann hörten auch die Glocken auf zu weinen, der Himmel rund die Erde waren dunkel, und es war eine Finsternis, wie sie Mummelchen noch nicht erlebt hatte. Es war die Finster­nis, die alle kennen, die den Sternen nachgegangen sind. 

Wie Mummelchen aber die Hände von den Augen nahm und so hoffnungslos hinaussah in die große Finsternis, da sah sie ganz nahe ein kleines Engelchen stehen. Die kleinen Engel­chen sind nämlich viel näher, als man denkt, man übersieht sie bloß so leicht, weil sie eben sehr klein sind. Das kleine Engelchen hielt ein Laternchen und leuchtete damit einem Dichter, der auf der Heide saß und Märchen schrieb. Das ist im­mer so, denn ein Dichter kann nur dann Märchen schreiben, wenn ein kleines Engelchen mit seiner Laterne dazu leuchtet. „Das Laternchen ist kein Stern“, dachte Mummelchen, „dazu ist es zu klein. Aber es ist doch vielleicht das Kind von einem Stern, weil ein Engelchen es in der Hand hat.“

Da ging Mummelchen auf den Dichter und das Engelchen zu, richtete die großen traurigen Augen auf sie und sagte: „Ich bin eine Nixe und möchte gerne eine Seele haben.“
„Weiter nichts?“ sagte der Dichter, faßte Mummelchen um den schlanken Leib und küßte sie auf beide Augen.
Das Engelchen aber löschte sein Laternchen aus, denn dazu brauchte es nicht zu leuchten, das wußte es schon - denn das, was geschah, war auch so ein wirkliches Märchen. Von Gottes Himmel aber fiel ein Stern und setzte sich Mummelchen ins Haar.
„Weißt du nun, daß du eine Seele hast?“ fragte sie der Dichter und winkte dem Engelchen, daß es nicht so zugucken solle.
„Ja“, sagte Mummelchen, „jetzt habe ich eine Seele, und seit du mir die Augen geküßt hast, sehe ich, daß etwas von meiner Seele in allem ist, was auf der Welt ist.“
„Dann hast du eine wirkliche Seele, denn nur, wer eine wirk­liche Seele hat, der sieht die Seele in allem.“ 

Es gibt viele Wege, sich eine Seele zu suchen. Einer der hüb­schesten ist sicherlich der, sich von einem Dichter die Augen küssen zu lassen. Es muß aber schon ein Märchendichter sein. Sonst hilft es nichts. Nur sind die Dichter darin ein bißchen einseitig. Sie küssen nämlich nur solche, die so sind wie Mum­melchen und nicht wie der Quabbelonkel. Denn die Seelen küßt man nur wach in denen, die sie suchen.
Das Engelchen aber hat in dieser Nacht sein Laternchen nicht wieder angezündet ...