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Der Meisterkelch

von Manfred Kyber, aus: Das Manfred Kyber Buch. Rowohlt, 1979. Siehe auch www.manfredkyber.de.


Es war einmal vor vielen, vielen Jahren, da stand eine ein­same kleine Glashütte tief drinnen im Schwarzwald. Sie lag ganz verborgen im grünen Tannengrund, und nur selten kam eines Menschen Fuß in ihre Nähe. Aber der Glasschleifer, der in ihr lebte, war nicht allein. Die Tiere des Waldes waren um ihn, und die ewigen Sterne standen über ihm, und wenn nachts der Feuerschein der Glashütte durch die dunklen Tan­nenzweige lohte, so sah man die Elfen tanzen in weißen Schleiern und mit Kronen von Edelstein im Haar. 

Auch die Wurzelwatschel kam häufig an der Hütte vorüber, guckte hinein und sagte guten Abend. Die Wurzelwatschel war ein graues, unscheinbares Weibchen mit einem Gesicht wie ein verschrumpfter Apfel. Sie ging im Walde spazieren und gab den Elfen, den Tieren und den Pilzen gute Ratschläge. Wovon sie lebte, wußte man eigentlich nicht. Nur selten aß sie einmal eine Wacholderbeere, und das stärkte sie schon er­heblich. Wenn der Winter kam, setzte sie sich hin und fror einfach ein, und im Frühling taute sie wieder auf und ging dann sofort spazieren. So lebte sie mit den Keimen in der Erde und kam mit den ersten Knospen und Blüten wieder hervor, und darum kannte sie alle Wurzeln des Lebens und alle lichten und dunklen Kräfte der Welt.

In der einsamen Glashütte aber wohnte der Glasgießer und Glasschleifer sehr still für sich. Er mischte selber die heiße Glasmasse, blies oder goß sie in Formen und schliff die Gläser, so gut er es vermochte. Denn es war vor vielen, vielen Jahren, als ein Mensch noch ein ganzes Werk mit seinen beiden Hän­den schuf, und nicht wie heute, da sich hundert Hände an hundert Teilen regen. Es war bescheidene Ware, die der Glasschleifer fertigte, und der Händler, der manchmal in der ein­samen Glashütte vorsprach, zahlte nicht allzuviel dafür. So war der Glasschleifer arm geblieben, aber er hatte sein Brot und lebte bescheiden davon und konnte auch des Sonntags ins Dorf gehn, um zu feiern.

Oft sehnte er sich freilich nach einem besseren Leben, und noch mehr träumte er davon, daß er einmal ein Meister wer­den und so herrliche Kelche schleifen könne, daß die Kenner aus ihnen trinken und bei ihrem Zusammenklingen seinen Namen nennen würden.

„Du wirst vielleicht noch ein Meister werden“, sagte dann die Wurzelwatschel zu ihm, „aber das ist ein gutes Stück Arbeit und ein weiter Weg. Man muß zu den Wurzeln des Lebens gehen und durch die dunklen und lichten Kräfte der Welt.“
Dem Glasschleifer war es nicht sonderlich recht, das zu hören, denn er hoffte immer, es möge sich ein leichterer und be­quemerer Weg zur Meisterschaft finden lassen, und so denken viele, die keine Meister geworden sind.
„Ich lebe doch tief drinnen im grünen Tannengrund“, sagte der Glasschleifer, „und die Sterne stehen über mir. Da ist es gewiß möglich, daß sich ein Wunder ereignet und mir die fer­tige Meisterschaft schenkt.“
„Die Meisterschaft ist immer ein Wunder“, sagte die Wurzel­watschel, „und wer sie gewinnen will, muß den grünen Tan­nengrund lieben und die Tiere und Blumen, und die Sterne müssen über ihm stehen und über seinem Werk. Aber geschenkt wird die Meisterschaft keinem, der nicht zu den Wur­zeln des Lebens gegangen ist und durch die dunklen und lichten Kräfte der Welt.“
„Wir wollen sehen, wer recht behält“, sagte der Glasschleifer und fachte das Feuer an, daß es weit durch den Tannengrund lohte, „ich will die Geister rufen, die mir die Meisterschaft schenken sollen.“ 

Als aber die Nacht kam und der Glasschleifer vor dem Feuer seiner Glashütte kniete, geschah es, daß auf einmal die gläsern­e Frau vor ihm stand. Denn die gläserne Frau ist einer von jenen Geistern, die sehr bald kommen, wenn man sie ruft. Die gläserne Frau war sehr schön, und sie trug ein Kö­nigsgewand aus leuchtendem, biegsamem Glase und eine Krone von Glas auf dem Haar.

„Du willst ein Meister werden?“ fragte die gläserne Frau und lachte. Und wenn sie lachte, klang es, als ob Glas zerspringt, feines, dünnes Glas.
„Ja, das will ich gerne, wenn es nicht allzu schwer ist“, meinte der Glasschleifer.
„Es ist gar nicht schwer“, sagte die gläserne Frau, „wenn du mir folgen und mir gehören willst. Komm mit mir in meinen Glaspalast, dort will ich dich lehren, Kelche zu schleifen, wie nur ein Meister sie schleifen kann, und wir wollen zusammen goldenen Wein aus den geschliffenen Kelchen trinken. Nur mußt du mir versprechen, nicht des Nachts aus meinem Palast zu gehen und die Sterne über dir zu schaun. Auch darfst du niemals einen Kelch bis zur Neige leeren, sondern mußt dir immer aus einem neuen Kelche den goldenen Wein von mir kredenzen lassen.“
„Das will ich gern versprechen“, sagte der Glasschleifer, „es erscheint mir leicht, das zu erfüllen, und der Weg zur Meister­schaft ist nicht so schwer, wie die Wurzelwatschel sagte.“ 

Da lachte die gläserne Frau wieder, und es klang, als ob Glas zerspringt, feines, dünnes Glas.
„Komm herab“, sagte sie und nahm den Glasschleifer bei der Hand.
Der Boden öffnete sich, eine verborgene Treppe wurde sicht­bar, und auf ihren Stufen führte die gläserne Frau den Glas­schleifer in ihren Glaspalast hinunter.
Im Glaspalast waren alle Wände und Dielen, alle Stühle und Tische von lauterem Glas, und es blitzte von allen Seiten in tausend Lichtern. Es war eine flammende Pracht überall, wie sie sich der Glasschleifer nie hatte träumen lassen. Im Königs­saal aber stand ein gläserner Thron, und auf ihn setzte sich die gläserne Frau neben den Glasschleifer und küßte ihn. Ein Hofgesinde von jungen, schönen Frauen umgab sie, und sie tranken goldenen Wein aus geschliffenen Kelchen. 

„Aus diesen Kelchen trinkt man den Zauber der Stunde“, sagte die gläserne Frau, „aber man darf sie nie bis auf die Neige leeren. Solche Kelche sind sehr gesucht in der Welt draußen, und die Menschen bezahlen viel, um sie zu be­kommen. Mir aber liegt daran, daß recht viele meiner Kelche in die Welt gelangen und daß recht viele Menschen aus ihnen trinken. Dann sehn sie die Sterne über sich nicht mehr, die mir feindlich sind.“
„Und wie werden diese Kelche geschliffen, schöne Königin?“ fragte der Glasschleifer, „es ist das Geheimnis dieser Meister­schaft, das du mich lehren wolltest.“
„Die Meisterschaft ist keine schwere“, sagte die gläserne Frau, „meine Zwerge gießen und blasen die Kelche aus den dunklen Kräften der Welt und schleifen sie in tausend sich brechenden Lichtern mit lauter kalten Gedanken. Ich selbst aber mache zuletzt mein Zeichen darauf, und daraus trinken alle den Zau­ber der Stunde. Schau her!“ 

Da sprangen zwei riesige Türen auf, und der Glasschleifer sah in einen großen, dunklen Saal, in dem schwefelgelbes Feuer lohte. Um das Feuer herum aber standen lauter Zwerge, wie aus dunklem Glase gegossen. Es waren keine Lichtgestalten wie die Elfen auf dem Wiesenrain. Sie rührten die Glasmasse und gossen die Gläser und schliffen sie mit seltsamen, scharfen Werkzeugen, bis sie in tausend kalten Lichtern blitzten.

„Siehe“, sagte die gläserne Frau und nahm einen herrlich ge­schliffenen Kelch aus der dunklen Werkstatt in ihre Hände, „ich mache nun mein Zauberzeichen darauf, und es ist wieder ein Kelch fertig, wie wir ihn tausendmal trinken. Aber meine Macht reicht nicht aus, diese Kelche ins Menschenland hin­auszusenden, und darum muß ich einen Menschen finden, der mir seinen Namen und seine Seele dafür schenkt. Nur mit diesem letzten Schliff kann ich die Kelche in die Welt gelangen ­lassen, so daß die Menschen den Zauber der Stunde daraus ­trinken und die Sterne über sich nicht mehr sehen. Ich kann das nicht, aber dir ist es ein leichtes. Dann bist du ein Meister geworden, und die Menschen, die aus diesen Kelchen trinken, werden bei ihrem Zusammenklingen deinen Namen nennen. Ich aber küsse dich dafür in meinem Glaspalast bei Tag und Nacht.“

„Ich dachte es mir, daß die Meisterschaft ein leichtes sein müsse, wenn man sich mit den richtigen Kräften verbindet“, sagte der Glasschleifer, und er küßte die gläserne Frau und schliff seinen Namen in ihre schimmernden Kelche, voller Stolz darauf, daß sie diesen Namen hinaustragen sollten in alle Welt.

So verging eine lange Zeit, und die gläserne Frau und der Glasschleifer tranken goldenen Wein aus ihren Kelchen im Zauber der Stunde und schliffen viele schimmernde Kelche für das Land der Menschen, die voller Sehnsucht auf diese Kelche warten.

„Wir haben nun genug“, sagte die gläserne Frau, „es ist an der Zeit, daß du diese Kelche hinausträgst in die Welt und sie unter die Menschen gelangen. Heute wird der Händler an deiner Glashütte vorüberkommen. Trage die Kelche hinauf und gib sie ihm, wenn er nach deiner Ware fragt. Er wird dir viel Gold dafür bieten. Dann denke nicht, daß es nutzlos für uns sei, weil wir hier alle Schätze der Erde haben und in der Pracht unseres Palastes leben. Es ist ein besonderes Gold, das dir der Händler gibt, und mir ist viel daran gelegen, denn an diesem Golde hängt etwas von den Seelen der Menschen. Geh nun hinauf in deine Glashütte. Aber komme wieder, ehe es Nacht wird, damit du die Sterne nicht über dir siehst.“

Da trugen sie die Kelche in die Glashütte hinauf, und der Glasschleifer setzte sich davor und wartete auf den Händler. Es kam ihm seltsam vor, nach so langer Zeit den grünen Tan­nengrund wiederzusehen, die Tiere, die Blumen und die Pilze, und wieder in der ärmlichen Glashütte zu sitzen, statt in dem Palast der gläsernen Frau. Er freute sich, das alles wie­derzusehen, und freute sich doch nicht darüber.

Da kam eine kleine Elfe und guckte zum Fenster herein. „Das sind hübsch geschliffene Gläser, aber Kelche der Kunst sind es nicht. Wer aus ihnen trinkt, wird sich nicht nach einem wei­ßen Elfenschleier sehnen. Uns hast du nicht damit erlöst.“
Auch die Tiere des Waldes kamen, wie früher, zur Glashütte und schauten sich die neuen Werke an.
„Kalte Kristalle sind das“, sagten sie, „aber Kelche des Lebens sind es nicht. Wer aus ihnen trinkt, wird die Tiere nicht lie­ben lernen und den grünen Tannengrund. Uns hast du nicht damit geholfen.“
Und ein Eichkätzchen warf ihm sogar eine hohle Nuß vor die Füße und lachte dazu. 

Auch die Wurzelwatschel kam und besah sich alles genau von allen Seiten.
„Eine geschickte Arbeit“, sagte sie, „aber Meisterwerke sind es nicht, und du bist kein Meister geworden.“
Un­d die Tannenzweige rauschten dazu, die Blumen nickten im Winde, und die Pilze wackelten sehr bedenklich mit den Köpfen, denn alle waren der gleichen Meinung wie die alte Wurzelwatschel. Das verdroß den Glasschleifer, und er war traurig geworden. 

Inzwischen kam der Händler mit seinem Wagen und besah sich die neue Ware. Sein Pferd aber wandte den Kopf weg, denn auch ihm gefielen die Kelche nicht.
„Das ist eine weit wertvollere Ware, als Ihr sie sonst gehabt habt“, sagte der Händler, „und ich kann Euch viel Geld dafür geben. Denn die Menschen suchen eifrig nach solchen Kelchen und sehnen sich sehr danach. Solche Kelche sind zwar nicht selten, aber da sie allzu leicht zerspringen, so brauchen die Leute immer wieder neue, weil sie so gerne daraus trinken. Ihr habt sonderbare Fortschritte gemacht in der Zeit, seit ich nicht hier war.“
„Sind es nun Meisterwerke und bin ich ein Meister geworden oder nicht?“ fragte der Glasschleifer, denn hieran war ihm vor allem gelegen. Den goldenen Wein und alle Zauberpracht hatte er ja übergenug im Glaspalast der gläsernen Frau. 

Der Händler bewegte den dicken Kopf hin und her und wog die geschliffenen Kelche in den Händen.
„Mir sind diese Kelche am liebsten von allen“, sagte er, „denn es sind die Kelche für die Vielen und nicht für die Wenigen, und ich verdiene das meiste Geld an ihnen. Die Vielen wer­den Euch alle Meister nennen, wenn sie aus Euren Kelchen den Zauber der Stunde trinken. So werdet Ihr Meister von heute auf morgen sein. Die Kelche gehen auch bald entzwei. Es ist gut für mich, daß sie so zerbrechlich sind.“
„Aber was werden die Wenigen sagen?“ fragte der Glasschlei­fer, „ich will, daß auch sie mich Meister nennen sollen, und ich will, daß meine Werke dauern sollen, auch wenn ich ein­mal gestorben bin. Nur dann bin ich ein wirklicher Meister geworden.“
„Die Kelche der Wenigen sind es nicht und auch nicht die Kelche, die dauern“, sagte der Händler, „dann müßten die Gläser ganz anders beschaffen sein. Aber mir sind diese Kelche die liebsten, und Ihr findet mit ihnen, was ich auch finde, Geld und den Ruhm des Tages. Was wollt Ihr noch mehr haben? 

„Ich will aber kein Händler, sondern ein wirklicher Meister sein“, rief der Glasschleifer.
„Dann müßt Ihr andere Kelche schleifen, doch das ist eine beschwerliche und oft sehr undankbare Sache“, sagte der Händler lächelnd und packte sorgsam die schimmernden Glä­ser ein. Dann zahlte er dem Glasschleifer seinen Lohn in lauter blanken Goldstücken auf den Tisch und fuhr in die Welt hinaus, um die Kelche der gläsernen Frau unter die Menschen zu bringen. Und alle Menschen, die daraus tranken, schauten in ihrer Seele den Glaspalast der gläsernen Frau mit all seiner Pracht und mit seinem Hofgesinde und lebten im Zauber der Stunde. Die Sterne über sich aber sahen sie nicht mehr. 

Der Glasschleifer ging wieder in den Glaspalast der gläsernen Frau zurück und gab ihr das Gold, das ihm der Händler ge­zahlt hatte. Und als die gläserne Frau das Gold sah, an dem etwas von den Seelen der Menschen hing, da lachte sie, und es klang, als ob Glas zerspringt, feines, dünnes Glas.
Aber der Glasschleifer schliff nur noch ungern seinen Namen in die Kelche der gläsernen Frau, er blieb still und in sich ge­kehrt und dachte immer darüber nach, was ihm die Elfe, die Tiere und die Wurzelwatschel gesagt hatten.
„Ich will das Geheimnis von den Kelchen der gläsernen Frau ergründen“, sagte er, „vielleicht erfahre ich dann, wie es um die wirkliche Meisterschaft bestellt ist.“ 

Und eines Tages, als ihm die gläserne Frau den goldenen Wein aus ihrem geschliffenen Kelch kredenzte, da ergriff er ihn und leerte ihn bis auf die Neige. Kaum aber hatte er den letzten Tropfen getrunken und dem Kelch auf den Grund ge­schaut, so sah er, daß die gläserne Frau kein Herz voll Blut, sondern von kaltem, hartem, geschliffenem Glas hatte.

Da begriff er, daß er in die Irre gegangen war und geholfen hatte, auch die anderen Menschen in die Irre zu führen, wie es die gläserne Frau gewollt, so daß sie die Sterne nicht mehr über sich sahen. Und er erfaßte, daß er kein Meister geworden war, sondern nur einer von den vielen, die Händler sind mit den Seelen der Menschen.
Die gläserne Frau stand vor ihm und sah ihn mit schreckens­weiten Augen an.
Da warf er ihr den geschliffenen Kelch vor die Füße, daß er in tausend Scherben ging. 

Um die gleiche Stunde aber zersprangen alle die Kelche, die er aus dem Glaspalast der gläsernen Frau zu den Menschen hin­ausgesandt hatte. Die Menschen, die aus diesen Kelchen tran­ken, erwachten jäh aus dem Zauber der Stunde. Sie schauten sich tief in die gläsernen Herzen hinein und wandten sich voneinander ab. Die Sterne aber sahen sie wieder über sich. Denn alle dunklen und lichten Kräfte der Welt sind geheim­nisvoll miteinander verwoben.

Der Glasschleifer saß wieder in seiner kleinen, ärmlichen Glashütte, einsam in einer einsamen Werkstatt. Um ihn herum war wieder der grüne Tannengrund, und über ihm standen die ewigen Sterne in der dunklen Nacht.
„Nun muß es Winter werden“, sagte die Wurzelwatschel, „ein langer Winter, bis der Frühling kommt.“
Und dann fror die Wurzelwatschel ein.
Es wurde Winter, ein langer, dunkler Winter in der Glashütte und im Tannengrund und in der Seele des Glasschleifers. Vielleicht waren es auch viele Winter, wer mag das wissen? Der Winter einer Seele ist nicht nach Monden zu messen.
Der Glasschleifer arbeitete still für sich, bescheidene, billige Ware, und lebte so zurückgezogen, daß er kaum noch des Sonntags ins Dorf ging, um zu feiern. Aber er horchte auf die rauschenden Zweige im grünen Tannengrund, er sprach in brüderlicher Liebe mit den Tieren und fertigte armen Kindern Murmeln aus blankem Glas. So grub seine Seele beharrlich nach den Wurzeln des Lebens. 

Der Händler kam und ging und nahm die billige Ware. Doch wenn er wieder nach den schimmernden Kelchen fragte, dann schüttelte der Glasschleifer den Kopf.
„Solche Kelche will ich nicht wieder schleifen“, sagte er, „um alles Gold der Erde nicht mehr.“ 

Der Winter einer Seele ist nicht nach Monden zu messen, aber einmal geht er zu Ende und der Frühling kommt. Und auf einmal ergriff den Glasschleifer die Sehnsucht, doch noch ein wirkliches Meisterwerk zu schaffen. Da mischte er die Glas­masse sehr sorgsam und blies einen Kelch daraus, der anders gestaltet war als alle Kelche, die er bisher gesehen. Es war in einer jener dunklen und einsamen Stunden, wie so viele über ihn gekommen waren seit jenem Augenblick, als er den Glas­palast der gläsernen Frau verlassen hatte. Und er nahm den Kelch und schliff ihn in vielen anderen einsamen und dunk­len Stunden, und nur die Sterne standen über ihm. Es schien ihm aber, als habe der Kelch einen seltsamen Schimmer von durchlichtetem Blut, als wäre ein heller Rubin in das Glas ge­gossen worden. Das war das Herzblut dessen, der ihn ge­schaffen hatte.

Als der Kelch fertig war, war der Winter vergangen - oder waren es viele Winter, wer mag das wissen? Der Frühling kam, und die Wurzelwatschel taute wieder auf.
„Das ist ein Meisterkelch“, sagte sie, „und nun bist du ein wirklicher Meister geworden. Du bist zu den Wurzeln des Lebens gegangen und durch die dunklen und lichten Kräfte der Welt.“
Die Tannenzweige und Frühlingsblumen neigten sich bei die­sen Worten, und die Pilze nickten zufrieden mit den Köpfen. „Das ist der Kelch des Lebens“, sagten die Tiere, „wer aus ihm trinkt, der wird die armen Kinder und die Tiere lieben und den grünen Tannengrund. Du hast uns viel damit ge­holfen.
„Das ist der Kelch der Kunst“, sagten die Elfen, „wer aus ihm trinkt, der wird sich nach den weißen Elfenschleiern sehnen, und du hast uns damit erlöst.“ 

Die ewigen Sterne aber standen am Himmel und spiegelten klar und makellos ihr Licht im geschliffenen Meisterkelch. Da hatte der Glasschleifer den Frieden gefunden, den Frieden in seiner Seele und den Frieden in seiner Werkstatt.

Und er schuf noch manche solche Kelche, wenn es auch nur wenige sein konnten im Vergleich zu den vielen Kelchen der gläsernen Frau, welche von dunklen Kräften gegossen und von Menschen geschliffen werden, die nur Meister von heute auf morgen sind. Die Kelche der gläsernen Frau zerspringen ja auch immer wieder, wenn der Zauber der Stunde vorüber ist. Die wirklichen Meisterkelche aber zerbrechen nicht, und wenn auch nur die Wenigen daraus trinken, so wird aus ihnen noch getrunken nach aber hundert Jahren. Und wenn man sie bis auf die Neige leert, so schaut man nicht in gläserne Her­zen, sondern in den grünen Tannengrund mit den Elfen, den Tieren und Blumen und den ewigen Sternen darüber.
Aber die Meisterkelche sind selten. Denn es geben nicht viele Herzblut darum.