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Das Land der Verheißung

von Manfred Kyber, aus: Das Manfred Kyber Buch. Rowohlt, 1979. Siehe auch www.manfredkyber.de.

Der Weg in die Wildnis

Ich kann es nicht sagen, wann diese Geschichte geschehen ist, so wie ich sie erzähle. Es sind vielleicht viele hundert Jahre her, vielleicht war es gestern. Vielleicht geschieht sie heute oder morgen oder in vielen hundert Jahren, die unsere Augen nicht mehr sehen werden. Denn es ist lange her, daß die Erde frei war von Blut und Schuld und Irrtum, und es wird lange dauern, bis sie entsühnt ist. Es ist ja überhaupt so schwer zu sagen, wann etwas geschieht; denn alle Zeit ist Täuschung, und was wir hier sehen, ist nichts als tausendfältige Form, die geprägt wird. Aber die eigentlichen Ereignisse sind hinter den greifbaren Dingen in einer geistigen Welt, und auch diese Ge­schichte steht in der geistigen Welt geschrieben, aus der alle Formen entstehen und sich wandeln und wo, von keiner Zeit gemessen, die Ewigkeit atmet.

Aber ich denke, diese Geschichte hat sich schon viele Male vor vielen Jahren begeben, sie ge­schieht heute noch, und sie wird sich noch viele, viele Male ereignen müssen, bis die Erde entsühnt ist. Denn das ist ein langer Weg, und kein armes, menschliches Wissen vermag etwas über seine Dauer zu sagen. Nur daß er sehr mühsam und beschwerlich ist für die wenigen, die ihn heute gehen, das wissen wir. Darum wird diese Geschichte auch immer ein anderes Kleid tragen, je nachdem, wann sie geschah oder wann sie wieder geschehen wird; denn ohne ein Kleid kann ein armes menschliches Wissen sie nicht verstehen. Wir sehen ja immer nur von allem die Kleider und müssen uns be­mühen, aus ihnen das Wesen der Dinge zu deuten.

Die Geschichte, die ich erzählen will, spielt in der Wildnis, und der, welcher sie erlebte, trug die Kutte der Brüder des heiligen Franziskus von Assisi. Das muß schon so sein; denn es ist eine Geschichte der Brüderlichkeit, und es lebt in ihr der Geist des Geweihten von La Vernia. Aber es braucht niemand äußerlich dieses Kleid zu tragen, der den Weg gehen will, den dieser Bruder ging, und es braucht auch keine Wildnis zu sein, in der sich diese Geschichte begibt und begeben wird. Es kann eine Stadt sein mit modernen Fabrikschloten und Maschinen, es kann ein Dorf sein mit Feldern und Auen oder eine stau­bige Landstraße. Das ist ganz gleich, und das alles sind nur Kleider, wie das Leben heute noch eine Wildnis ist dem, der den Weg des Franz von Assisi geht. Man muß bedenken, daß wir ja alle auf einer Schwelle leben und daß die eigentlichen Geschichten des Daseins in einer geistigen Welt geschehen hinter den Dingen und hinter dem, was wir Ereignisse nen­nen. Vielleicht träumen wir auch die Dinge nur, aber weil wir träumen, wachen wir nicht für das, was eigentlich ist. Es mag sein, daß das schwer zu verstehen ist, aber ich muß es sagen, weil es wahr ist.

So war es einmal, im Kleid des Geschehens gesehen, daß Bru­der Immanuel vom heiligen Orden des Franziskus von Assisi Abschied nahm von seinen Brüdern, um hinauszuziehen in die Wildnis. Das erzählt sich sehr leicht, aber es ist gewiß nicht leicht, einen solchen neuen Weg zu beginnen. Er hatte den Frieden nicht finden können in seiner Zelle, in keiner Bußübung und in keiner Meditation und in keinem Gebet am Bildnis des Erlösers. Er konnte das Schauen nicht lernen, das allein zum Frieden führt in dieser Welt der Täuschungen und der Schuld und des Irrtums. Es faßte ihn ein Entsetzen vor der Menschheit, wie er sie Tag für Tag vor Augen sah, und er begriff nicht, warum er in diese Erde gestellt war. Und doch war er zu stark in sich selbst, um mit einem müden verlorenen Lächeln auf alles herabzusehen und still und ergeben den Rosenkranz zu beten, wenn die Menschen sich draußen vor den Mauern des Klosters stritten, schlugen und sich verleum­deten, wenn sie ein Grauen waren sich selbst, den Menschen und den Tieren.

„Wenn du deinen Gott nicht in der Zelle fin­dest, mußt du ihn draußen suchen, in der Wildnis. Er ist über­all“, sagte der Prior des Klosters zu ihm und segnete ihn zum Abschied. „Es wird eine Zeit kommen, wo ihn alle draußen suchen müssen, jeder an der Stelle, auf die Gott ihn gestellt hat. Gehe deinen Weg, trage dein Kreuz, und du wirst Gott finden.“

Da packte Bruder Immanuel seine wenigen Habseligkeiten, einige Werkzeuge und Gemüsesamen aus dem Klostergarten in einen Sack und legte das Kreuz des Erlösers obenauf. Auch eine kleine Glocke nahm er mit, die eine feine silberne Stimme hatte, so daß er in der Wildnis das Ave-Maria läuten könne, wenn die Sonne sich neigt.

Er nahm den Sack auf den Rücken und verabschiedete sich von allen Brüdern, um nicht mehr wiederzukommen. Es war ge­wiß schwer für ihn und für die anderen, aber was ist ein Ab­schied? Alles ist Abschied auf dieser Erde, Abschied vom Tag, vom Morgen und vom Abend, von der Nacht mit ihrem Frie­den zu neuem Tagewerk, Abschied von Menschen, Tieren und Blumen. Es ist ein ewiger Weg und keine Wohnung auf die­ser Erde; aber es ist ein Trost, daß es ein Weg ist zu einer Heimstätte, die alle suchen, die eines guten Willens sind.

Bruder Immanuel wanderte mit seinem Sack auf dem Rücken über eine lange staubige Straße. Die Gestalten der Brüder ver­schwammen in der Ferne, wurden kaum noch sichtbare Punkte, und nur von ferne funkelte die Spitze der Kloster­kirche im Frührot. Dann versank sie auch, und die Wildnis nahm ihn auf, der neue Weg und, wie er hoffte, der Weg zum Frieden und zu seinem Gott.

Es war um die Osterzeit. Durch dünne blaue Luft getragen, klangen die Glocken des Karfreitags, und auf den Wiesen blühten Anemonen, Schlüsselblumen und Veilchen. Hum­meln und Bienen summten um die ersten blühenden Bäume, und die Falter tranken an den Kelchen der Blüten. Es war Auf­erstehung in der Natur und das Osterwunder, das so wenige verstehen, weil sie denken, alles Leben komme aus den Din­gen selber und nicht aus dem, was sie alle heiligt in einem einzigen Atem, der alles Leben in gleicher Liebe umfaßt und es wandelt im gleichen Geheimnis von Werden und Ver­gehen.

Da zog eine Hoffnung in Bruder Immanuels Seele ein, eine Hoffnung, die niemals in der Klosterzelle in ihm erwacht war. Er fühlte, so fremd ihm die Menschen in ihrem Grauen ge­worden waren, seine Brüderlichkeit den Tieren und Blumen gegenüber, er begann etwas vom allumfassenden Begreifen seines großen Meisters von La Vernia zu ahnen.

„Wird mir dieser Berg mit seinen Felsen, seinen Gießbächen, seinen dunklen Tannen La Vernia werden? Werde ich Gott hier schauen, werde ich hier den Frieden finden, den ich unter den Menschen niemals finden konnte?“ fragte er sich und be­gann eine mühsame Wanderung bergauf in den tiefen Wald hinein, ohne Weg und im Vertrauen auf die Geister dieses Ostermorgens. Der schwere Sack drückte ihn; aber sein Fuß ging leicht und sanft auf einem weichen grünen Teppich von Moos und Immergrün. Die Vögel sangen, und es war, als rie­fen sie ihn immer tiefer und tiefer in ihre selige Wildnis hin­ein, in den Frieden ohne den Unfrieden der Menschheit.

Aber es war ein Frieden in der Ferne. Wenn er näher kam, flüchteten alle Geschöpfe entsetzt vor ihm, die Vögel ver­stummten in den Zweigen, die Rehe huschten durchs Dickicht davon, und Igel und Mäuse verkrochen sich in ihren Löchern. Er rief sie vergebens mit dem Namen des Bruders. Wohin er trat, wurde die Erde still und leblos, und er begriff voller Ent­setzen, daß sie alle den Menschen in ihm flohen, daß er, der das Bildnis Gottes sein sollte, ein Geächteter war in Gottes Schöpfung, daß er gestaltet war nach jenen, die Menschen und Tiere gemordet hatten und heute noch morden, die eine blü­hende Erde mit Blut besudelt hatten und vor denen alles Le­ben angstvoll und voller Grauen sich verbarg.

Über den Osterfrieden fielen tiefe dunkle Schatten, und es wurde ein einsamer und trauriger Weg bis auf den Gipfel des Berges. Oben sang leise eine silberne Quelle, und die Wip­fel der Tannen rauschten im Winde, der ihre Kronen hin und her bog; aber Bruder Immanuel war so einsam wie noch nie­mals in seinem Leben. Die Menschen, die er geflohen hatte, waren nicht mehr bei ihm, und die Tiere, in denen er seine Brüder erkannt hatte, flohen ihn. Denn er war ein Mensch, das grauenvollste Geschöpf in Gottes Welt.

Da sank er neben dem Sack seiner ärmlichen Habseligkeiten in die Knie und weinte. Er hatte verstanden, wie entsetzlich es ist, ein Mensch zu sein. Ach, Bruder Immanuel, so wie du haben alle geweint, die deinen Weg gingen, und so wie du weinst, werden alle weinen, die deinen Weg gehen werden. Denn deine Geschichte ist eine zeitlose Geschichte, und nur ihr Kleid wechselt im Wandel der Dinge. Und was du ver­standen, haben alle verstanden, die deinen Weg gingen, und werden alle verstehen, die deinen Weg gehen werden. Es ist entsetzlich, ein Mensch zu sein, es ist entsetzlich, als Geist aus dem Reich der Liebe zu allen Wesen, herabgebannt zu werden in einen menschlichen Körper, der einstmals Gottes Ebenbild war und der verzerrt worden ist zur Fratze seit Kains Zeiten. Es ist entsetzlich, ein Gezeichneter zu sein in einer Welt der Wunder, die wirr geworden ist über dem ersten Brudermord. Es ist kein Frieden, Bruder Immanuel, was du gefunden hast, es ist die große, eisige Einsamkeit, durch die alle hindurch müssen, die Gott suchen auf dieser entheiligten Erde.
Ferne, ferne sang ein Vogel, aber er kam nicht näher. Er fürch­tete den Menschen.

Die Quelle, an deren Ufer Bruder Immanuel kniete, rauschte und zog in silbernen Wellen zu Tal. Sie bildete eine kleine, blumenumrankte Bucht vor ihm, und in ihrem silbernen Was­serspiegel erblickte er sein Bild Zug um Zug. Aber er sah noch etwas darin, was er bisher nicht gesehen hatte: auf seiner Stirne stand groß und deutlich ein häßliches, blutrotes Mal - das Kainszeichen, das die Menschheit in Gottes Ebenbild ge­graben hatte. Er fuhr mit der Hand ins Wasser und rieb sich die Stirne; aber das Kainszeichen wäscht kein Wasser der Erde ab.
Der Abend sank über die Wildnis, und die Nacht kam leise mit ihren Schleiern und Schatten. Aber es war keine Nacht des Friedens. Bruder Immanuel kniete immer noch neben seinen ärmlichen Sachen, und um ihn war die grenzenlose Einsam­keit derer, die seinen Weg wandern. 

Es ist vielleicht auch nicht nur sein Weg, denn einmal wird es der Weg aller sein müssen. Aber das ist noch lange hin; denn es wird noch lange dauern, bis diese Erde entsühnt ist.

Über ihm standen die Sterne, und in ihrer leuchtenden Schrift waren alle die einsamen Wanderungen zu lesen, und in ihnen war der Weg zu schauen, der zur Erlösung alles Lebens führt.

Aber Bruder Immanuel verstand noch nicht, die Schrift der Sterne zu lesen. Es war schwer, sie zu lesen, und nur die Augen lernen sie lesen, die tausend und aber tausend Tränen geweint haben. Es ist entsetzlich, ein Mensch zu sein...

Der erste Bruder

Viele Wochen waren vergangen, seit Bruder Immanuel in die Wildnis gezogen war. Er hatte sich mit großer Mühe eine ein­fache Hütte aus starken Balken gezimmert, er hatte den Sack, in dem er seine Habseligkeiten getragen, mit Moos gefüllt und sich eine Lagerstätte darauf bereitet. Er hatte das Bildnis des Erlösers an einer Wand seiner Hütte befestigt, so daß die er­sten Strahlen der Morgensonne es trafen, und er hatte die Glocke oben im Giebel des Daches aufgehängt, aber geläutet hatte er sie noch nicht ein einziges Mal. Er wagte das nicht und wußte selbst nicht, aus welchem Grunde er es nicht wagte. Es war, als warte er auf einen Feiertag seiner Seele, um die Glocke zu läuten, und dieser Feiertag war noch nicht gekom­men, seit er das Kainszeichen an sich gesehen hatte und seit jene Nacht des Karfreitags ihre Schatten über ihn gebreitet.

Voll Andacht und Erinnerung an seine menschlichen Brüder hatte er das letzte Stück Brot aus dem Kloster gegessen und seitdem von Wurzeln und Quellwasser gelebt. Denn das Ge­müse, das er sorgsam in vielfältigen Samen mitgebracht hatte, war wohl in die Erde gesenkt, aber noch nicht reif geworden. Nur die ersten Triebe reckten sich aus den Beeten, die einen Garten um die Hütte bildeten, und neben ihnen hatte Bruder Immanuel Blumen des Waldes gepflanzt, die einzigen Brüder, die er nun hatte, aber es waren schlafende Seelen, keine Men­schen und keine Tiere. Die Menschen hatte er ja geflohen, um Gott zu suchen, und die Tiere flohen ihn, weil sie Gottes Bild­nis im Menschen nicht mehr erkennen konnten. Die Men­schen haben es ja in sich zerstört, und Bruder Immanuel trug mit an ihrem Fluche. Es war ein karges Leben in dieser Wild­nis; aber mit sehr wenig kann ein Mensch leben, der aufhört, ein Raubtier zu sein, das schrecklichste Raubtier, das die Schöpfung kennt, und der anfängt, seinen Leib zum Tempel seines Gottes und seines Ichs zu bereiten.

Sehr seltsame Ge­sichte hatte Bruder Immanuel, wie alle sie haben, die also leben. Aber noch waren die Gesichte verworren, noch waren es nur die ersten Zeichen einer geistigen Welt, die hinter allen Dingen und Ereignissen Werden und Vergehen webt nach ewigen Ge­setzen. Man muß warten, bis sich das klärt, bis die Bilder sich regen und die Gesetze reden, sehr lange warten. Man muß erst die Trübsal überwunden haben in sich und die große, eisige Einsamkeit; aber das dauert oft lange, und es gehört viel Demut und Ergebung dazu. Der Weg nach La Vernia ist ein weiter Weg. So wartete Bruder Immanuel in Demut und Ergebung. Aber daß die Wanderung begonnen hatte, das merkte er deutlich in seiner Seele.

Man kann so sehr weit wandern, wenn man auch mit seinem Leibe an einem Orte bleibt; man kann sehr viel sehen und hören, wenn die Ketten des Körpers sich lockern und man sich selber gewahr wird im Gefängnis dieser Erde. Gewiß hatte Bruder Immanuel in früheren Zeiten auch in seiner Zelle gefastet zur Bußübung, aber die Wirkung war eine andere gewesen, als sie hier war. In die Reinigung des Leibes strömten, ungehindert von allem Menschentum, die Kräfte der Erde und des Himmels und füllten ihn wie eine Schale. Einschlafen und Erwachen waren nicht mehr so streng begrenzte Augenblicke, die Schwellen des Bewußtseins began­nen sich auszugleichen, und auch am Tage wanderte Bruder Immanuel umher wie eine leichte Gestalt in der erdenschwe­ren, die ihm kaum mehr erschien als eine Hütte, aus Steinen und Pflanzen gewoben.

Auch die Dinge um ihn fingen an, sich zu wandeln. Er sah die Bäume und Blumen in ihren Farben und Formen, aber er fühlte etwas dabei, was diese Farben und Formen schuf: er hörte die Vögel in den Ästen singen und den fernen Ruf der Waldtiere, aber er empfand, daß diese Laute etwas bedeuteten, daß alles Leben eingebettet war in eine große, allumfas­sende Gemeinsamkeit. Es war ein Strom von fließendem Da­sein, der alles umschloß, ihn selber, die Tiere, die Pflanzen und die Steine. Er brauchte aber nicht mehr, wie am Anfang seines Aufenthaltes in der Hütte, die Tage zu zählen und in ein Holz zu kerben, er fühlte es, wann die Natur Sonntag hatte und wann sie sich anschickte zu feiern. Es war Alleben in allem und er in ihm, und leise regte sich in ihm die Ahnung vom Wege der Erlösung, Alleben in Alliebe zu wan­deln. War nicht alle Schöpfung eine gemeinsame Bruderschaft, mußte nicht der ältere Bruder sich zum jüngeren neigen, un­ermüdlich und voller Erbarmen, daß die Erde entsühnt werde vom ersten Brudermord und seinen abertausend anderen? Der älteste Bruder aber war der Mensch, und er war es, der den Brudermord in die Welt gebracht hatte. Er war es, der zuerst sühnen und erlösen mußte.

Da betete Bruder Immanuel darum, daß ihm Gott einen Bru­der schenken möge.
Es war zu Pfingsten, daß er einen Bruder fand. 

Er war, wie er es oft am Tage gewohnt war, tief in den Wald hineingegangen und hatte Wurzeln und Kräuter gesucht. Er spürte das Pfingstwunder der atmenden Erde und hörte, wie der Heilige Geist redete aus den Tannenkronen und aus den Blumen am Weg. Der Strom des Daseins war stärker an die­sem Tage, und er war erfüllt von etwas Neuem, Befreiendem, als wäre die Erde aus feineren Stoffen gewoben als sonst. Sein eigener magerer Leib schritt lautloser und leichter über das Moos, und sein Fuß knickte kaum noch die Grashalme am Wege. Die Vögel flohen nicht mehr, wenn sie ihn sahen, und die Tiere des Waldes huschten nicht mehr so entsetzt ins Dic­kicht vor seinem Anblick. Auch er hatte eine Wandlung er­fahren, in seinem Körper und seiner Seele, jene Wandlung, die über den Karfreitag zu Pfingsten führt.

Da vernahm er jammernde Klagelaute, und als er ihnen nach­ging, sah er ein Eichhörnchen, das sich in einer Falle gefangen hatte und voller Entsetzen die zerquetschte Pfote aus dem Eisen zu befreien suchte. Eine Pfingstfeier der Menschheit in Gottes Schöpfung. Bruder Immanuel übermannte das gleiche Gefühl wie an jenem Abend seiner Ankunft in der Wildnis: Es ist entsetzlich, ein Mensch zu sein!
Aber er zögerte nicht lange und befreite das arme Geschöpf vorsichtig und so schonend wie möglich. Das Fangeisen ver­grub er, und das Eichhörnchen nahm er mit sich und trug es zu sich nach Hause in seine Hütte. Er wusch ihm die Wunde und verband sie. Das Tier hatte keine Angst vor ihm, es saß ruhig in seiner Hand und ließ mit sich alles geschehen. Die Pfote war gebrochen, aber vielleicht würde sie wieder heilen, er wollte es wenigstens versuchen. Er brachte dem Eichhörn­chen Wasser, suchte ihm Tannenzapfen und baute ihm ein weiches Nest aus Moos gerade unter dem Bildnis des Erlösers. Das Tier redete in gurrenden Tönen, erst sehr aufgeregt und dann allmählich ruhiger. Schließlich schlief es ein, und das Bild des Gekreuzigten stand über ihm. 

Bruder Immanuel aber ging hinaus an die Quelle, wo er am Abend seiner Ankunft in der Verzweiflung seiner großen Ein­samkeit gekniet hatte, und dankte Gott, daß er einen Bruder gefunden. Da geschah etwas sehr Seltsames. Aber vielleicht war es auch nicht seltsam, denn es war ja Pfingstsonntag in der Natur. Am Bache entlang kam eine Gestalt geschritten, einem Menschen ähnlich, nur völlig durchlichtet von einem Licht, das aus sich selber kam. Die Gestalt trug die Kutte der Franziskaner, und Bruder Immanuel erkannte in ihr nach dem Bilde im Kloster seinen Meister Franziskus von Assisi. Da kniete er nieder und verneigte sich tief vor ihm, und das gleiche taten die Blumen am Bache und die Bäume, die an der Lichtung standen.
Franziskus von Assisi blieb an der Hütte Bruder Immanuels stehen, schaute hinein und machte das Zeichen des Kreuzes über dem verwundeten Eichhörnchen. Dann wandte er sich und kam auf Bruder Immanuel zu. 

„Gesegnet sei dein Weg, Bruder Immanuel“, sagte er, „es ist ein Weg voll Domen, es ist ein Weg voll Einsamkeit, aber er führt nach La Vernia, wo ich Jesus Christus sah. Wenige gehn ihn heute, und die Erde ist voller Blut und Schuld; aber ein­mal werden ihn alle gehn müssen, bis die Erde entsühnt ist. Es ist sehr schwer, voranzugehen, es sind die älteren Brüder, die vorangehen müssen, Bruder Immanuel. Aber es ist leicht, ihn zu gehen, wenn man es weiß, daß man ihn für die jünge­ren Brüder geht. - Da sah Bruder Immanuel auf, und er er­blickte neben der Gestalt des Franziskus von Assisi den Wolf von Agobbio und das Lamm, das der Heilige aus der Hand des Schlächters gerettet, und die Vögel, denen er gepredigt, saßen auf den Zweigen und hörten zu. Das alles war in die­ser Welt und doch nicht in ihr, es war in ein blaues, klares Licht getaucht, das aus sich selber kam.

„Ich war sehr allein und bin nicht mehr allein“, sagte die Lichtgestalt und wies auf die Tiere, die um sie herum waren, „auch du wirst nicht allein bleiben. Niemand bleibt allein, der den Weg des älteren Bruders geht. Gott hat dir heute einen kleinen Bruder geschenkt, der bei dir bleiben wird und du bei ihm. Auch ich will dir etwas schenken, bevor ich gehe. Geseg­net sei dein Weg, Bruder Immanuel.“
Der Heilige von La Vernia schlug das Kreuz über Bruder Im­manuel, und es war, als ob das blaue Licht eine Brücke baute in eine blaue Ferne hinein und als ob Franziskus von Assisi, begleitet vom Wolf von Agobbio, vom Lamme und von den Vögeln, hinüberschritt in ein Land der Verheißung.
Als Bruder Immanuel sich erhob und seine irdischen Augen öffnete, da sah er nicht nur die Dinge um sich, sondern er schaute in die Seele aller Schöpfung, und er verstand, was die Tiere redeten. Das war das Geschenk des Franziskus von Assisi für den, der seinen Weg gegangen war.
Da ging Bruder Immanuel in die Hütte, um nach seinem jün­geren Bruder zu sehen. Das Eichhörnchen saß unter dem Bilde des Erlösers in seinem Nest und hielt einen Tannenzapfen in den Pfoten. 

„Wie geht es deiner Pfote, mein kleiner Bruder?“ fragte Bru­der Immanuel; denn er sah, daß der Verband abgefallen war. „Ich danke dir“, sagte das Eichhörnchen, „meine Pfote ist ge­sund. Es war jemand da, der sie geheilt hat. Es war ein älterer Bruder.“
Bruder Immanuel hörte die gurrenden Laute, in denen das Tier sprach, aber er verstand auch deutlich, was es sagte. Er betrachtete die kranke Pfote und sah, daß sie gesund war, als wäre sie nie verletzt worden.
Da neigte er sich zu dem Eichhörnchen und umschloß es mit beiden Händen.
„Wir wollen den Weg unseres Lebens zusammen gehen“, sagte er leise, „es ist der Weg nach La Vernia, mein kleiner Bruder, und in das Land der Verheißung.“ 

Die Sonne des Pfingstsonntags sank hinter den dunklen Tan­nenkronen wie verklärtes und durchlichtetes Blut, und ein Feierabend voll Frieden breitete sich über die Wildnis. An die­sem Abend geschah es, daß Bruder Immanuel zum ersten Male die Glocke läutete, die im Giebel seiner Hütte hing. Mit einer feinen, silbernen Stimme sang sie in der Waldeinsam­keit das Ave-Maria.

Die Kette der Dinge

„Es ist wahr, ich habe Eier gegessen, die mir nicht gehörten“, sagte das Eichhörnchen und fuhr sich mit der Pfote über das Gesicht, als wolle es eine sündhafte Erinnerung fortwischen, „„ich werde es aber nicht mehr tun, denn es kränkt die Vögel. Ich habe früher nur nicht daran gedacht; aber ich werde jetzt auch den Weg des älteren Bruders wandern.“

Es ist sehr sonderbar, wenn ein so winziges Geschöpf ein so großes Wort sagt; aber in der Kette der Dinge ist die kleinste Wandlung ein Ereignis.
Aber auch sonst hatte das Eichhörnchen vieles geleistet, seit es gesundet war. Es war von Baum zu Baum gehüpft, weit in den Wald hinein, und hatte überall verkündet, daß es einen älte­ren Bruder gefunden habe, der ihm die verletzte Pfote ver­bunden, und einen anderen, der sie ihm geheilt. Auf diese sehr merkwürdige, aber bei der Person des Eichhörnchens durchaus glaubwürdige Geschichte erschienen zahlreiche Eich­hörnchen vor der Hütte des Bruders Immanuel - erst die näheren Verwandten und später, als sich die seltsame Be­gebenheit weiter herumgesprochen hatte, auch die entfernte­ren Stammesgenossen. Sie brachten Beeren und zum Früh­herbst Nüsse, um sich erkenntlich zu zeigen. Man wollte auch etwas für die Erhaltung des älteren Bruders tun, nachdem er sich so hilfreich erwiesen hatte. So sammelten Bruder Imma­nuel und das Eichhörnchen Wintervorräte. Das Eichhörnchen verstand es auch überaus kunstgerecht, Pilze auf einen Zweig zu spießen und sie dort trocknen zu lassen. Lange Wegstrecken konnten auf diese Weise zum allgemeinen Wohl aller Eich­hörnchen mit Nahrung für den Winter versehen werden. Bru­der Immanuel zeigte ihm an, diese Pilze auf Schnüre zu reihen und sie so zu verwahren. 

Auch anderen Tieren war er in vielen Fällen hilfreich. Sie hatten keine Furcht mehr vor ihm, seit das Eichhörnchen für ihn gebürgt hatte, und zudem hatte ja das Eichhörnchen selbst das Gelübde getan und mit erhobener Pfote bekräftigt, keine Eier mehr zu essen, die ihm nicht gehörten. Es hatte dies auf die Vögel einen großen Eindruck gemacht, und sie sahen ihrer­seits ein, daß es wirklich etwas sehr Wunderbares sein müsse, was sich in der Waldhütte begeben habe. Auch hatte Bruder Immanuel mehrfach jungen Vögeln wieder ins Nest geholfen, die ihrer Kunst zu fliegen allzu früh vertraut hatten. Mehrfach geschah es, daß sich die Eltern dafür bedanken kamen und große Mühe und Sorgfalt bei gesanglichen Leistungen entfal­teten. Manche bauten auch ihre Nester an der Hütte, und es war viel Leben um den, der einmal so einsam war.

Bruder Immanuel half auch einer Biene, die in eine sehr unglückliche Lage auf dem Rücken geraten war, wieder auf die Beine. Dar­aufhin kam eine Abordnung von Waldbienen zu ihm geflo­gen, setzte sich auf sein Gewand, und die Oberbiene bedankte sich viele Male. „Wir wollen dir auch sagen“, summte sie, „daß wir stets für dich Honig in Bereitschaft haben. Es ist uns nur angenehm, wenn wir uns erkenntlich zeigen können.“ Bruder Immanuel nahm das dankbar an, die Bienen hatten Überfluß, und für ihn war es eine wertvolle Nahrung.
Eine Hirschkuh bot ihre Milch an, falls er welche benötige. Er hatte ihr Kalb befreit, das sich den Fuß in Schlingwurzeln gefangen hatte. Bruder Immanuel bedankte sich vielmals, aber er wollte der Hirschkuh keine Milch fortnehmen. Er käme auch so aus, sagte er.
„Jedenfalls denke daran, wenn jemand krank ist bei euch“, sagte die Hirschkuh, „wir sind gerne bereit, und eine von uns hat sicher Milch. Du brauchst uns nur zu rufen.“ 

Immer deutlicher sah Bruder Immanuel, wie eng die Kette der Dinge alles Leben verbindet und wie der Mensch sie zerrissen hatte, daß ihre Glieder sich nicht mehr ineinanderfanden. Nur die Raubtiere hielten sich noch zurück. Sie waren zwar von der Glaubwürdigkeit des Eichhörnchens, der Vögel, der Bienen und der Hirschkuh überzeugt; aber sie wollten doch erst das Weitere abwarten. Ein Mensch war denn doch ein zu gefähr­liches Geschöpf, um ihm so schnell zu vertrauen. Sie taten zwar Bruder Immanuel niemals etwas; aber sie hielten sich noch zurück und grüßten auch nicht, wenn er sie grüßte. Bru­der Immanuel nahm das ergeben hin und wartete. Er konnte ruhig warten; er war ja nicht mehr allein.
Er lebte in der Kette der Dinge und sie in ihm. Es ist sehr viel, wenn jemand das erreicht hat. Man fühlt sich irgendwie ge­borgen, und man hat den Strom erreicht, aus dem man einst entstanden ist. 

Oft ging er weit in den Wald hinein, bis nahe an die Grenzen, wo das Land der Menschen begann. Dorthin begleitete ihn das Eichhörnchen nicht mehr. Es blieb dann zu Hause, ordnete Nüsse, turnte auf dem Dach der Hütte, oder es lud sich jemand von seiner Familie zu einem Tannenzapfen ein. Sie sprachen dann über den Weg des älteren Bruders, soweit ihn ein Eich­hörnchen gehen kann.

Auf einer solchen Wanderung aber geschah es, daß Bruder Immanuel einem Menschen begegnete. Sehr lange war das nicht mehr geschehen, und er hatte das Gefühl, als sähe er seine Heimat in einem entstellten Bilde. Es war etwas, was anzog und abstieß zu gleicher Zeit - Gottes Bildnis, das ver­zerrt war. Der Mann war ärmlich gekleidet und hatte eine verbundene Hand. Bruder Immanuel grüßte ihn und fragte ihn, was ihm fehle.

Der Mann sah ihn sonderbar an. Bruder Immanuel hatte nicht bedacht, daß er viele Monate nicht mehr unter Menschen ge­lebt hatte, daß seine Kutte zerrissen und sein Haar verwildert war.
„Ich habe mir die Hand gequetscht“, sagte der Mann miß­trauisch und mürrisch.
Bruder Immanuel sah ihn sehr ruhig an, mit den inneren Augen, die er gewonnen und die der andere nicht hatte.
„Du hast die Hand in einer Falle gequetscht, die du den Tie­ren gestellt hast“, sagte er, „es war in einer Lichtung, wo junge Birken stehen und eine Quelle aus dem Felsen fließt. Zu die­ser Quelle kommen die Tiere nach Gottes Willen, zu trinken, nicht um in den Fallen der Menschen gefangen zu werden.“
„Woher weißt du das?“ fragte der Mann.
„Vom Geiste Gottes und vom Ungeist der Menschen“, sagte Bruder Immanuel. „Ich habe ein Geschöpf aus solch einer Falle befreit, es lebt mit mir zusammen, und es ist mein Bruder.“
„Kannst du hinter die Dinge sehen?“ fragte der Mann, und er wußte nicht, ob es Furcht oder Freude war, was aus ihm sprach.
„Niemand kann hinter die großen Dinge sehen“, sagte Bruder Immanuel, „niemand, der ein Mensch ist. Aber hinter die klei­nen Dinge, die du meinst, kann ich sehen, als wären sie aus Glas.“ ­„Es ist kein kleines Ding, ob meine gebrochene Hand wieder heilt oder nicht“, erwiderte der Mann, „es wäre mir viel wert, wenn du mir das sagen könntest.“
„Sie wird nicht wieder heilen, solange du Fallen stellst, in denen die Pfoten der Tiere gebrochen werden“, sagte Bruder Immanuel, „aber sie wird heilen, wenn du alle Fallen auf­suchst und sie vergräbst, so daß sich keiner deiner kleineren Brüder Schaden daran tun kann.“
„Wie soll ich das?“ sagte der Mann. „Ich lebe vom Fallen­stellen und vom Erschlagen der Tiere, die ich in ihnen fange. Ich bin zu töricht zu allem anderen von Kind an, man gibt mir keine Arbeit sonst im Dorfe.“ 

Es war ein Einfältiger, aber vielleicht war es gut, daß es ein Einfältiger war, denn einer, der das hat, was die Menschen Klugheit nennen, kann die Kette der Dinge nicht begreifen. Den Einfältigen aber hilft Gott, sie sind ihm noch nicht ganz so fern wie die anderen, die klug sind in dieser Welt.

Bruder Immanuel nahm den Einfältigen bei der Hand und ließ ihn in die Kette der Dinge schauen. Nur ein Weiser kann einem Einfältigen das zeigen, keinem Klugen nach der Klug­heit dieser Welt. Da sah der Einfältige, wie alle Dinge eine Kette bilden in Gottes Schöpfung und wie der Mensch diese Kette zerrissen hatte, daß die Glieder sich nicht mehr inein­anderfanden. Er sah auch, wie die jüngeren Brüder auf die Er­lösung durch die älteren Brüder warten und hoffen, und es er­griff ihn eine große Trauer um das, was er getan hatte, denn er sah die vielen jüngeren Brüder, die verstümmelte Glieder zu ihm erhoben und ihn des Brudermordes beschuldigten.
„Ich kann das nicht wieder tun“, sagte er leise und ratlos, „aber wovon soll ich leben? Ich bin arm und sehr einfältig, und die Menschen lachen über jede Arbeit, die ich beginne.“ 

„Tue nach dem, was du gesehn hast“, sagte Bruder Immanuel, „und Kirchen und Könige werden deine Arbeit suchen. Gott segne deinen Weg, lieber Bruder, denn es wird der Weg des älteren Bruders werden für seine jüngeren Brüder. Viele Kräfte sind in der Kette der Dinge verborgen dem, der die Kette der Dinge gesehen hat.“
Damit schieden sie voneinander. 

„Wo kann ich dich wiedersehen?“ fragte der Mann. „Es kann sein, daß ich deinen Rat brauche oder deine Hilfe, denn mir scheint es, als wäre ich jetzt sehr allein unter den Menschen.“ „Du wirst mich finden, wenn du den Weg gehst“, sagte Bruder Immanuel. „Aber es wird wohl so sein, daß du eine Zeitlang sehr einsam sein wirst. Eine Zeitlang ist nichts, mein lieber Bruder, wenn du es recht bedenkst.“
Dann wandte sich Bruder Immanuel, und das Dunkel der Tannen nahm ihn auf. 

Der Einfältige aber ging hin und vergrub alle Fallen, die er gestellt hatte. Als er heimkam, war seine Hand geheilt. Er stellte keine Falle wieder auf und weigerte sich hartnäckig, als man es ihm auftrug. „Es ist ein Blöder“, sagten die Leute und stellten selber die Fallen im Walde auf. Aber es fand sie keiner wieder. Der Einfältige suchte sie alle und vergrub sie. Nie­mand im Dorfe aber konnte das in Erfahrung bringen, und so ließen sie es. Der Einfältige lebte eine Zeitlang sehr ärmlich und sehr einsam. Man gab ihm aus Gnade ein Stück Brot, aber keine Arbeit, weil er ein Blöder war, und man verspottete ihn. Er aber wartete geduldig auf die Kette der Dinge; denn er wußte, daß ihm seine Hand geheilt war an einem einzigen Tag. Eine Zeitlang ist nichts, dachte er bei sich und sagte es sich immer wieder, und doch war es sehr schwer.

Einmal aber nahm er ein Messer, um eine Gestalt zu schnit­zen, die er geschaut hatte, denn er schaute viele Gestalten seit jenem Tage, als er die Fallen vergrub. Er schnitzte mühsam daran und dachte, es wäre weiter nichts als ein Zeitvertreib; aber als es fertig war, war es ein Kunstwerk, und die Leute staunten es an. Er schnitzte das ganze Chorgestühl der Dorf­kirche neu, sein Ruf zog weit ins Land hinaus, Klöster und Könige suchten seine Arbeit, und er wurde hoch geehrt.

Alle nannten ihn Meister, er selbst aber blieb in sich gekehrt und sehr bescheiden. Er hatte ja in die Kette der Dinge ge­schaut und wußte, daß er den Weg des älteren Bruders ging. Er wußte, daß alle große Kunst nichts ist als ein Schauen der Schöpfung. Gott nahe und nahe den Tieren und Blumen und ferne der Klugheit dieser Welt. Er ahnte auch, daß seine sonst so ungeschickten Hände Meisterhände geworden waren, weil die Geschicklichkeit aller Tierpfoten, die er gerettet hatte, übergegangen war in ihn. Sehr wunderbar ist diese Welt, wenn man sie sieht, wie die Menschen sie nicht sehen, und sehr seltsam und sehr fein gesponnen ist die Kette der Dinge.

Die Bärin und ihr Kind

Bruder Immanuel arbeitete fleißig in seinem Garten zusam­men mit dem Eichhörnchen. Er grub die Erde um mit einem Spaten, den er mit sich geschleppt hatte, und das Eichhörn­chen scharrte vorsichtig kleine Löcher in die fertigen Beete und versenkte die Samenkörner darin. Es sammelte auch Samen für spätere Zeiten und entwickelte viele und große häusliche Tugenden. Die Vorräte für den Winter waren bescheiden, aber sie mehrten sich doch zusehends, und es war auch darauf Bedacht genommen, daß sich Gäste einstellen würden, die nichts für die verschneiten Monate zurückgelegt hatten.

Ein Volk von Ameisen hatte sich ebenfalls an der Hütte an­gesiedelt, nachdem es um Erlaubnis gefragt und versprochen hatte, den Honig der Waldbienen nicht anzurühren. Auch einige Igel hatten sich eingefunden und boten sich eifrig zu Gartenarbeiten an. Sie konnten eigentlich keine besonderen Fähigkeiten namhaft machen; aber sie hatten kleine und sehr spaßhafte Kinder, und Bruder Immanuel ließ sie gewähren. Die Großen liefen geschäftig hin und her und halfen graben, die Kleinen lagen auf der Wiese und sonnten sich. Es war eine sehr bewegliche Gesellschaft. Sie beteuerten wiederholt, daß sie ganz gewiß nicht die Mohrrüben anrühren wollten, die Bruder Immanuel gezogen hatte, obwohl gerade der Duft die­ser Seltenheiten sie gelockt hatte neben all dem Löblichen, das sie sonst über den älteren Bruder gehört. Bruder Immanuel teilte die Vorräte ein und gab den Igeln Mohrrüben und den Ameisen Honig, aber nur am Sonntag, denn es war nicht viel von allem vorhanden. Die Tiere wissen ja genau, wann Sonn­tag ist, und die Bäume und die Blumen ahnen es.

So gingen die Tage in Nächte über und die Nächte in Tage, und Bruder Immanuel fühlte es immer innerlicher, wie er eins wurde mit allem Leben um ihn.

Es geschah dazwischen, daß Bruder Immanuel Besuch erhielt vom Einfältigen, der ein Meister geworden war. Er fand den Weg in die Wildnis und zur Hütte seines älteren Bruders ohne jegliche Mühe, auch als er ihn das erste Mal ging. Er brauchte nicht einmal zu suchen. Es war ein Leuchten um ihn, das ihm voranging, sehr ähnlich jener Sicherheit, mit der er seine Werke vor sich sah und gestaltete. Er brachte Brot mit, einige Werkzeuge und einfaches Leinen zu einer Kutte. Mehr wollte Bruder Immanuel nicht haben. Er hatte es allzutief in sich er­fahren, wie sehr man einen neuen Menschen in sich schafft, wenn man alles selbst besorgt, nur auf sich gestellt und auf die Gesetze der Natur, die einen umgeben. Es ist, als erlebe man in sich die Kindheit der Menschengeschichte noch einmal mit Bewußtsein und als würde die Erde wieder jung wie am ersten Tage.

„Wir alle, die wir vorwärts gehen, müssen erst sehr weit zu­rückgehen“, sagte Bruder Immanuel zum Einfältigen, der ein Meister geworden war, „viele Jahrtausende müssen wir zu­rückwandern, als die Kräfte sich bildeten, die heute wirken. Es ist, als müßten wir zeitlos werden in uns. Der Körper muß biegsam und leicht werden wie eine Pflanze, der Erde zu­gehörig und doch nicht an sie gefesselt mit irgendwelcher Be­gierde, und die Seele muß ihrem Körper nicht mehr anhaften als wie ein Falter, der sich in einer Blüte birgt.“

„Es ist sehr schwer“, sagte der andere. „Es ist aber nur am Anfang schwer“, sagte Bruder Immanuel, „dann kommt die große Einsamkeit, und nachher ist eigent­lich alles sehr leicht. Siehe, wenn ich heute Menschen, Tiere, Bäume und Blumen betrachte, so schaue ich wohl alle ihre Farben und Formen, aber ich sehe, daß es alles nur Körper sind aus einem Stoffe, ich sehe die Kräfte, die alle Vielfältig­keit in der Einfältigkeit gestalten. Es ist, als würde der Baum, der eben vor uns steht, aus Glas und ganz durchsichtig. Hinter dem Wunderwerk seiner Rinde, seiner Äste und Blätter sehe ich das, was der eigentliche Baum ist, es ist die Teilseele einer großen Seele, und alle Seelen sind irgendwie miteinander ver­bunden in der Kette der Dinge und harren auf eine Erlösung durch den älteren Bruder.“

„Ich möchte wie du den Weg des älteren Bruders gehen“, sagte der Einfältige, der ein Meister geworden war.
„Gehst du nicht auch diesen Weg, wenn du deine Bilder in der Seele schaust und sie gestaltest, so daß andere sie sehen können mit ihren irdischen Augen?“ sagte Bruder Immanuel.
„Rufst du nicht in anderen, die noch nicht wach sind, die Sehnsucht auf, die Erde zu entsühnen? Sehr verschieden, lie­ber Bruder, sind die Wege der älteren Brüder, aber sie alle leben in der Sehnsucht, die in den anderen noch schläft. Man muß sie erinnern an das, worin sie auch einmal waren, an eine schuldlose Erde, an eine Erde der Kinder, wie sie einst war und einmal wieder sein wird.“

„Wann und wie wird diese neue Erde entstehen?“ fragte der Einfältige, der ein Meister geworden war.
„Eine Zeitlang ist nichts, wenn du es richtig bedenkst, lieber Bruder, und wo darüber entschieden wird, ist keine Zeit mehr. Geschaffen aber wird diese neue Erde aus dem Geist der Liebe in Sühne und in Sehnsucht. Dazu rufe auf, wir müssen wach sein, und wir müssen die rufen, die schlafen.“
„Ich weiß oft nicht, was ich schaffen soll“, sagte der andere. Es geschieht häufig, daß ein Meister das sagt. Nur die, welche keine Meister sind, sagen das niemals.
„Du mußt andere rufen und selber dem folgen, der dich ruft. Dein Rufer wird immer neben dir sein, wenn es an der Zeit ist. Gehe nun heim, lieber Bruder, und auf dem Heimweg wirst du jemand begegnen, dessen Bildnis gestalte! Wir finden immer, was wir suchen, wenn die Seele auf dem Heimweg ist.
Da ging der Einfältige, der ein Meister geworden war, nach Hause, und im tiefen Walde begegnete er jemand, den ge­staltete er. Es war ein Mensch von großer Güte, mit einem Lichtschein um ihn herum, und ihm zur Seite gingen ein Wolf und ein Lamm, und auf seiner Schulter saßen die Vögel des Waldes. So schuf der Einfältige, der ein Meister geworden war, das Bildnis des Heiligen von La Vernia. Es war dies die Krone seiner Werke. 

Bruder Immanuel aber begab sich in seine Hütte und legte sich auf sein Lager. Das Eichhörnchen schlief schon in seinem Nest unter dem Kreuze des Erlösers. Eine dunkle Nacht hüllte Wald und Wiesen in ihre tiefen Schatten, und über der Hütte leuch­teten die Sterne. Bruder Immanuel schlief nicht, er wachte und schaute durch ein kleines` Fenster auf die Schrift der Sterne. Er hatte es nun gelernt, in der Schrift der Sterne zu lesen, und auch in dieser Schrift begegnete er dem Bildnis des Franziskus von Assisi. Es stand groß und deutlich darin in Lettern, die niemals vergehen werden.

Es war schon spät, da geschah es, daß an die Tür der Hütte ge­klopft wurde. Es war das noch nicht geschehen - wer sollte in dieser Waldeinsamkeit an die Türe klopfen? Es war unwahrscheinlich; aber Bruder Immanuel stand auf von seinem Lager und öffnete. Vor ihm im Dunkel der Nacht stand wie ein rie­siger Schatten eine große Bärin. Es hätte einen anderen wohl grauen können; aber Bruder Immanuel sah, daß die Bärin in Not war, denn sie führte ihr Kind an der Tatze, das krank war.
„Ich habe gehört, daß du ein älterer Bruder bist“, sagte die Bärin sehr bescheiden, „mein Kind ist krank, vielleicht kannst du ihm helfen.“ 

Bruder Immanuel nahm das Bärenkind auf die Arme und bettete es sehr sorgfältig auf sein eigenes Lager. Der kleine Bär ließ sich ganz ohne Scheu und selbstverständlich aufneh­men, die Bärin folgte langsam und etwas mißtrauisch. „Wir haben es mit einigen Kräutern versucht, die wir ken­nen“, sagte sie, „aber es hat diesmal nichts geholfen.“
„Man muß dazu noch andere Kräuter kennen, liebe Schwe­ster“, sagte Bruder Immanuel sehr freundlich, „es ist etwas auch in euch von der Verwirrung in der Kette der Dinge, sonst würdet ihr nicht krank werden können. Auch das wird einmal nicht mehr sein.“
Das Eichhörnchen hatte sich knurrend und fauchend er­hoben.
„Lieber Bruder“, sagte Bruder Immanuel zu ihm, „gehe und suche mir die Blume mit dem roten Kelch, die am Weg der Dornen blüht, und rufe die Hirschkuh, denn ich brauche etwas Milch, weil jemand krank ist.“
Das Eichhörnchen verschwand im Dunkel, und Bruder Im­manuel deckte den kleinen Bären sorgsam zu. 

„Dieses Heilkraut kennen wir nicht“, sagte die Bärin.
„Ihr werdet es auch kennenlernen im Wandel der Dinge. Es blüht am Wege, den die älteren Brüder gehen.“
Dann nahm er ein Brot, bestrich es mit Honig und bot es der Bärin an. Die Bärin beschnupperte es, aber sie war in Angst um ihr Kind und wollte nicht essen.
„Wir wollen es beide zusammen essen“, sagte Bruder Imma­nuel, „es ist nicht nur gut für dich, weil du hungrig vom Wege und erschöpft von der Sorge um dein Kind bist. Es ist auch sonst gut, wenn wir zusammen das Brot essen. Es ist dies kein gewöhnliches Essen, sondern etwas sehr Wunderbares, wenn wir beide zusammen das Brot brechen. Es ist für mich dann auch viel leichter, dein Kind zu heilen.“
Da nahm die Bärin das Brot, und sie aßen beide zusammen. Bruder Immanuel aber setzte sich neben das Lager des kleinen Bären und begann aus Holz eine einfache Kugel zu schnitzen.
„Ist das ein Zaubermittel?“ fragte die Bärin und kroch miß­trauisch näher, um es sich anzusehen. Irgendwie spürte sie noch eine Sorge um ihr Kind.
„Das ist kein Heilmittel“, sagte Bruder Immanuel sehr freund­lich, „das Heilmittel holt uns das Eichhörnchen, und es wird bald da sein. Dies hier ist etwas ganz Einfaches. Es wird eine Holzkugel werden, und dein Kind soll morgen früh damit spielen, wenn es aufwacht und wieder gesund ist.“
Da leckte ihm die Bärin die Hände, welche die Kugel schnitz­ten, und jetzt glaubte sie es, daß Bruder Immanuel ein älterer Bruder war. 

Inzwischen war das Eichhörnchen zurückgekommen und hatte die rote Blume mitgebracht, die am Wege der Domen wächst. Draußen vor der Hütte stand die Hirschkuh, und Bruder Im­manuel trat zu ihr hinaus.
„Ich danke dir viele Male, daß du gekommen bist“, sagte er, „es ist für die Bärin und ihr Kind, wenn du deine Milch her­gibst.“
„Für die Bären will ich nichts von meiner Milch geben“, sagte die Hirschkuh, „sie haben oft meinesgleichen gerissen im Walde.“ 

„Das ist wohl wahr“, sagte Bruder Immanuel, „aber siehst du, es ist ihr Kind, und es kann nicht gesund werden, wenn du ihm nicht etwas von deiner Milch schenkst. Nur diese Milch kann dem Kinde helfen, gerade weil die Bären dir Unrecht ge­tan haben durch die Verwirrung in der Kette der Dinge. Du gehst den Weg des älteren Bruders, wenn du es tust. Ich gehe auch diesen Weg; sonst dürfte ich dich nicht darum bitten.“
Da gab die Hirschkuh von ihrer Milch, und Bruder Immanuel dankte ihr viele Male dafür. Denn es war viel mehr, was sie getan, als daß sie ihre Milch hergegeben hatte. Ein Glied hatte sich entwirrt in der Verwirrung der Kette der Dinge, und ein Schritt war getan auf dem großen Wege der Erlösung. Es war vielleicht nicht viel, was auf dieser Erde des Scheins geschah; aber in der Welt der geistigen Wirklichkeiten war es ein ge­waltiges Ereignis. Bruder Immanuel tat die rote Blume, die am Wege der Domen blühte, mit der Milch der Hirschkuh in eine Schale und reichte sie dem kleinen Bären. Das Bärenkind trank die Schale aus und schlief sehr tief ein. 

„Die Hirschkuh, deren ihr viele gerissen habt, liebe Schwester, hat dir diese Milch gegeben“, sagte Bruder Immanuel zu der Bärin. „Morgen ist dein Kind gesund.“
In der Seele der Bärin ging etwas vor, was sie noch nie erlebt hatte. Es war dies eine wunderbare Nacht.
„Wir werden niemals wieder eine Hirschkuh oder eines ihrer Kälber reißen in diesem Walde“, sagte die Bärin, „ich werde das allen Bären sagen, und sie werden das einsehen.“
Das war wieder ein gewaltiges Ereignis in der Welt der gei­stigen Wirklichkeiten, wenn es auch nur ein Wort war in die­ser Welt des Scheins.
„Du kannst jetzt schlafen“, sagte Bruder Immanuel zur Bärin, „ich werde bei deinem Kinde wachen.“
Da legte sich die Bärin zu seinen Füßen hin, atmete tief auf und schlief ein. 

Am anderen Morgen erwachte sie und sah, daß ihr Kind in der Hütte umhertollte und mit einer hölzernen Kugel spielte. Dabei brummte es vor Vergnügen; denn die hölzerne Kugel war sehr schön.
Da bedankte sich die Bärin viele Male bei dem Eichhörnchen für die Mühe, die es gehabt, und bei Bruder Immanuel für das Wunder und die Heilung, die er vollbracht hatte.
„Ich allein kann keine Wunder tun und keine Heilung voll­bringen“, sagte Bruder Immanuel, „aber siehst du, die Wun­der und die Heilung liegen in euch selber. Und wenn dein Kind gesund wurde, so dankst du es dem Eichhörnchen, der Hirschkuh und dir. Ich kann nicht mehr tun als auf dem Wege des älteren Bruders vorangehen.“
Da ahnte die Bärin, was geschehen war, und sie verabschiedete sich mit vielen Verneigungen von Bruder Immanuel und dem Eichhörnchen, und das Bärenkind tat dasselbe und gab die Tatze zum Abschied. Mit der anderen Tatze aber hielt es die Kugel aus Holz, und die nahm es mit, um weiter damit zu spielen. Es war freilich nur ein Spielzeug; aber es war ein Spielzeug, das ein älterer Bruder geschnitzt hatte.
So schloß sich wieder ein Ring in der Kette der Dinge. 

In diesem Walde wurde nie wieder eine Hirschkuh oder ein Hirschkalb gerissen, und wenn Bruder Immanuel durch den Wald ging, dann grüßten ihn alle Raubtiere schon von wei­tem. Die Bärin verneigte sich, die Wölfe und Füchse bellten leise und höflich, und die Wildkatzen schnurrten, wenn sie ihn sahen.
Er aber segnete sie alle mit dem Segen des älteren Bruders, und er besprach mit ihnen, daß auf dem Berge, auf dem seine Hütte stand, kein Tier dem anderen etwas tun dürfe.
Noch war die Kette der Dinge nicht entwirrt, und noch mußte es geschehen, daß einer den anderen riß zur Nahrung.
Aber auf diesem Berge sollte es nicht mehr geschehen, und die Tiere versprachen alle, es so zu halten, und sie taten es auch.
So hatten die Tiere erfaßt, was Asylrecht ist, und dies war ein großes Ereignis auf der Erde und ein noch größeres Ereignis in der Welt der geistigen Wirklichkeiten, und es war das größte der großen Ereignisse aus dieser wunderbaren Nacht. 

Die irdene und die kristallene Schale

Es war nicht so, daß Bruder Immanuel nur mit den Tieren des Waldes allein lebte; es war auch nicht so, daß er keine mensch­liche Seele sah außer dem Einfältigen, der ein Meister gewor­den war. Gewiß wäre er auch dann nicht allein gewesen. Aber es war doch noch anders, und so ist es immer, wenn jemand den Weg des älteren Bruders geht. Bruder Immanuel sah mit den inneren Augen, die sich ihm geöffnet hatten, nicht nur die Seelen der Tiere und die Kräfte der Pflanzen und Dinge, es geschah auch oft, daß er mit diesen inneren Augen Gestalten erblickte, die neben ihm hergingen oder sich im Frieden seiner Hütte neben ihn setzten und mit ihm redeten, bei Tage und bei Nacht. Es waren dies ältere Brüder, die vor ihm seinen Weg gewandert waren und die gleichen Wege bereiteten auf dem anderen Ufer dieser Welt.

Es bauen ja Tote und Lebende an den Brücken zum Lande der Verheißung und gießen die Seele der Erde in immer neue Formen. Die Menschen, die in einem Körper gefangen sind, haben es nur vergessen, daß sie vom anderen Ufer der Welt kamen und wieder zu diesem an­deren Ufer gelangen, wenn sie der Tod in seinem Nachen aber den dunklen Strom führt. Das ist gewiß sehr wesentlich, so wie die Menschen heutzutage geartet sind, aber es braucht gar nicht so wesentlich zu sein. Es ist eine kristallene Schale in einer irdenen. Ein Leib aus groben Stoffen, der einem feineren Leib die irdene Schale war, bleibt zurück, und das ist alles. Man selbst lebt weiter in der kristallenen Schale; aber diesen feineren Leib hatte man auch, als man noch in der irdenen Schale war, nur achtet man nicht darauf, weil man nur auf die irdene Schale achtet. Im Schlafe wissen das die Menschen, weil sie dann ihre irdene Schale verlassen und vor ihr stehen in ihrem feineren Leibe, und sie wandern oft weit fort von ihrer irdenen Schale, die nur wie mit einem dünnen silbernen Bande mit ihnen verbunden bleibt. Im Tode löst sich auch dieses Band, weil die irdene Schale nicht mehr brauchbar ist und man sie nicht mehr benötigt in der anderen Stofflichkeit des anderen Ufers.

Aber ist das sehr wesentlich? Man lebt in der kristallenen Schale weiter, in der man immer lebte, auch als die irdene sie noch umschloß. Es ist eigentlich sehr einfach, und die Menschen merken es nur nicht, wie einfach es ist, ,weil ihre irdene Schale zu dick und zu grob ist und sie alles vergessen, wenn sie wieder in ihre irdene Schale hineintau­chen. Es ist darum auch sehr wichtig, daß man seine irdene Schale feiner gestaltet, so daß man noch einiges in sie mit­nimmt von einem lichteren Bewußtsein, wenn man vom an­deren Ufer kommt. Denn es soll ja die irdene Schale die kri­stallene nur tragen, aber nicht verdunkeln, und die kristallene soll die irdene Schale durchlichten. Es ist dies ein Geheimnis aus dieser und jener Welt, und man kann Leben und Tod nicht verstehen, wenn man dieses nicht versteht.

In solchen feineren Leibern des anderen Ufers saßen die älte­ren Brüder, die über den Strom geschifft waren, neben Bruder Immanuel und redeten mit ihm über die Wege der älteren Brüder und über das Land der Verheißung. Es war dazwischen auch so, daß Bruder Immanuel seine irdene Schale im Schlafe verließ und in seiner kristallenen Schale die älteren Brüder auf dem anderen Ufer besuchte, wenn er sie sprechen wollte. Er hatte dann nur darauf zu achten, daß das silberne Band nicht riß, das ihn mit seiner irdenen Schale verband und das sich über den dunklen Strom spannte. Aber wer sollte das wohl zerreißen, denn Bruder Immanuel lebte ja ferne von den Menschen, die so etwas mit plumpen Händen greifen, und an seiner irdenen Schale in der Hütte wachte das Eich­hörnchen und wartete geduldig, bis er wiederkam. Der dunkle Strom ist ja auch nichts als ein kleiner Bach für die, welche den Weg des älteren Bruders wandern, und es ist nicht weit für sie von diesem Ufer zu jenem. Ich muß das sagen, damit man nicht denkt, das Leben Bruder Immanuels sei einsam gewesen und weltferne. Es war nur das Unwesentliche, was ferne gerückt war, und das Wesentliche war nahe.

Es geschah nun, als Bruder Immanuel einmal vor seiner Hütte mit den Gestalten seiner älteren Brüder vom anderen Ufer saß und über das Wesen der Dinge redete, daß sich ein großer Lärm im Walde erhob und viele Tiere angstvoll dem Berge zueilten, auf dessen Gipfel Bruder Immanuels Hütte stand.

„Es muß sich etwas sehr Schreckliches ereignet haben“, sagte das Eichhörnchen, das schon wach war, obwohl es um die erste Morgenstunde war. Aber es war sehr lernbegierig und hörte gerne zu, wenn die älteren Brüder redeten. Sie waren auch immer alle so sehr freundlich zu ihm. Auf die Hütte zu kam mit lautlosen Flügelschlägen eine große Ohreule geflogen und setzte sich auf Bruder Immanuels Schoß.
„Es ist ein König mit vielen Menschen, Pferden und Hunden im Walde eingefallen zu einer großen Jagd. Sie führen schreck­liche Spieße mit sich, und alle Tiere fliehen entsetzt zu deiner Hütte. Aber der Weg ist zu weit, und sie haben auch ihre Klei­nen mit sich, die sie nicht im Stich lassen können, und so wer­den sie sich nicht retten können, wenn du ihnen nicht hilfst. Ich bin gekommen, um Hilfe zu bitten, denn ich bin die ein­zige, die in der Dunkelheit so schnell fliegen kann.“
Die Ohreule war sehr erschöpft, und ihre Schwingen zit­terten. 

Da bat Bruder Immanuel seine älteren Brüder vom anderen Ufer, und sie machten es, daß ein dicker grauer Nebel den König mit all seinen Menschen, Pferden und Hunden ein­hüllte. Über den Tieren des Waldes aber ging die Sonne auf und zeigte ihnen den Weg. Die Ohreule schloß geblendet die Augen, und Bruder Immanuel brachte sie in seine Hütte, da­mit sie sich ausruhen und am Tage schlafen könne.
„Schicke die Vögel aus den Nestern deiner Hütte aus“, sagten die älteren Brüder, „daß sie allen Tieren des Waldes sagen, sie mögen unbesorgt sein, der Nebel um den König und sein Ge­folge wird nicht weichen, bis du es nicht willst, Menschen und Pferde werden nicht weiter eindringen, und die Hunde wer­den keine Spur finden können.“
Da flogen die Vögel aus in alle Richtungen des Waldes und waren froh, daß sie Frieden verkünden konnten. 

„Warte bis zur Nacht“, sagten die älteren Brüder, „dann gehe hin und rede mit dem König! Er ist ein Tor, und er soll ein Weiser werden.
„Wann muß ich ausgehen, damit ich zurechtkomme?“ fragte Bruder Immanuel, „wie viele Stunden Weges ist es von hier?“
„Es ist gleich, wie weit es ist“, sagten die älteren Brüder, „gehe in deiner kristallenen Schale, wenn deine irdene Schale schläft, und wir werden bei dir sein und dich geleiten.“
Mit diesen Worten gingen sie zum anderen Ufer, Bruder Im­manuel aber begab sich in seine Hütte, reichte der Ohreule und dem Eichhörnchen ihr Essen, und sie warteten auf die Nacht.
Als die ersten Sterne am Himmel standen, legte sich Bruder Immanuel auf sein Lager und verließ seinen grobstofflichen Leib, mühelos, wie man ein Kleid ablegt. In seinem feinstoff­lichen Leibe aber stand er, seltsam durchlichtet, vor dem Eich­hörnchen und der Eule und schlug das Kreuz am Bildnis des Erlösers von seiner Wanderung.
„Bleibe bei meiner irdenen Schale in der Hütte, lieber Bruder“, tagte er zu dem Eichhörnchen, „für dich ist dieser Weg zu weit. Aber meine Schwester, die Eule, ist das Fliegen gewohnt, sie kann mich begleiten.“ 

Mit beinahe lautlosen Schwingenschlägen glitt die Eule ins Dunkel der Nacht, und noch lautloser, noch wesenloser im Irdischen glitt die Gestalt Bruder Immanuels neben ihr hin, und es gab für sie keine Hindernisse, keine Bäume und keine Äste. Sie war von einem Stoff, der durch alles hindurchdringt, Was nicht vom anderen Ufer ist. Es ist dies sehr schwer einem Menschen zu beschreiben, der nur im Bewußtsein seiner ir­denen Schale lebt, aber es ist dem so, und man muß es sagen, weil es wahr ist.
Im Jagdlager des Königs hatte niemand einen Schritt machen können den ganzen Tag über, weil man nichts mehr sah im dicken grauen Nebel, und alle waren mürrisch und verdrossen schlafen gegangen. Nur der König wachte und starrte finster in Ein kleines Lagerfeuer vor seinem Zelt. Es ärgerte ihn, daß etwas stärker war als er und daß ihm sein Vergnügen gestört wurde. 

Bruder Immanuel glitt vor ihn hin, und die Eule setzte sich auf das Dach des Königszeltes, denn sie wollte alles hören, was gesprochen wurde, um es nachher den Tieren des Waldes zu erzählen. Es war sehr sonderbar, aber auch die Hunde merk­ten nicht, daß jemand gekommen war. Vielleicht hatten sie es auch bemerkt, aber sie schlugen nicht an, weil sie ahnten, daß es etwas vom anderen Ufer war. Die Tiere sind oft klüger als die Menschen.

„Du mußt diesen Wald verlassen, lieber Bruder“, sagte Bruder Immanuel zum König, „denn du bist hergekommen, um zu töten.“
Der König sah erschrocken auf. Es war sonderbar, daß plötzlich ein fremder Mann vor ihm stand und daß seine Wachen ihn durchgelassen hatten. Noch sonderbarer war es, daß dieser Mann anders aussah als alle anderen, denn es war, als wäre sein Körper durchlichtet. Den König packte ein Grauen an; aber er besann sich, daß er König war und Herr dieses ganzen Gebietes.
„Ich bin nicht dein Bruder“, sagte er, „ich bin der König dieses Waldes. Schere dich fort, hier hat niemand zu gebieten als ich allein.“
Er wollte die Wachen rufen, aber er konnte es nicht. 

„Du bist noch nicht mein Bruder“, sagte Bruder Immanuel, „aber ich habe dich aus Güte so genannt, weil du es einmal sein wirst, früher oder später, je nachdem du es willst. Aber einmal wirst du es sein müssen, und es ist gut für dich, wenn es zeitig geschieht. Der König dieses Waldes aber bist nicht du, Gott ist der König dieses Waldes, und er hat ihn seinen Tieren geschenkt.
„Du bist selbst ein Tier!“ schrie der König wütend und griff nach seinem Speer.
„Ich bin der Bruder der Tiere und gehe den Weg des älteren Bruders, den auch du einmal wirst gehen müssen. Laß deinen Speer stecken, es ist sehr töricht, damit nach mir zu stoßen, denn ich bin nicht in meiner irdenen Schale, wie du es bist.“
„Ich weiß nicht, wer du bist, und will es nicht wissen“, sagte der König, „geh fort von mir, du bist mir unheimlich, geh fort von mir, ich gebiete es dir, ich bin der König.“
„Das Gebot eines Königs, der kein geistiger König ist, ist etwas Lächerliches in der Welt vom anderen Ufer“, sagte Bruder Immanuel. Er sagte das still und freundlich, wie man eine Tatsache feststellt. Es war kein Angriff in dieser Rede, und un­willkürlich mußte der König schweigen, denn er wußte nicht, was er antworten sollte. 

„Siehst du, lieber Bruder“, fuhr Bruder Immanuel fort und setzte sich neben den König, „es ist so, daß man viele Tau­sende von Jahren zurückgehen muß, wenn man einen Schritt vorwärtstun will. Ich will dich zurückführen.“ Und er legte ihm die Hand auf die Augen, so daß des Königs irdische Augen sich schlossen und seine inneren Augen zu schauen begannen.
„Siehst du die vielen Tausende von Jahren zurück, und vor Gott sind sie wie ein Tag? Alle Menschen wandeln durch viele irdische Leben und alle Geschöpfe mit ihnen, die verkettet sind in der Kette der Dinge. Du sagst, daß du ein König bist. Ich glaube das nicht, denn du bist kein König im Land vom anderen Ufer. In deinem vorigen irdischen Leben warst du der Diener eines Großen und wolltest gerne selber ein Großer werden. Im Lande vom anderen Ufer warst du ein Bettler mit diesem Wunsche; aber der Wunsch wurde dir erfüllt, und du wurdest nach deiner Wiedergeburt ein König unter den Men­schen. Denn die Menschen wählen sich heute noch ihre Kö­nige nicht unter den geistigen Königen, sondern meist unter den Toren, weil sie selber Toren sind. Meinst du, es ist etwas Großes, unter den Toren der Größte zu sein? Die Engel, die dich leiteten und dich gewähren ließen, dachten, du würdest vielleicht noch ein König werden, wenn deine Hände eine Aufgabe ergreifen, die du dir gewünscht hast. Aber du hast nur befehlen und töten gelernt. Niemand, der befiehlt und tötet, ist ein König. Du bist ein Diener geblieben, ein Diener einer dunklen Macht, die du zu töricht bist zu erkennen. Du wärest auch nie ein König geworden auf dieser Erde, wenn die Menschen es nicht doch verdienten, dich zum Könige zu haben. Bist du immer noch stolz, ein König zu sein?“ 

Der König sah das, was Bruder Immanuel sah. Denn er sah das Leben mit seinen inneren Augen.
„Ich sehe, daß ich ein Bettler bin und kein König“, sagte er. „Ich will diesen Wald verlassen, sobald der Nebel wieder weicht.“
„Der Nebel wird weichen, wenn du es willst. Es ist nicht der Nebel des Waldes, der sich um euch gelegt hat. Meine älteren Brüder spannen diesen Nebel um euch aus euren eigenen Gedanken.“
„Was soll ich tun?“ fragte der König, der ein Bettler war.
„Töte niemals wieder“, sagte Bruder Immanuel, „keinen Men­schen und kein Tier! Heilige alles Leben, denn das allein ist Königtum. Gehe den Weg des älteren Bruders, wie ich ihn gegangen bin, denn herrschen darf nur, wer auch im kleinsten Geschöpf den Bruder achtet.“
„Und wenn ich wie ein Heiliger lebe, ich muß Kriege führen, solange ich ein König bin“, sagte der König.

„Es braucht niemand zu kriegen, der weise ist“, sagte Bruder Immanuel, „es ist so, daß nicht die Könige den Krieg führen, sondern der Krieg führt die Könige. Es ist ein Narrenseil voll Blut. Laß dich nicht vom Krieg führen, und du wirst keinen Krieg zu führen brauchen, weder mit den Menschen noch mit den Tieren. Es ist so vieles vermeidbar dem, dessen kristallene Schale rein ist. Siehe, du lebst im Bewußtsein deiner irdenen Schale, und sie verdeckt dir das Land vom anderen Ufer und die Weisheit dieser und jener Welt. Ich habe diese irdene Schale abgelegt, und ich bin bei dir in meiner kristallenen Schale. Lebe so, daß deine irdene Schale sich verfeinert und daß du dich selber schaust in deiner kristallenen Schale! Diese kristallene Schale aber mache so frei von aller Begierde, so rein und so klar, daß alles Licht vom anderen Ufer sich in sie ergießen kann! Denn dieses Licht ergießt sich in alle Schalen, die ihm bereitet sind. Dann wirst du ein geistiger König sein, und kein irdischer König kann einen geistigen König besiegen. Halte deine kristallene Schale bereit in Sühne, Sehnsucht und Liebe, denn es ist die Schale des Grals, die jeder in sich trägt, den Gott geschaffen.“

Lautlos, wie er gekommen war, verschwand Bruder Immanuel im Dunkel der Nacht, und die Eule folgte ihm. Ebenso lautlos glitt er wieder in seine irdene Schale in der Hütte und legte sich zur Ruhe, und das Eichhörnchen schlief in seinem Arm.

„Ich werde den Weg des älteren Bruders gehen“, sagte der Kö­nig, der ein Bettler gewesen war, und wie er das gesagt hatte, schwand der Nebel, und die Morgensonne kam. Ihre Strahlen fielen in eine kristallene Schale, die klar und rein geworden ?war und bereitet in Sühne, Sehnsucht und Liebe für den Gral. Der König aber war nun kein Bettler mehr, sondern er war wirklich ein König geworden.

Die Menschen schwiegen, die Hifthörner klangen nicht, und die Hunde bellten nicht, als der König mit seinem Jagdgefolge nach Hause zog. Den Wald aber hat niemand mehr betreten, der töten wollte, seit jenem Tage. Der König jagte nicht mehr, und er führte auch keine Kriege, denn es war so, daß der Krieg ihn nicht mehr führen konnte, seit er ein geistiger König war und seit er die Schale des Grales wissentlich in sich trug.

Die Eule aber erzählte es im ganzen Walde, was sie gehört und gesehen hatte, und sie galt seitdem als der weiseste Vogel unter den Tieren des Waldes. Denn sie redete von Sühne, Sehnsucht und Liebe und vom Geheimnis, das Tod und Leben umfaßt, von der irdenen und von der kristallenen Schale.

Gottes Gäste

Es ist eine schwere Zeit für die Tiere, wenn der Schnee fällt und die Wunder des Waldes in den Schoß der Erde zurück­sinken. Viele Vögel ziehen fort, weil sie eine solche Kälte nicht ertragen können, und viele Tiere verkriechen sich in ihre Höhlen und Nester, um den Winterschlaf zu halten und auf der Schwelle zwischen dieser und jener Welt zu warten, bis sich die Keime des Lebens wieder zu regen beginnen. Diese Tiere haben es leichter als die anderen. Es gibt aber auch viele, die den Kampf mit dem Winter aufnehmen. Es muß wohl sei­nen Grund haben, daß sie es tun; vielleicht ist es eine Auf­gabe im geheimnisvollen Lauf der Dinge.

Bruder Immanuel half ihnen mit den geringen Mitteln, die er hatte; aber er konnte nicht immer allen helfen, und es war dies ein sehr bedrückendes Bewußtsein für ihn.

Noch bedrückender empfand er diese Armut den jüngeren Brüdern gegenüber, als Weihnachten herannahte. Er sah es deutlich, daß Weihnachten kam; denn er sah mit seinen inneren Augen, wie die Erde in ihren Tiefen immer leuchten­der wurde, als strahlten die vielen in sie versenkten Keime kleine Flammen aus und verbänden sich gegenseitig in ihren vielfältigen Formen zu einer Schrift des künftigen Lebens, das um Ostern erwachen sollte. Auch in den Bäumen, die im eisigen Sturmwind standen, war dieses innere Leuchten, und es war eigentlich so, daß der ganze Wald ein Meer von klei­nen Lichtern war, obwohl das alles in Eis und Schnee wie in eine Decke des Todes verhüllt war. Aber der Tod ist ja überall nur etwas Scheinbares. So nahm das innere Licht der Erde von Tag zu Tag zu, und die Heilige Nacht rückte immer näher.

Bruder Immanuel hatte reichlich Samen, den er gezogen, für die Vögel zurechtgelegt, Kohl und Rüben für die Hirsche, Rehe und Hasen, und Nüsse und getrocknete Pilze für die Eichhörn­chen und andere Nager. Für die Raubtiere und für die Fische im Bach hatte er Brot bereitgestellt, das ihm der Einfältige, der ein Meister geworden war, zu dieser Zeit häufiger als sonst gebracht hatte. Aber Bruder Immanuel fragte sich, ob es für alle genügen würde, die er zur Weihnacht zu Gast bitten wollte. Denn es war ärmlich, wenn man bedachte, wie viele Tiere des Waldes kommen würden, wenn er sie rief.

Jedenfalls beschloß er, alles herzugeben, was er hatte, und das Eichhörnchen hatte fleißig geholfen, die Vorräte zusammen­zustellen, so daß es hübsch und gefällig aussah und man gleich sehen konnte, daß es kein gewöhnlicher Tisch, sondern eine Feiertafel der Weihnacht war. Sonst hatte das Eichhörnchen bis zu diesen Tagen der Vorbereitung viel geschlafen; denn es vertrug den Winter auch nicht sonderlich gut. Nur dazwischen stand es auf, rieb sich die Augen mit den Pfoten, verspeiste eine Nuß oder einen getrockneten Pilz oder warf einige Äste in das Feuer, das Bruder Immanuel ständig unterhielt.

Bruder Immanuel aber war schon lange vor Weihnacht in den Wald hinausgegangen und hatte allen Tieren, denen er begegnete, gesagt, daß er seine jüngeren Brüder einlade, Weihnacht mit ihm zu feiern, und die Tiere hatten sich vielmals bedankt, und es hatte es einer dem anderen weitergesagt.

Am Nachmittage vor der Heiligen Nacht fachte Bruder Imma­nuel das Feuer in seiner Hütte an und öffnete die Tür in die weiße weite Schneelandschaft hinaus, so daß ein zuckendes Flammenspiel über sie hinlief. Die Tür hatte er mit Tannen­plan bekränzt, und vor der Hütte hatte er alle seine Vorräte ausgebreitet. Vor dem Bildnis des Erlösers aber brannte eine geweihte Kerze, die der Einfältige, der ein Meister geworden war, zu diesem Zwecke mitgebracht hatte. Das Eichhörnchen saß davor und sah andachtsvoll in die ruhige stille Flamme. Bruder Immanuel aber läutete die Glocke mit der feinen, sil­bernen Stimme und rief die Tiere des Waldes zur Feier ihrer und seiner Weihnacht.

Als die Tiere die Glocke hörten, kamen sie in großen Scharen in und sammelten sich auf dem Gipfel des Berges, und Bruder Immanuel bat sie zu essen. Es sei dies alles, was er habe, und de mögen das Brot mit ihm brechen zur Weihnacht des Wal­des. Nachher wolle er ihnen dann vom Wunder der Weih­nacht erzählen.

„Wir bedanken uns viele Male“, sagten einige Tiere für sich und alle anderen, „aber wir wollen dein Brot nicht essen. Wie sollst du sonst leben? Dazu sind wir nicht gekommen. Aber wir wollen gerne hören, wenn du uns das Wunder der Weih­nacht erklärst. Wir fühlen das alle, wenn es über den Wald kommt, aber wir sind wohl noch zu jung, um es zu verstehen. Oder vielleicht ist es auch nur darum, daß es uns niemand er­klärt hat. Es muß dies wohl auch ein älterer Bruder tun, denn es ist gewiß sehr schwer.“

„Das Wunder der Weihnacht ist nicht schwer“, sagte Bruder Immanuel, „es ist nur schwer für jene, die es nicht verstehen Wollen, und die meisten Menschen wollen das nicht. Denn die Menschen feiern ihre Weihnacht, indem sie unzählige Gottesgeschöpfe töten. Diese Gottesgeschöpfe aber sind ihre Geschwister. So ist es eine entweihte Nacht und keine Weih­nacht. Die Menschen sind ferne von der Weihnacht, weil sie ferne von der Liebe sind, und doch müssen sie zuerst in der Weihnacht und in der Liebe vorangehen, denn sie sind die älteren Brüder. Es ist aber nicht so, daß ihr mein Brot nicht essen sollt. Ich habe es dazu für euch gesammelt, und es wer­den viele von euch sehr hungrig sein. Es ist meine Weihnacht, daß ihr meine Gäste seid, und es ist meine und eure Weih­nacht, wenn wir das Brot zusammen essen.“

Da fingen die Tiere an zu essen. Bruder Immanuel aber sah, daß es nicht reichen würde, denn viele von den Tieren waren sehr hungrig, und die Zahl war sehr groß. Da wandte er sich an das Bild des Erlösers mit der geweihten Kerze davor und sagte: „Ich bitte dich, daß meine Geschwister satt werden, wenn sie mit mir das Fest deiner Weihnacht feiern.“

­Es begann schon zu dunkeln, aber mit einem Male wurde es ganz hell auf dem Berge. Zwei große Engel standen zu beiden Seiten der Hütte, und der Schnee und das Eis begann zu schmelzen, denn die Engel hatten die heißen Quellen ge­rufen, die unter dem Berge flossen, daß sie heraufkämen und die Erde erwärmten. Über die schneebefreite Erde aber streck­ten beide Engel die Hände aus, und da wuchsen Gras und Blumen und viele andere Pflanzen aus dem Boden hervor, auch solche, die sonst niemals hier gewachsen waren, so daß der Berg grün war wie im Frühling und die Tiere überreich hatten, ihren Hunger zu stillen. Auch die Raubtiere aßen da­von und wurden satt, und es schmeckte ihnen so gut, wie sie sich das niemals gedacht hätten, denn es war Weihnacht, und alle Geschöpfe, die sich zu ihr bekannten, waren wieder Kin­der geworden, wie es einstmals war und wie es wieder einmal sein wird im Lande der Verheißung, wenn die Erde entsühnt ist.

Die Engel aber gingen zwischen den Tieren umher und redeten mit ihnen, wie man mit seinen jüngeren Geschwi­stern redet. Sie sagten den Tieren, daß sie auch ihnen einmal die Geburt des Erlösers verkündet hätten, als der Stern über Bethlehem stand. Und es war den Tieren, als erinnerten sie sich an etwas, was sie vergessen hatten, was sie im Grunde ihrer Seele gewußt hatten und was sich nur verwirrt hatte durch die Verwirrung in der Kette der Dinge. Die Erde aber blühte mitten aus dem Winter heraus, und die beiden Ufer der Welt berührten sich. Auch die Erde hat ihre irdene und ihre kristallene Schale, und es war, als wäre diese kristallene Schale durch die irdene hindurchgedrungen und habe sie durchlichtet mit der Liebe zu allen Geschöpfen - und es wird dies auch einmal so sein, wenn alle den Weg des älteren Bru­ders gegangen sind.

Als alle Tiere satt waren, setzte sich Bruder Immanuel zu ihnen, und das Eichhörnchen kletterte auf seine Schulter. Er aber erzählte den Tieren vom Wunder der Weihnacht, als die Liebe in die Erde geboren wurde, um sie immer mehr und mehr zu durchlichten, und er erzählte, daß dieses geschah, als ein König geboren wurde in einer ärmlichen Krippe und in einem Stalle, und die Tiere hätten dabeigestanden und den König in der Krippe gesehen. Über dem König aber und den Tieren habe der Stern von Bethlehem geleuchtet. Da verstan­den die Tiere, daß dies der wirkliche König der Erde sein müsse, weil keine Krone, sondern ein Stern über seiner Wiege gestanden. Es ist dies ein Geheimnis der Schöpfung, und doch ist es so einfach zu verstehen wie das Wunder der Liebe.

„Es ist dies der einzige Weg zur Erlösung“, sagte Bruder Im­manuel, „daß alle älteren Brüder den jüngeren Brüdern voran­gehen in Sühne, Sehnsucht und Liebe. Es hat auch der König, der nicht unter einer Krone, sondern unter einem Stern ge­boren wurde, zu den Menschen gesagt, daß sie hinausgehen mögen in alle Welt, zu predigen das Evangelium aller Kreatur; aber die Menschen waren nicht guten Willens, und sie sind es heute noch nicht. Es war dies das Licht, das in der Finsternis schien, aber die Finsternis hat es nicht begriffen. Die Men­schen sind den Menschen und den Tieren nicht ältere Brüder geworden, sondern Tyrannen und Mörder, und darum tragen sie das Zeichen Kains auf ihrer Stirne, und alle Geschöpfe Gottes fliehen, wenn sie Gottes Ebenbild sehen. Darum habt auch ihr mich geflohen, weil ich nicht war wie der Heilige von La Vernia und weil ich das Kainszeichen der Menschheit auf meiner Stirne trage. Glaubt es mir, liebe jüngere Brüder, es ist entsetzlich, ein Mensch zu sein, wenn man den Weg der Liebe wandeln will und wenn man es voller Grauen begreift, daß man ein Gezeichneter ist in Gottes Schöpfung.“

„Wir sehen kein Zeichen mehr an deiner Stirne“, sagten die Tiere. „Es ist nicht mehr so, daß du ein Kainszeichen trägst.“ Da barg Bruder Immanuel das Gesicht in den Händen und weinte, zum ersten Male seit jenem traurigen Abend, als er auf diesem Berge angekommen war. Aber es waren dies an­dere Tränen als an jenem Abend der Einsamkeit, und die Engel stellten sich neben ihn und schlossen ihre Schwingen über ihm und über dem Eichhörnchen, das sein erster Bruder geworden war.

Es war dies die Weihnacht Bruder Immanuels und seiner Brü­der, der Tiere. Als die Tiere sich verabschiedeten, traten sie eines nach dem anderen zu Bruder Immanuel hin. Die Vögel setzten sich auf seine Hand, die Hirsche und Rehe verneigten sich, und die Fische grüßten im Bach, und die Wölfe, die Wild­katzen, die Füchse, die Hasen, die Eichhörnchen und alle an­deren gaben ihm die Pfote, so wie der Wolf von Agobbio dem heiligen Franziskus von Assisi die Pfote gegeben hatte, als er ihm sein Gelübde ablegte. „Wir danken dir viele Male für alles, was du uns gesagt hast“, sagten die Tiere, „und wir be­danken uns auch bei den Engeln und bei dir für alles, womit ihr unseren Hunger gestillt habt. Es ist sehr viel, was heute ge­schehen ist, und es sind auch viele unter uns, die den Weg des älteren Bruders gehen wollen, soweit als dieses heute möglich sein wird in der Verwirrung der Kette der Dinge.“

„Ich habe euch zu Gast haben wollen, und es ist für mich etwas sehr Heiliges gewesen, dies zu tun“, sagte Bruder Im­manuel, „aber ich selbst habe das größte Geschenk dabei emp­fangen. Es ist auch so, daß ihr nicht meine Gäste wart, son­dern ihr seid Gottes Gäste gewesen, denn er selbst hat euch an seinen Tisch der Liebe geladen.“ Der Berg, auf dem Bruder Immanuels Hütte stand, blieb im­mer grün seit jener Heiligen Nacht, Winter und Sommer, und es war kein Schnee und kein Eis mehr auf ihm zu sehen im Wandel der Jahre, so daß alle Tiere, die auf ihm Asylrecht ge­lobt hatten, ihre Nahrung fanden und nicht zu darben brauchten.

Es war, als wäre ein Stück Erde entsühnt und eine Brücke auf ihm erbaut worden hinüber zum Lande der Verheißung. Die Tiere aber vergaßen es niemals wieder, daß Bruder Imma­nuel sie zu dieser Weihnacht des Waldes gebeten hatte, daß die Engel mit ihnen geredet hatten und daß sie Gottes Gäste gewesen waren.

Das Land der Verheißung

Es ist nun nicht mehr viel zu erzählen von dieser Geschichte; denn es ist ja auch nur eines ihrer vielen Kleider, in das ich sie gekleidet habe. Es ist gewiß eine sehr einfache Geschichte; aber gerade darum ist sie ohne Zeit. Sie hat sich schon viele Male begeben vor vielen hundert Jahren, sie geschah gestern, und sie geschieht heute, und sie wird noch viele Male ge­schehen müssen, denn es ist ein langer Weg, bis die Erde ent­sühnt ist. Ich kann es auch nicht sagen, wie lange Bruder Im­manuel mit seinem Eichhörnchen und den anderen Tieren zusammen in diesem wunderbaren Wald gelebt hat. Man könnte auch vielleicht denken, daß das Eichhörnchen nach dem Laufe der Dinge hätte eher sterben müssen als sein äl­terer Bruder. Aber das ist nicht richtig, und es mag sein, daß Bruder Immanuels irdisches Leben verkürzt oder das irdische Leben des Eichhörnchens verlängert wurde. Das alles ist un­wesentlich, und in der Welt der geistigen Wirklichkeiten stehen nur die wesentlichen Dinge verzeichnet. Aus dieser Welt habe ich sie abgelesen - wo hätte ich sie auch sonst lesen können? In der Welt des anderen Ufers aber waren das ganz große Er­eignisse, wenn es hier auch nur eine unscheinbare und sehr einfache Geschichte ist. Denn es ist so, daß die großen Ereig­nisse immer hinter den Dingen liegen. Ich kann es auch nicht sagen, in wie langer Zeit sich diese Ereignisse, die ich erzählt habe, begeben haben. Sie geschahen ja eigentlich im Reiche der geistigen Wirklichkeiten, und dort gibt es nicht das, was wir die Zeit nennen. Denn die Zeit ist etwas Unwesentliches für den, der außer ihr lebt. Es ist dies vielleicht schwer zu ver­stehen; aber ich muß das alles so sagen, weil es wahr ist.

So geschah es einmal - und ich weiß nicht, wann das ge­schah -, daß Bruder Immanuels Engel zu ihm trat. Es war dies sein Schutzengel, wie ihn ein jeder hat für seine irdische Wanderung.

„Bruder Immanuel“, sagte er sehr freundlich, „du mußt dich nun bereiten, den silbernen Faden zwischen deiner irdenen und deiner kristallenen Schale zu lösen und an das andere Ufer zu kommen, um dort den Weg der älteren Brüder weiter­zubauen.“
„Das will ich gerne tun“, sagte Bruder Immanuel, „aber ich möchte meinen jüngeren Bruder nicht allein lassen, denn er hat sich nun ganz gewöhnt, seinen irdischen Pfad mit mir zu­sammen zu wandern, und er ist mir ein so guter Bruder gewesen, wie es nicht viele gibt.“
„Wir haben das bedacht“, sagte der Engel, „es kommen alle Geschöpfe, die Gott schuf, ans andere Ufer in ihrer kristalle­nen Schale. Du brauchst deinen kleinen Bruder nur auf den Arm zu nehmen, wenn wir dich zur Reise rufen.“
„Wir werden nun bald zusammen über eine Brücke gehen, mein kleiner Bruder, sagte Bruder Immanuel zum Eichhörn­chen, „es ist dies nicht wesentlich, und ich werde dich auf dem Arm tragen, so daß du es gar nicht merken wirst, ob es ein kurzer oder ein weiter Weg ist. In dem Lande aber, in das wir kommen, wirst du erkennen, was wesentlich ist und daß alles, was hier wesentlich war, geblieben ist, als habe sich nichts verändert. 

Und als der Einfältige, der ein Meister geworden war, ihn be­suchte, sprach er zu ihm: „Es ist dies das letzte Mal, mein lie­ber Bruder, daß wir auf diesem Ufer zusammen sind. Du mußt nun nicht mehr kommen; sondern wenn du mich sehen willst, so rufe mich, bevor du einschläfst, so daß wir uns in unserer kristallenen Schale begegnen können!“
„Das wird für mich sehr schwer sein“, sagte der Einfältige, der ein Meister geworden war, „denn ich bin nicht so weit wie du auf dem Wege, den wir beide wandern.“
„Siehst du, es ist niemand weit oder nahe“, sagte Bruder Im­manuel, „denn das Ziel ist zeitlos, wenn du es recht bedenkst. Wir wandern ja beide den Weg des älteren Bruders auf diesem und auf jenem Ufer, und dieser Weg ist ein vielfältiger für viele Geschöpfe, so daß niemand sagen kann, was nahe und was weit ist. Du aber mußt hier noch viele Werke schaffen, auch wenn ich jetzt gehe.“
„Es wird für mich eine traurige Zeit werden, bis ich auch gehen darf“, sagte der Einfältige, der ein Meister geworden war.
„Das mußt du nicht denken“, sagte Bruder Immanuel, „eine Zeitlang ist wenig, wenn du es recht bedenkst, vielleicht ist es gar nichts. Es ist ja auch so, daß sich die Kette der Dinge immer mehr entwirrt. Gott segne deinen Weg, lieber Bruder, denn es ist der Weg des älteren Bruders auf diesem und auf jenem Ufer.“ 

Und Bruder Immanuel nahm Abschied von dem Einfältigen, der ein Meister geworden war. Es war dies am Abend eines Tages und eines Lebens. Aber der Abend eines Lebens ist nicht mehr als der Abend eines Tages, und es ist auch nur auf die­sem Ufer, daß es Abend wird.

Am anderen Morgen, als die Sonne aufging, trat Bruder Im­manuels Engel wieder zu ihm. „Du mußt nun ans andere Ufer kommen“, sagte er freundlich.

Da legte sich Bruder Immanuel auf sein Lager in der Hütte und nahm das Eichhörnchen in den Arm. Es war sehr sonder­bar. Die Züge seines Engels veränderten sich, sie wurden bleich und ernst, seine Schwingen wurden schwarz und sein Gewand dunkel. Es war, als habe der Todesengel ihn ab­gelöst und stünde nun an seiner Stelle. Leise lockerte sich der silberne Faden zwischen der irdenen und der kristallenen Schale. Dann wandelten sich die Züge des Todesengels in die Züge des Erlösers am Kreuze, die Schwingen wurden golden und das Gewand weiß und durchsichtig wie durchlichteter Schnee. Da löste sich der silberne Faden zwischen der irdenen und der kristallenen Schale. Es war um die Osterzeit, als dies geschah. Ich kann es nicht sagen, ob es gerade am Ostersonn­tag war. In der Hütte Bruder Immanuels aber war es Oster­sonntag geworden.

Die Vögel, die auf dem Dach der Hütte nisteten, trugen die Kunde von Bruder Immanuels Tode zu den Tieren des Wal­des, und es war eine große Trauer unter ihnen, daß ihr älterer Bruder von ihnen gegangen war. Denn sie waren die jüngeren Brüder, und noch lebten sie ja im Bewußtsein dieses Ufers. Aber in solcher Trauer ist die Erkenntnis des anderen Ufers, und darum muß sie sein auf dieser Welt, bis sich einmal beide Ufer vereinigen.

In unabsehbaren Scharen kamen die Tiere des Waldes auf den Berg gewandert, auf dem Bruder Immanuels Hütte stand. Eines nach dem anderen traten sie in die Tür der Hütte und betrach­teten Bruder Immanuels irdene Schale, die friedvoll mit dem Eichhörnchen auf dem Arme dalag, das Bildnis des Erlösers über sich. Es war ganz still, und die Morgensonne malte gol­dene Zeichen an den Wänden.

Auch die Tiere waren still, und es störte keiner den anderen. Nur zwei große Bären klagten laut, als sie in die Tür der Hütte traten, und die Tränen liefen ihnen über die Schnauze. Es waren dies eine Bärin und ihr Sohn. Der Sohn der Bärin war kein Bärenkind mehr wie damals, sondern er war stark und gewaltig geworden und noch höher als seine Mutter, wenn er aufrecht stand. Eine hölzerne Kugel aber hielt er in der Tatze, obwohl er kein Bärenkind mehr war. Nur spielte er heute nicht mehr damit.

Ich kann nicht erzählen, welche Tiere alle vor Bruder Imma­nuels Hütte kamen, es wäre zuviel, sie alle aufzuzählen, und es ist auch nicht wesentlich. Wesentlich war nur, daß sie alle sich vereint fühlten als jüngere Brüder vor diesem Totenbett. Das aber war ein wirkliches und großes Ereignis, und das ist nicht immer so, wenn jemand stirbt.

„Wir wollen unserem älteren Bruder ein Grab graben“, sagte der Bär und ließ die hölzerne Kugel vorsichtig ins Gras glei­ten, wie man ein Heiligtum hinlegt.
Dann gruben die Bärin und ihr Sohn ein Grab für Bruder Im­manuel und sein Eichhörnchen in der Hütte. Sie legten beide sorgsam hinein, schütteten Erde darüber und bedeckten sie mit Blumen. 

Noch eine kleine Weile standen die Tiere vor dem Grabe ihres älteren Bruders. Dann wandten sie sich traurig, um in den Wald zurückzugehen, jeder allein zu seiner Behausung. Und es war eine große Verlassenheit in ihnen allen. Wie sie sich aber umwandten, sahen sie, daß Bruder Imma­nuel mitten unter ihnen stand, mit dem Eichhörnchen auf dem Arm.

„Es ist nicht so, daß ich von euch gegangen bin, liebe Brüder“, sagte er, „es ist nur so, daß ich meine irdene Schale abgelegt habe, und ich stehe vor euch in meiner kristallenen Schale. Es ist dies das große Geheimnis des Daseins, das Tod und Leben umfaßt, so wie es die Eule euch erzählt hat, denn sie hat es ge­sehen. Es ist ein großes Geheimnis, aber es ist sehr einfach. Ich muß nun auf dem anderen Ufer die Wege der älteren Brüder bereiten helfen, aber ich gehe nicht fort von euch, denn ich will jeden Tag zu euch kommen und nach euch sehen, und es wird niemand von euch allein sein. Es sind immer ältere Brüder um die jüngeren; denn es ist dies der Weg der Erlösung in Sühne, Sehnsucht und Liebe.“

Da begriffen die Tiere die große Gemeinsamkeit, die alle Ge­schöpfe Gottes vereinigt, und sie waren sehr dankbar, daß sie das gesehen hatten. Sie verstanden auch, daß niemand allein bleibt, der eines guten Willens ist, und daß auch das kleinste Geschöpf einen Begleiter hat auf seiner unscheinbaren Wan­derung. Da wich die große Verlassenheit von ihnen, und sie gingen nach Hause.

Um Bruder Immanuels Hütte rankten sich wilde Rosen und hüllten sie ein in einen Mantel von Blüten. So blieb sie der Tempel eines Stückes der Erde, das entsühnt war. Franziskus von Assisi aber führte einen Menschenbruder und einen Tier­bruder über die Brücke zum anderen Ufer.

Diese Geschichte hat sich schon viele Male begeben vor vielen tausend und vielen hundert Jahren, sie geschah gestern, und sie geschieht heute, und sie wird noch viele Male geschehen müssen, bis das Kainszeichen der Menschheit getilgt ist und eich die Kette der Dinge entwirrt. Viele wanderten den Weg des älteren Bruders für seine jüngeren Brüder, viele wandern ihn heute, und es werden ihn noch sehr viele wandern. Es ist ein Weg voll Dornen in Sühne, Sehnsucht und Liebe, und über ihm steht der Stern von Bethlehem. Aber erst wenn alle ihn wandern, wird die Erde entsühnt sein, und ihre beiden Ufer werden sich vereinigen zum Lande der Verheißung.