Startseite  >  Geschichten und Bilder  >  Mutter

Mutter

von Manfred Kyber, aus: Das Manfred Kyber Buch. Rowohlt, 1979. Siehe auch www.manfredkyber.de.


In einem Heukorb oben auf der Dachkammer lag eine Katzenmutter mit zwei Katzenkindern. Die Kinder waren erst vor wenigen Tagen zur Welt gekommen, und sie waren noch sehr hilflos – kleine Pfoten hatten sie, die immer ausrutschten und unverhältnismäßig große Köpfe mit blinden Augen, die sich suchend im Magenfell der Mutter vergruben. Sehr sonderbar sahen sie aus. Aber die Katze fand sie über die Maßen schön, denn es waren ja ihre Kinder – das eine grau und schwarz getigert, wie sie selbst, eine Schönheit also, wie man wohl ohne falsche Bescheidenheit sagen durfte – das andere ganz der Vater, der bunt war, mit eleganten weißen Hosen und weißen Handschuhen und einem Tupf auf der Nase, und der so gefühlvoll sang. Wie hatten sie beide so herrlich zusammen gesungen an den ersten Märzabenden im Garten, zwei­stimmig, viele hübsche Lieder...

Sehr begreiflich, daß diese Kinder mit den kleinen rutschenden Pfoten und den großen Köpfen so prachtvolle Geschöpfe geworden waren, nicht nur Katzen, was an sich schon der Gipfelpunkt ist, wie jeder weiß, nein, Katzenkinder, wie sie die Erde noch nicht gesehen! Stolz reckte sich die Katzenmutter in die Höhe und betrachtete liebevoll schnurrend die kleinen Wunder ihrer Welt.

Hier diese angenehme Bodenkammer schien übrigens in jeder Hinsicht der richtige Ort zu sein, still und ungestört. Ein wei­cher heugefüllter Korb, warm und überaus geeignet für die ersten Kletterversuche, viel Gerümpel ringsherum, voller Span­nungen und Entdeckungsmöglichkeiten, freundlich vom Mai­mond beleuchtet, der durch die Fenster lugte, weite Flächen zum Spielen, und dann – welch ein berühmtes Mausrevier, welch ein weites Gebiet zur sachgemäßen Ausbildung der be­ruflichen Fähigkeiten!

„Ich sollte doch selbst mal ein wenig nach Mäusen sehen“, sagte die Katze, „die Kleinen schlafen, und eine Ablenkung würde mir guttun, Kinderpflege ist angreifend, und mir ist auch so, als hätte ich einen beachtenswerten Appetit.“

Die Katze erhob sich vom Heulager, beleckte schnell noch ein­mal ihre Kinder und strich dann auf leisen Sohlen, schnup­pernd, an Kisten und Körben entlang. Es hatte doch, auch wenn man allmählich etwas in die Jahre gekommen war, immer noch etwas angenehm Aufregendes, so nach Mäusen zu schnüffeln. Und jetzt - raschelte da nicht jemand? Roch es nicht so erbaulich nach Mäusen? War das nicht der feine Duft, unverkennbar für eine kätzliche Nase? Noch einige vorsichtige Schritte, auf Samtpantoffeln - niemand machte ihr das nach -, und dann stand sie vor einem Mäusenest, in dem zwei kleine nackte Junge lagen.

Bloß Junge? dachte die Katze, da wären die Samtpantoffeln überflüssig gewesen, die können weder laufen noch sehen. Es lohnt überhaupt kaum, zwei kleine Bissen, weiter nichts. Aber man kann ja immerhin, zur Stärkung sozusagen...

Sie wollte zupacken. Aber etwas in ihr redete.

„Sie können weder laufen noch sehen, ganz wie deine Kinder. Sie sind völlig hilflos, und die Mutter wird wohl tot sein. Sie sind so hilflos wie deine Kinder, wenn du nicht da bist. Es ist wahr, daß es Mäuse sind, aber es sind kleine Mäuse, sehr kleine, es sind Kinder – nicht wahr, du weißt es, was Kinder sind?“

Es war die Mutterliebe, die redete, und in ihr redete die Al­liebe, ihr künftiger Geist. Er kann nur reden in einer Mutter­liebe, die sehr groß ist, so groß wie die Mutterliebe einer Katze, denn sie ist eine der größten.
„Nicht wahr, du weißt es, was Kinder sind?“ fragte die Stimme.

Die Katze beugte sich herab, faßte die eine kleine Maus vor­sichtig mit den Zähnen und trug sie in ihren Heukorb. Dann ging sie zurück und holte das andere Junge. Sie nahm beide an die Brust und säugte sie, mit ihren zwei Katzenkindern zu­sammen.

Die kleinen Mäuse waren schon halb erstarrt, aber sie er­wärmten sich sehr bald im Magenfell der Katze. Sie waren halb verhungert, aber sie sättigten sich bald an der Brust der Katze. Sie fühlten sich völlig geborgen bei einer Mutter und ahnten es nicht, daß diese Mutter eine Katzenmutter war. Wie sollten sie das wissen? Sie waren blind und hilflos. Über ihnen lag schützend die krallenlose, weiche, samtene Katzenpfote.

Die Katzenkinder wuchsen, und die Mäusekinder wuchsen, beide öffneten die Augen, und das erste, was beide sahen, war die gleiche Mutter und die gleiche große Mutterliebe. Sie waren Kinder, und sie spielten miteinander, und die Mai­sonne sah zum Fenster herein und spielte mit. Und sie wob einen goldenen Schein um den Kopf der Katzenmutter.

Es ist dies eine wahre Geschichte. Sie ist nur klein, und doch ist sie sehr groß. Es ward eine neue Welt in ihr geboren von einem kleinen Geschöpf und in einer ärmlichen Dachkammer. Es wird auch nicht immer so sein, noch lange nicht; aber es ist ein großes Ereignis, daß dies geschehen ist. Die Gesetze der alten Welt sind stark und schwer, aber sie werden überwun­den, Stufe um Stufe, denn die Alliebe ist eine lebendige Kraft in der Seele dieser Erde. Langsam, sehr langsam wird die neue Welt aus der alten geboren, und das geschah schon oft in einer ärmlichen Dachkammer, und die Menschen wußten nichts davon. Die Menschen wissen so wenig, und am wenigsten wissen die, welche am meisten zu wissen meinen. Sie wissen auch nicht, ob Tiere beten. Aber ich glaube, daß auch Tiere in ihrer Not eine Macht anrufen, die über ihnen ist – und wenn die Katze bitten würde, die Mutter Gottes würde sie vor allen anderen erhören. Die Maisonne wußte, was die Menschen nicht wissen. Denn sie wob einen goldenen Schein um den Kopf der Katzenmutter.