12.01.2009

Eggerts Vorwurf und die Wahrheitsfrage

Reaktion auf Michael Eggert, der in seinem Blog „Egoisten“ auf meine Aufsätze hinweist und mir einen „pessimistischen, engen Blick“ und die Präsentation „allein selig machender Lösungen“ vorwirft.


Michael Eggert schrieb in seinem Blog “Egoisten” unter dem Titel „Fragmentarisierung“ über mich Folgendes:

[...] Auf Mieke Mosmullers kritisches Buch zu Judith von Halle habe ich allerdings schon hingewiesen. In dasselbe Horn bläst Holger Niederhausen auf seiner Website – nicht nur in diesem Aufsatz. Er beschäftigt sich auch mit der „Christusleere“ Sebastian Gronbachs, macht aber in einem Aufwasch auch die gesamte gegenwärtige Anthroposophie herunter: „Die Anthroposophie ist tot. Sie starb, weil niemand das reine Denken entwickelte, zu dessen Entwicklung Rudolf Steiner im Grunde immer wieder aufgerufen hatte. Wenn aber die Anthroposophie tot ist, kann sie auch die menschliche Kultur nicht mehr befruchten.“ Niederhausen lässt in seinem pessimistischen, engen Blick offenbar nur die Bücher Mieke Mosmullers gelten: „Man muss es so drastisch beschreiben, wie Mieke Mosmuller es in Ihrem erschütternden Buch „Der lebendige Rudolf Steiner“ tut. Die Anthroposophie liegt als Leichnam am Boden. Sie starb mit Rudolf Steiner – und wurde wie eine Mumie so gepflegt, dass nachfolgende Generationen von „Anthroposophen“ sie mit ihrem eigentlichen Wesen verwechselten – so wie man ihr Wesen schon zu Steiners Zeiten nicht erkannt hatte, sondern immer wieder ein zu äußerliches Verständnis hatte: von der Philosophie der Freiheit, von der sozialen Dreigliederung, von allem...“ [siehe "Die tote Anthroposophie..."]

Diese Beispiele ließen sich nahezu endlos fortsetzen. Auf staatlicher Ebene würde man von „separatistischen Bewegungen“ mit Alleinvertretungsanspruch sprechen, der mehr oder weniger drastisch vorgebracht wird. Fast alle Separatisten beklagen das Ende der Anthroposophischen Bewegung – ob die von Halle-Ecke, ob Niederhausen oder Gronbach – und präsentieren die allein selig machenden Lösungen. Man hat den Eindruck, dass die Fragmentarisierung der Bewegung voran schreitet, mit zunehmend schrilleren Tönen.

Wie angenehm ist es dagegen, die Statements von Wolfgang Held in einer ganz anderen Gelegenheit wahrzunehmen. In Themen der Zeit äußert er, der Gedanke, „dass die Anthroposophische Gesellschaft einen Alleinvertretungsanspruch auf Anthroposophie habe und haben wolle, ist sicherlich ein Irrtum. Einzelne Mitglieder mögen so fühlen, aber es liegt nicht in der Natur der Anthroposophischen Gesellschaft.“ Es existiere auch keine „Deutungshoheit“. Dieser Verzicht allerdings führt, wie wir an den oberen Beispielen sehen, zu immer mehr separatistischen Nischen, die eben diese Deutungshoheit mit der ihnen eigenen Autorität besetzen wollen und zu diesem Zweck ihre Anhängerschaft um sich scharen. In diesem Kontext erscheint es als einigermaßen optimistisch, wenn Held behauptet, die „Geisteswissenschaft“ sei „mittlerweile erwachsen geworden“. Held fordert ein „souveränes und freies Verhältnis“ zu Rudolf Steiner, aus einer „engagiert-erkennenden und lebensvollen Begegnung“ mit Anthroposophie heraus und inmitten einer interessierten und kritischen Öffentlichkeit. Als Voraussetzungen für eine solche Haltung sieht Held „die Weltlichkeit, das heißt die Befähigung für die Welt, die Bewährung in der Welt, und das weite Herz für die anthroposophische Gemeinschaft, die Treue zu Rudolf Steiner.“

Die Ursache des Verfalls

Dazu ist zunächst zu sagen: Es kommt in der Anthroposophie auf die Wahrheit, auf die geistige Wirklichkeit an. Jeder kann seinen eigenen Blick auf die gegenwärtige Lage der Anthroposophie haben – entscheidend ist die Wirklichkeit. Ob Pessimismus berechtigt ist oder nicht, entscheidet sich nicht nach persönlichen Sympathien oder Antipathien.

In den zitierten Worten von Wolfgang Held empfinde ich viele Worthülsen und Unwahrheiten. Was heißt, die „Geisteswissenschaft [sei] mittlerweile erwachsen geworden“? Meint er den Umgang der Anthroposophen mit ihr? Da hätten wir also schon wieder ein Urteil: Die Anthroposophie würde auch nur annähernd in dem Maße verwirklicht, wie Rudolf Steiner es erhofft hatte... Und hätte sich offenbar erfolgreich von ihrem Begründer emanzipiert...?

Was ist ein „souveränes und freies Verhältnis“ zu Rudolf Steiner? Dass es in der Anthroposophie nicht um Dogmatik und theosophische Schwelgerei gehen darf, dürfte längst klar sein. Darüber hinaus aber steckt in diesen Worten nur Hochmut und Unverständnis. Frei sein kann man nur in der ehrfürchtigen Anerkennung dessen, was in der Anthroposophie vor einem steht – und in dem tief ernsten Streben, sich diesem Mysterium immer mehr zu nähern (oder aber darin, das Wesen der Anthroposophie zu verfehlen). Angesichts dessen sind die weiteren Worte einer „engagiert-erkennenden und lebensvollen Begegnung“ offenbar der Versuch, „souveräne Freiheit“ und „Verantwortlichkeit“ unter einen Hut zu bringen – was von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.

„Das weite Herz für die anthroposophische Gemeinschaft, die Treue zu Rudolf Steiner“ – das sind schöne, schwerwiegende Worte. Was aber, wenn darin auch schon wieder eine Unwahrheit enthalten ist? Ist denn die „anthroposophische Gemeinschaft“ bereits zum Selbstzweck geworden? Die anthroposophische Gemeinschaftsbildung kann nur aus dem wahrhaftigen und ehrfürchtigen Streben nach einer lebendigen Anthroposophie hervorgehen, niemals umgekehrt. Das ständige Beharren auf der „Gemeinschaft“, die gar nicht lebendig ist, ist reine Dogmatik, die den Verfall verschleiern soll. Die Ursache des Verfalls liegt aber nicht bei denen, die ihn offenbaren, weil sie den Schein nicht mit aufrechterhalten...

Die Ursache des Verfalls liegt darin, dass man äußere Formen pflegt, statt die innere geistige Entwicklung. Die Symptome zeigen sich dann in unzähligen Varianten – sei es in der völligen Uneinigkeit über die im Grunde tief wesentliche Konstitutionsdebatte, in der sich dann ein Vorstand sogar mit äußeren Rechtsmitteln durchsetzt; sei es darin, dass eine Judith von Halle ihre Bücher im Verlag am Goetheanum veröffentlichen darf, obwohl sie der Geisteswissenschaft geradezu entgegengesetzt sind und zahllose Unwahrheiten enthalten; sei es darin, dass das „Goetheanum“ immer abstrakter, oberflächlicher und „journalistischer“ wird und andere Beiträge als „zu scharf“ usw. ablehnt; sei es darin, dass das „Goetheanum“ andererseits über die „infoseiten anthroposophie“ enge Verbindungen zur „info3“ pflegt – und damit zu einem Kreis, der die völlige Pervertierung der Anthroposophie im Sinne hat (durch Amalgamierung mit dem New-Age-Führer eines „neuen Bewusstseins“, Ken Wilber, durch die ALL-EINS-Mission eines Gronbach...); durch ganz reale Strukturen, die von Macht, Dogmatik und Unwahrhaftigkeit geprägt sind...

Man muss all diese und viele andere Symptome nur einmal tief erleben – und wird sofort erkennen, dass auch „das weite Herz für die anthroposophische Gemeinschaft“ eine reine Unwahrhaftigkeit ist, denn diese Gemeinschaft existiert nicht, und wo sie existiert, ist sie selbst unwahrhaftig. Die Treue zu Rudolf Steiner kann nur darin bestehen, auf all diese Symptome wahrhaftig hinzuweisen – und im übrigen das eigene innere, ehrfürchtige Streben immer mehr zu vertiefen.

Eggerts eigene Unwahrhaftigkeit

Zu Michael Eggert und seinem Aufsatz ist dann zu sagen, dass er leider auch selbst unwahrhaftig ist. Mir persönlich schrieb er: „In das Funktionärswesen möchte ich nicht hinein, auch wenn man dort durchaus respektable Personen trifft. "Fortgeschrittene Praktizierende" habe ich dort seit langer Zeit nicht getroffen, sondern wenn, dann stets am Rand der Gesellschaft.“ – Ist dies etwa nicht genau eines der schlimmen Symptome? Und über die Zweigabende schreibt er: „Es gibt sehr viele Ebenen der Aufnahme, aber wenn ich ehrlich sein soll, wurde der Impuls als solcher nicht direkt bemerkt.“ – Doch zu dem Urteil, dass Anthroposophie dann eben nicht da ist, kann er sich nicht durchringen!

Eggert pflegt mit verschiedensten Menschen – so auch mit Gronbach von info3 – den Dialog, es geht ihm offenbar um die „anthroposophische Gemeinschaft“, und er betont, dass die Menschen „auch andere Seiten“ haben. Ich habe ihm in unserem E-Mail-Wechsel folgendes geantwortet:

Ich suche auch verschiedentlich den Dialog, mehrere Seiten meiner Homepage zeugen ja auch davon. Dies kann dazu führen, dass man den gemeinsamen Nenner und die gegenseitigen Differenzen genauer klären kann. Das ist ja nun einmal die größtmögliche Annäherung, die zunächst stattfinden kann: Zu erkennen, wo der andere steht und bis wohin die Gemeinsamkeiten reichen. Das hat Rudolf Steiner ja auch immer getan – und immer gemerkt, dass es irgendwo einsam wird.

Dass es auch heute wieder die Situation der Gruppierungen gibt, zeigt, dass die Anthroposophie nicht vorhanden ist. Denn Anthroposophie kann nicht der „kleinste gemeinsame Nenner“ sein. Entweder sie lebt oder nicht. Dass Sie es nicht tut, bestätigen Sie doch aus Ihrer eigenen Erfahrung, die „fortgeschrittene Praktizierende“ (abgesehen vom Rand) in der Gesellschaft nicht findet. Da die führenden Menschen dieser Gesellschaft aber genau diesen Anspruch haben, ist es unmöglich, mit einer anderen Erkenntnis und einem entsprechenden Impuls durchzudringen. Das mag auf Zweigebene anders sein.

Natürlich gibt es karmische Gruppierungen, aber die Aufgabe wäre eben, sich im Erkennen der Wahrheit zu finden. Nun gibt es aber heute selbst ohne die zusätzlichen Verstrickungen des Karma zahllose Meinungen darüber, was die Wahrheit sei. Wo man aber über die Wahrheit streitet, fehlt wiederum die Anthroposophie. Wenn Sie mit Gronbach u.a. den Dialog suchen und ihn in anderer Hinsicht schätzen, zeigt das, dass sie gar keine schwierigen karmischen Verstrickungen mit ihm haben. Es geht wirklich nur um die Wahrheitsfrage.

In Bezug auf „fortgeschrittene Personen“ muss man wieder unterscheiden, um welche Fortschritte es geht. Hellsichtigkeit und intuitive Fähigkeiten können auf verschiedenen Wegen erlangt werden. Insbesondere kann man gleichzeitig eine moralische Schulung machen oder auch nicht. Rudolf Steiner hat die Notwendigkeit eindrücklich betont, aber wer tut das? Andererseits machen sicher viele Menschen die Übungen für die Hellsichtigkeit, die er gegeben hat – ohne sich eben um das zu kümmern, was er zur moralischen Schulung gesagt hat. Und dann treten natürlich nicht nur die „spezifischen Beschränkungen“ zutage, sondern sie nehmen noch zu – nicht nur mit dem Alter, sondern auch mit der Schulung selbst, denn die moralische Schulung kann man nicht ohne Folgen vernachlässigen... [...]

Dialog? Manchmal einseitig – und sinnlos

Sie sagen nun: Verurteilen bringt nichts. Aber was heißt denn verurteilen? Verurteile ich? Ich konstatiere, was es meinem Erleben nach zu konstatieren gibt. Den Dialog suche ich im Falle von Gronbach allerdings wirklich nicht (mehr). Er wird es mit Sicherheit auch nicht tun. Warum auch, sieht er sich doch als erleuchtet an und sieht mitleidig auf jene herab, die die Wahrheit noch nicht sehen. Es mag sein, dass Sie im persönlichen Dialog mit ihm manches noch besser verstanden haben, doch aus den bis heute 74 Kommentaren auf die „Schmollecke“ in Ihrem Blog konnte ich beim besten Willen keine Frucht dieses „Dialoges“ erkennen. Nachdem ich alle 74 Kommentare gelesen hatte, war mir nur einmal mehr klar, warum ich diesen „Dialog“ nicht suche. Übrigens hatte ich nach dem Hau-Artikel „Rudolf Steiner integral“ und nach meiner scharfen Erwiderung persönlich den Dialog mit Hau und Heisterkamp gesucht – und bekam zunächst nur abfällige Antworten, von Hau dann sehr bald überhaupt keine Antwort mehr, von Heisterkamp schließlich nur noch die Nachricht, dass er nicht gänzlich zum Hau-Interpreten werden wolle und er Hau nochmal bitten werde zu antworten – was dieser dennoch nicht tat... Ich suchte dann sogar den Dialog mit jenen, die mit Hau und Co im Dialog waren, nämlich Stockmar und Meier – und sie bestätigten im wesentlichen, dass auch sie den (in Info3 veröffentlichten) Dialog nicht wirklich als fruchtbar erlebt hatten.

Offenbar haben Sie noch die Hoffnung, dass Sie Gronbach von der Wahrheit überzeugen können, dass seine integrale Erleuchtung mit Anthroposophie nichts zu tun hat. Diese Hoffnung ehrt sie, aber leider kann ich nicht sehen, worin sie gründet. Bis vor kurzem hätte ich einen solchen „Idealismus“ auch gehabt. Jetzt sehe ich, dass Gronbach keinerlei Bereitschaft mehr haben kann, anderes als seine Erleuchtung wirklich zu denken. Wenn es dennoch so wäre, so stünde dieses andere ja in Hülle und Fülle zum Studium bereit – und Sie servieren es ihm sogar immer wieder auf dem Tablett, aber er will es nicht. Wenn er sagt, er sei erst durch Wilber wieder zum wahren Steiner-Schüler geworden, so ist doch klar, dass er diese Überzeugung niemals aufgeben kann?

Insofern sehe ich den „Austausch“ in Ihrem Blog zwar auch als „Kampf“, jedoch als einen sinnlosen Kampf mit Windmühlenflügeln. Ich sehe meine Aufgabe in Aufsätzen, wie ich sie veröffentlicht habe – und wer wirklich den Dialog sucht, kann darauf eingehen. Meine Aufsätze sind schließlich auch immer ein Eingehen auf etwas. Wenn sie scharf sind, ist diese Schärfe meiner Überzeugung nach notwendig. Wer im Dialog die Schärfe nicht ertragen kann, dem geht es eben um etwas anderes als die Wahrheit – ich denke dabei jetzt unter anderem an die „Goetheanum“-Redaktion.

Mit anderen Worten: Es gibt Situationen, wo der Dialog nur fortwährend die Gegenseite stärkt, weil diese sich ohnehin nicht ändern möchte. Wenn man dann selbst ebenfalls überzeugt ist, die Wahrheit zu vertreten, zeigt dies schlichtweg die Unvereinbarkeit der Standpunkte. Ein Dialog ist dann nur noch sinnvoll, um dies letztlich ganz klar zu konstatieren. Sinnlos ist es, sich im „Dialog“ immer weiter zu bekämpfen, wie ich es in diesen aktuellen Blog-Kommentaren erlebe. Das Schlimmste ist, dass man durch die eigenen polemischen Äußerungen selbst auch in eine Sphäre hinabgezogen wird, wo die Anthroposophie nicht zu finden ist. Mit den besten Absichten, die Gegenseite „bekehren“ zu wollen, tritt man an – und man landet bei gegenseitiger Polemik. Die Wahrheit ist nur in reinen Sphären zu finden, man selbst liegt jedoch schon wieder einmal im Schmutz, streitend mit dem Gegner, immer noch in dem Glauben, man diene dem Guten...

Es ist etwas ganz anderes, die Wahrheit in scharfer Form darzustellen, auch scharf auf Irrtümer eines Gegner einzugehen, wenn dies in einem abgeschlossenen Aufsatz geschieht, der einer möglichst reinen Darstellung der Wahrheit dienen soll – als sich auf einen sinnlosen Schlagabtausch einzulassen. Wozu? Wird auch nur der Bruchteil eines wirklichen Dialoges erreicht? Dann mag es doch wieder sinnvoll sein. Wichtiger aber ist die Darstellung der reinen Wahrheit selbst, sei es in der notwendigen Schärfe, aber ohne Polemik, ohne den Ton der Debatte, ohne den Übereifer, der im direkten „Dialog“ mit dem Gegner immer droht. Rudolf Steiner selbst hat ja auch nicht immer wieder mit seinen Gegnern gekämpft, sondern er hat einfach unbeirrt die Wahrheit, die Anthroposophie entfaltet...

Man muss seine eigene wichtigste Mission nicht darin sehen, andere im persönlichen Dialog von ihren Irrtümern zu erlösen, sondern energisch selbst in der Wahrheit fortzuschreiten. Nur dann wird man der Wahrheit immer besser dienen können. Auch hier ist die Diskussion mit Gegnern, die von ihrer „Wahrheit“ partout überzeugt sind, ein immenses Hindernis, sie lenkt eigentlich immer vom Wesentlichen ab.

Mieke Mosmuller und die Wahrheit

Ich wäre wirklich gespannt, was Sie über „Der lebendige Rudolf Steiner“ empfinden, wenn Sie es einmal gelesen haben werden. Ihre Furcht kann ich eigentlich nur insofern verstehen, als dass Sie Furcht haben, in Bezug auf Mieke Mosmuller nun eine „Enttäuschung“ zu erleben. Aber auch hier gilt doch, dass der Anthroposoph immer Mut und Liebe zur Wahrheit haben sollte. Wenn Sie Mieke Mosmuller bzw. dieses Buch als „Enttäuschung“ erleben sollten, dann wäre dies für Sie eben die Wirklichkeit, warum haben Sie davor eine Furcht? Was sie bisher an ihr, ihren früheren Büchern, wahrhaft schätzten, dürfte davon nicht berührt werden – und jedem weiteren Aspekt sollte man doch ebenso mutig in die Augen blicken?

Die Frage des lebendigen Denkens ist wirklich nicht so einfach. Welchen Begriff haben Sie denn vom lebendigen Denken, dass Sie so selbstverständlich erkennen (können), dass Mieke Mosmuller darin lebt? Mein Begriff vom lebendigen Denken, was Sie schildert, ist ein anderer, ich gewinne ihn vor allem aus ihrem Buch „Der Heilige Gral“. Was sie dort als Begriff des reinen Denkens – und dessen, was sich jenseits dessen, auf dessen Grundlage, entwickelt – entfaltet, das zeigt mir eindeutig, dass dieses reine Denken überhaupt nur ausgebildet werden kann, wenn die „unteren seelischen Konfigurationen“ ganz bewusst erkannt, verwandelt, gereinigt und im Gleichgewicht gehalten werden. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Das reine Denken reinigt auch das Fühlen und Wollen und wird selbst erst auf diesem Wege möglich. Es ist eine Wechselwirkung. Auf jeden Fall aber verlieren mit der Entwicklung des wahren lebendigen Denkens (nicht der Hellsichtigkeit, des imaginativen Erlebens etc.!) die „unteren seelischen Konfigurationen“ ihre Macht, es kann nicht anders sein. Und auf eben dieser Grundlage kann schließlich auch der Christus im reinen Denken gefunden werden – dies wäre gar nicht möglich, wenn das Fühlen und Wollen nicht ebenfalls durch und durch verwandelt würden. Gerade deshalb hat Rudolf Steiner diesen Weg, der zunächst nicht zur Hellsichtigkeit, sondern zum reinen Denken führt, als den ungleich sichereren betont!

Was nun die „Exklusivität“ angeht, darf man keinesfalls Ursache und Wirkung verwechseln. Nicht Mieke Mosmuller manövriert sich in etwas hinein, sondern es ist immer die Umgebung, die eine Wahrheit entweder aufnimmt oder nicht aufnimmt. Ob zum Beispiel ihr Buch „Der Heilige Gral“ oder ihre Auseinandersetzung mit Judith von Halle als Wahrheit erkannt oder nur als „Standpunkt“ „akzeptiert“ oder auch ganz totgeschwiegen wird, hängt nicht von ihr ab, nicht wahr? Sie ist mit Sicherheit zu jedem sinnvollen Dialog bereit, wird aber, was die Wahrheit selbst angeht, keine Kompromisse machen. Wenn es um die Wahrheit geht, kann der Dialog kein Selbstzweck sein. Die Wahrheit ist sehr wohl ein „Selbstzweck“ – man soll sich in der Wahrheit finden, nicht im Streit um die Wahrheit. Wenn Mieke Mosmuller also die Wahrheit in diesem oder jenem Aspekt entfaltet, dann ist das eine Tatsache. Die Frage, wie es um die Dialogfähigkeit steht, ist davon völlig unabhängig – sie ist davon abhängig, wie die Wahrheit aufgenommen wird.

Und was ist Exklusivität? Mieke Mosmuller beansprucht keine Exklusivität. Aber wenn es um Wahrheitsfragen geht, ist die Frage eben, wer eine Wahrheit anerkennt und wer nicht. Wenn niemand die Wahrheit anerkennt, befindet man sich eben in einer einsamen Exklusivität. Das hat aber nichts damit zu tun, dass man sich selbst da hinein manövriert, sondern dass es anderen offenbar außerhalb von der Wahrheit „gut geht“ und sie lieber in ihrer eigenen Vorstellung von der Wahrheit verharren.

Sie meinen wahrscheinlich, Sie fürchten, dass Mieke Mosmuller die Wahrheit zu einseitig darstellt, so dass sie zwar „ihre“ Wahrheit hat, aber die ebenfalls einseitige Wahrheit anderer nicht anerkennen kann? Das wäre dann wieder eine Wahrheitsfrage... Ist das, was Mieke Mosmuller darstellt, einseitig oder nicht? Das ist die eigentliche Erkenntnisfrage, zu der man sich ebenso zu stellen hat wie zu Gronbach oder anderem...

Für mich ist der zunehmende „Clubcharakter“ in der „anthroposophischen“ Bewegung ein Beweis dafür, dass die Wahrheit dort jedenfalls nicht zu finden ist. Die Wahrheit ist nicht lebendig, die „Gesellschaft“ erweist sich als Illusion, sie dissoziiert, wie ein Leichnam sich in seine physischen Bestandteile auflöst... Aber selbst eine mühevoll gefundene „Verständigung“ verschiedenster Gruppierungen würde noch nichts darüber aussagen, ob man nun der Wahrheit näher gekommen ist. Selbst eine „Konsensgesellschaft“ ist nun einmal keinerlei Garantie für Wahrheit. Die Wahrheit beweist sich nur selbst. Und insofern muss ich sagen, dass ich eben diese in den Gedanken Mieke Mosmullers unmittelbar empfinden kann. Wenn sie aufgrund dieser Gedanken in eine Exklusivität geraten würde, würde das nur den wahren Zustand der anthroposophischen Bewegung offenbaren... [...]

Sie schreiben, Sie empfinden im Zweig eine enorme geistige Nähe – und andererseits, dass der Impuls als solcher gar nicht bemerkt wird. Meinen Sie damit den Impuls der Anthroposophie? Aber wie kann Anthroposophie vorhanden sein, wenn sie gar nicht bemerkt wird? Wie kann sie überhaupt vorhanden sein, wenn sie nicht verwirklicht wird? Solange man sie nicht verwirklicht, kann man sie nicht bemerken, weil sie gar nicht da ist, sie ist ja nichts Äußerliches, was einen umschwebt und was man nur bemerken bräuchte... [...]

Von Strenge und reinem Denken

Wenn Sie sagen, ich wirke pessimistisch und etwas streng, dann frage ich nochmal: Worum geht es eigentlich? Um den Dialog als Selbstzweck? Und geht Gronbach wirklich ein Haarbreit von seiner anti-anthroposophischen Inspiration ab, wenn man ihm dies vorhält? Und auch: Hätte sich Rudolf Steiner mit Gronbach abgegeben, wo es wirklich um die Wahrheitsfragen, um eine Erkenntnis der Anthroposophie geht? Rudolf Steiner hat sogar die „eigenen Anthroposophen“ immer wieder scharf kritisiert. Können Sie diesen Kampf Steiners nacherleben? Und wie empfinden Sie diesen dann? Auch zu scharf? Sie haben selbst gesagt, es geht um „Diagnostik“. Was hat es für einen Sinn, wenn man seine wichtigsten Erkenntnisse nachher nicht berücksichtigt, sondern den Dialog pflegt, als bestünde in der Hauptsache nicht eine unüberwindliche Diskrepanz?

Ich habe genug Bekanntschaften, wo es überhaupt nicht um Anthroposophie geht. Hier spielt dann das Privatleben mit seinen ganz anderen Gesetzen. Wo sich aber Anthroposophen begegnen, sollte man sich in der Hauptsache einig sein. Das muss man von Anthroposophen einfach erwarten. Ich kann und will z.B. mit Gronbach und anderen auch keine rein menschliche Beziehung pflegen und auf irgendwelche „anderen Seiten“ schauen, wenn ich weiß, dass sie in der Hauptsache die Anthroposophie völlig pervertieren.

Das reine Denken ist etwas, was viel zu sehr missverstanden wird. Jeder hat eine Vorstellung vom reinen Denken... Was Rudolf Steiner mit reinem Denken meinte, ist mit Sicherheit der völlige Gegensatz zu dem, was Zen-Buddhisten praktizieren. Hier wird das Denken völlig losgelassen, dort muss zunächst das Denken und dann das immer reinere Denken überhaupt erst einmal entwickelt, gestärkt, vertieft, gereinigt werden... Eine Erfahrung kann es nur werden, wenn es geübt und getan wird, in der allergrößten denkbaren Aktivität. Wenn man dieses übt, dann geht von dieser „Heiligung“ des Denkens eine Kraft aus, mit der man immer wieder das richtige Gleichgewicht finden wird, in allem.

Dieses reine Denken, von dem ich jetzt spreche, führt einen überhaupt nicht von Anfang an. Sie sprechen von etwas anderem. Natürlich lebt in einem der innere Impuls nach wahrhafter Entwicklung, und man ahnt den Weg, die Richtung. Das reine Denken ist aber keine leise Ahnung, kein Gefühl oder sonst etwas, sondern es ist ein ganz klares, kräftiges Denken, das immer mehr zu einer Realität wird, wenn es geübt wird. Wenn dieses Denken wächst, dann wird ganz real „die Luft nicht dünner“, sondern kräftiger – der innere Kompass geht dann nicht mehr verloren, sondern er wird immer stärker.

In Bezug auf Mieke Mosmuller habe ich nicht gesagt, sie sei sakrosankt, sondern ich habe die Frage aufgeworfen, wie man sich zu dem stellt, was sie als Wahrheit entfaltet. Wenn man von vornherein meint, es sei nicht die Wahrheit, sondern sie sei im Ganzen viel zu einseitig usw., dann stellt man sich natürlich von Anfang an über sie, nicht wahr? Dann „weiß“ man von vornherein (bzw. direkt nach dem Lesen), dass sie nicht Recht hat... Und man selbst ist natürlich immer sakrosankt, nicht wahr? Worauf ich hinauswill, ist: Man hat zu allem seine Urteile, aber es fängt schon damit an, dass man nicht im geringsten versteht, was sie als reines Denken in seiner vollen Realität beschreibt. Aus dieser kräftigen, klaren und übersinnlichen Erfahrung heraus schreibt sie ihre Bücher – und man selbst hat, ohne dass man dieses Denken auch nur im Ansatz verwirklicht hätte, über alles sein eigenes Urteil...

Illusion oder Demut...

Natürlich stößt die damit einhergehende Strenge ab... Man will es sich lieber in der Illusion bequem machen, dass die Realität doch wunderbar ist. Im Dialog erlebt man sich doch irgendwo einig, innerhalb der gemeinsamen Sache... Man kann sich immer herrlich der Empfindung hingeben, dass man ja doch längst auf seine Art die Anthroposophie pflegt... Und auch wenn Rudolf Steiner immer wieder inständig mahnte, z.B. die Weihnachtstagung könnte innerhalb kurzer Zeit wieder verduften, ist man heute wieder der Meinung, dass ja doch trotz vieler Mängel die Weihnachtstagung herrlich wieder auferstanden ist. Wahrscheinlich redet man dann auch schon bald die von Steiner angekündigte Kulmination der Anthroposophie zum Jahrhundertende herbei, nur wenige Jahre verzögert...

Nein, wenn es einem um die Anthroposophie ernst ist, darf man sich keinen Illusionen hingeben. Dann muss man sich vor allem hier klarmachen, was Sie sagten: „Dort, wo man sich am sichersten wähnt, unterliegt man der größten Täuschung.“ Worin wähnt man sich denn am sichersten? Darin, dass man schon Anthroposoph wäre! Das ist die größtmögliche Täuschung, aber diese ist real!

Natürlich ist die Anthroposophie als Leichnam ein düsteres Bild, aber das Urteil, ob hiermit eine Wahrheit bezeichnet ist, kann nicht davon abhängen, ob einem dieses Düstere gefällt oder nicht. Das wäre ein sehr wichtiges Übungsfeld: Einmal immer tiefer zu erleben, was man innerlich nur deshalb ablehnt, weil es einem zutiefst nicht gefällt, weil man es um jeden Preis anders haben möchte...

Wenn Sie sagen, „vielleicht wird Anthroposophie nicht adäquat ergriffen“, möchte ich gleich fragen: Haben Sie nun diesen Eindruck oder nicht? Wenn sie nicht adäquat ergriffen wird, wird sie überhaupt nicht ergriffen. Es gibt in der Anthroposophie keine Halbheiten. Ein Streben wohl, das immer. Aber man muss sich eben klar sein, wonach man strebt. Was nicht adäquat ist, ist und bleibt nicht adäquat. Im Streben kann man sehr wohl immer „richtig liegen“, dann wäre die Adäquatheit voll und ganz gegeben.

Natürlich, die „Anthroposophen“ suchen die Anthroposophie mehr oder weniger, tun das, was sie tun, „aus Liebe zu ihr“. Aber nur zum Teil. Der größere Teil ist doch immer Selbstliebe – die Liebe zu sich und zu der „Tatsache“, dass man ja bereits Anthroposoph sei. Und dann kann man sich irgendwo herrlich einrichten, man kann Anthroposophie untereinander pflegen, Anthroposophie in der Welt vertreten und so weiter. Doch woher kommt dann der Eindruck, dass die Anthroposophie bei alledem „nicht adäquat ergriffen“ wird, dass „der Impuls als solcher nicht bemerkt“ wird? Mit einem solchen Erleben müsste man einmal tief ernst machen – und sich nicht gleich wieder in die Illusion flüchten, dass wir trotz allem „eben unser Bestes tun“ ... denn genau diese Illusion liegt doch vor?

Man tut immer zu wenig und glaubt bei alledem zugleich immer, man wäre schon mitten in der Anthroposophie, in ihrer Pflege, in ihrer Entwicklung. Dieser Widerspruch ist die eigentliche Unwahrhaftigkeit. Man empfindet dunkel die Großartigkeit der Anthroposophie, ihre grandiose Bedeutung... Wenn dies vertieft werden würde, würde das Richtige entstehen können. Dann aber müsste die Ehrfurcht, das Bewusstsein der Unzulänglichkeit, das Streben wachsen, immer mehr wachsen. Was aber stattdessen wächst, ist das Bewusstsein, mit seinem ganzen „Pflegen“, „Vertreten“ usw. schon in der Anthroposophie drinnenzustehen. Nicht die Ehrfurcht und die Demut wachsen, sondern der Hochmut und die Illusion! Anerkennenswert ist das Wahre, das ehrliche, ehrfürchtige, wahrhaftige Bemühen und Streben. Sonst nichts.

Die menschlichen Schwächen führen immer wieder dazu, dass das Wahre und damit auch die Anthroposophie pervertiert wird in das Unwahre, in die Illusion, in die Lüge. Menschliche Schwächen sind nicht anerkennenswert. Man kann Verständnis und Mitleid damit haben, man kann jeden Menschen als Menschen – wie sehr er auch irrt – genauso lieben. Das Unwahre, was daraus entsteht, darf man jedoch nicht lieben. Wo man ganz klar zugibt, wie wenig man die Anthroposophie in sich verwirklicht, wie wenig man eigentlich wirklich strebt, wie sehr man sich in Äußerliches verliert, und wo man durch all diese Erkenntnisse um so demütiger wird, da würde die anthroposophische Vor-Schule wieder wahrhaft beginnen... Da wären Gefühl und Wille auf dem Weg, erste Schritte zur wirklichen Reinheit zu machen, nicht mehr in Illusionen zu schwelgen... Eine solche Wahrhaftigkeit wäre anerkennenswert...