26.12.2023

Das Zentralmysterium der Unschuld

Weihnachtsgedanken.


Inhalt
Weihnachten – das Fest der Selbstbestätigung?
Die entsorgte Quelle
Die heilige Frage nach dem Menschen
Das Wunder
Engelsfügung?
Advent und Dogma
Das Mädchen ... interessiert gar nicht
Die Unschuld – und ihr Gegenteil
Was nur ein Mädchen kann...
Die Stufe des Herzens
Das Denken als Krone der Schöpfung?
Die Weltlage


Weihnachten – das Fest der Selbstbestätigung?

Weihnachten – das Fest der Liebe. ,O, du fröhliche...’

Oh, wie abgedroschen ist dies alles! Welcher Bruchteil aller Menschen nimmt dies noch ernst? Und welchem Bruchteil eines Bruchteiles gelingt es, die Liebe wahrzumachen?

Und was ist überhaupt Liebe? Sich einmal im Jahr mit der ganzen Familie zu treffen und gemeinsam das scheinbare Erlebnis herzustellen, wie lieb man sich doch habe? Zumindest während dieser paar Stunden? Ist dies nicht längst ein Ablasshandel geworden, der nur noch dazu dient, sich zu vergewissern, dass man das Menschheitsziel noch nicht ganz aus den Augen verloren hat?

Wenn überhaupt! Für die meisten, die Weihnachten überhaupt noch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit feiern, ist es dennoch herabgesunken zu einem bloßen Ritual, mit dem das eigene prinzipielle Gutmenschentum allein schon sich selbst gegenüber bestätigt werden soll. Man vergewissert sich, dass man noch weiß, was Liebe ist, zumindest den nächsten Angehörigen und Freunden gegenüber. Man vergewissert sich, dass man noch nicht abgestorben ist, sondern ein guter Mensch, mindestens wie alle, aber natürlich sogar besser als der Durchschnitt.

Wieviel Selbst-Bestätigung liegt darin... Wieviel Bedürfnis, sich zu vergewissern... Wieviel Ritual, Routine, Gewohnheit, Künstlichkeit, Gezwungenheit, Stress, Ablasshandel...

Ist Weihnachten irgendwo noch echt? Tief? Grenzenlos aufrichtig? Grenzenlos unschuldig, wie eine Schneeflocke, die in dunkler Winternacht vom Himmel fällt, getragen vom Gesang der Sterne, deren Liebesimpuls sie zur Erde herniederträgt, um diese zu segnen...?

Die entsorgte Quelle

Meistens findet Weihnachten längst schon ohne jeden echten Bezug zum KIND statt. Man vergewissert sich der ,Liebesbotschaft’ und dass man sie ja beherzige, dass man ja ein Mensch sei, ein guter Mensch ... aber schon für eine echte Hingabe an die christliche Wahrheit, an die Weihnachtsgeschichte der Evangelien, reicht es nicht mehr. ,Lang, lang ist’s her’ und ,Was hat das noch mit heute zu tun’ und ,Dazu hat man doch nun wirklich keinen Bezug mehr, und ob das wirklich passiert ist...? Darum geht es doch auch gar nicht, es geht um die Botschaft...’

Und schon ist das Evangelium, ist die ewige Ur-Weihnacht ,entsorgt’. Wozu sich damit noch belasten, in seinem modernen Bewusstsein, das ist doch viel zu sehr ,Schnee von gestern’, und man möchte sich heute doch möglichst bequem als guter Mensch bestätigen. Der Rückgriff auf ,alte Kamellen’, die auch niemand anders mehr ernst nimmt, wäre da doch eher peinlich...

Nirgendwo sonst offenbaren sich die Unwahrhaftigkeit und der Narzissmus der modernen Seele deutlicher als hier. Mitläufertum und Oberflächlichkeit. Scheinheiligkeit und Verrat um der bloßen Selbstliebe willen. Weihnachten wird schlichtweg nur noch benutzt – als Mittel zum Zweck. Die eigene Selbstbestätigung, ,alle Jahre wieder...’.

Und man kann Weihnachten noch so ernst nehmen – wer nicht bereit ist, sich dieser Realitäten klarzuwerden, braucht noch immer den Selbstschutz, um nicht erkennen zu müssen. Und sollte – sollte! – dies alles einen selbst gar nicht betreffen, so wäre es noch immer eine Erkenntnis in Bezug auf fast den gesamten Rest der Welt und eine Analyse der modernen Seele im allgemeinen ... die einen nicht kalt lassen dürfte, gerade wenn man Weihnachten noch ernst meinen würde. Denn die Situation der Seele ist verheerend. Gott ist tot. Und zwar schon lange. Und neu geboren wird da auch nichts... Wir leben in Zeiten des Grabes.

Die heilige Frage nach dem Menschen

Wer heute noch das Wesen des Menschen sucht, das wahre Wesen, das heilige Wesen, wie es wahrhaft gedacht ist, von einer heiligen Teleologie her, einem Ursprung und Ziel der Schöpfung, aber verstanden als Mysterium, ein Mysterium, das auch scheitern kann, indem es grenzenlos auf den Menschen und sein inneres und äußeres Tun mit ankommt, ja mehr und mehr ganz ankommt ... wer also heute noch dieses wahre Wesen des Menschen sucht, muss ganz neu ansetzen.

Ich habe in den letzten Wochen drei Filme besprochen. Drei Perlen inmitten einer Schwemme von meist sehr, sehr Sinnlosem. Diese Filme kamen nacheinander in die Kinos und sind auch noch immer zu sehen: ,The Quiet Girl’ von Colm Bairéad, ,The Old Oak’ von Ken Loach und ,Perfect Days’ von Wim Wenders.

Der erste Film erzählt die Geschichte eines in Armut aufwachsenden, emotional vernachlässigten Mädchens, das aber in seinem Wesen ein unglaubliches Leuchten trägt... Der zweite Film handelt von der traurigen Realität des Kapitalismus und Neoliberalismus und von neuer, echter Gemeinschaftsbildung. Der dritte Film ist wie ein leises Zusammenfließen – auch er ist ähnlich still wie ,The Quiet Girl’ und enthält auf der anderen Seite die heilige Frage des Ganzen wie ,The Old Oak’. Ein stiller, mit sich selbst im Einklang lebender Mann, geht in tiefer Sorgfalt seiner täglichen Arbeit nach und leistet so einen berührenden Dienst an der ganzen Gemeinschaft, mit einer heiligen Selbstverständlichkeit, die eigentlich eins ist mit Liebe...

Jeder einzelne Film ist auf seine Weise eine Utopie ... aber eine zärtliche, eine lebendige Utopie. Jeder dieser drei Filme erinnert auf seine Weise an das Mysterium der Menschwerdung, das dem Menschen aufgegebene Mysterium, jenes Wunder, das noch vor ihm liegt. Das heilige Ziel, das jede einzelne Seele als Stimme in sich trägt, die wir Gewissen nennen. Der Mensch ist noch nicht, was er sein soll. Die Menschheit hat noch immer eine heilige Aufgabe.

Das Wunder

In diesen Tagen sind wieder zwei Romane von mir erschienen, in denen – wieder einmal – ein Mann sich in ein Mädchen verliebt, konkret letztlich aufgrund eines einzigen Momentes, der ihn so erschüttert, wie ,The Quiet Girl’ erschüttern kann.

Dieser Mann sieht in diesem einen Moment in dem Mädchen das Ur-Gute, jenes Mysterium, nach dem auch in ,The Old Oak’ und in ,Perfect Days’ gesucht wird. Er sieht gleichsam das Menschheitsziel in diesem einen Moment, das wahre Wesen des Menschen, das große Geheimnis. Im Grunde hat er also das Weihnachtsgeheimnis geschaut, wie es vielleicht noch Angelus Silesius kannte, wir Heutigen aber nicht mehr, wie es auch – völlig unverstanden – noch in dem Christuswort ,Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder’ aufbewahrt ist, womit man aber nichts mehr anfangen kann, vor allem aber auch gar nichts mehr anfangen will...

Dieser Mann aber schaut das ihn Erschütternde in diesem Mädchen, der Tochter eines Nachbarn, die ihn schon zuvor berührt hat.

Und was bedeutet dies nun? Er verliebt sich in sie, er versucht, ihr zu begegnen, sie versteht dies natürlich zunächst nicht, ihr Vater verbittet sich die Annäherungen – das Übliche eben. Das ganze Dogma, die ganze Normalität, die so verrückt ist wie der Kapitalismus und der Materialismus überhaupt. Daher auch der Buchtitel: ,Verrückt...’

Sogar die enge Freundin des Mannes kann zunächst nicht verstehen, wie er sich in ein noch nicht zwölfjähriges Mädchen verlieben kann. Aber sie ist als Kind auch missbraucht worden... Und auf der anderen Seite konnte die ganze Welt vor gut zweitausend Jahren auch nicht verstehen, wie sogar Könige zu einem Kind wandern konnten, um es zu lieben und zu verehren... Das ist die andere Seite.

Engelsfügung?

Und hier haben wir den ganzen Zusammenhang. Wie mit Weihnachten auch, ist unsere Welt derart in Konventionen erstarrt, dass sie die Wirklichkeit nicht mehr sehen kann. Weihnachten ist das ,Fest der Liebe’, aber eigentlich ist man nur noch froh, wenn es halbwegs ohne Stress und Streit abgeht. Von der Ur-Weihnacht will man gar nichts mehr wirklich wissen. Und wenn ein Mann sich in ein Nachbarmädchen verliebt, ist das Geschrei groß. So weit also reicht Weihnachten! Null...

Die Könige fühlten sich von dem Kind gesegnet – und weil es Könige waren, brauchten sie auch nicht zu begründen, warum sie ein Kind verehrten. Den Hirten dürfte es schlimmer ergangen sein. Sie könnten von den Damaligen wüst verspottet worden sein, warum sie sich plötzlich so ,kindisch’ benommen hatten und mitten in der Nacht ein Kind aufgesucht. Gut, sie konnten auf den Engel verweisen, auch das hat damals noch etwas gegolten.

Der Mann, der sich in die Tochter seines Nachbarn verliebt, kann auf nichts verweisen. Mag es ein Engel gewesen sein, der ihn in diesen Augenblick geführt hat, der für ihn so erschütternd war – er würde es nie beweisen können, und er wüsste es auch selbst nicht. Es ist auch bedeutungslos. Dieser existenzielle Moment war da, und wenn es ein Schicksal und Engel gibt, so waren dies Schicksal und die Engel. Aber die Außenwelt würde ihm sowieso nicht glauben, denn der Ernst, an Schicksalsfügungen und Engel zu glauben, ist längst ebenfalls tot. Und selbst wenn ... bei einem noch nicht zwölfjährigen Mädchen hört alles auf...!

Worauf ich damit hindeuten möchte, ist, dass die Wahrhaftigkeit gar nicht mehr existiert – und dass sich dies hier so deutlich offenbart wie auf der anderen Seite jedes Jahr zu Weihnachten.

Wer wirklich aufrichtig wäre, müsste zunächst still werden, innerlich ganz, ganz still. Es ist die gleiche Stille, in der auch das KIND überhaupt erst empfangen werden könnte. Wie es Angelus Silesius noch wusste. Und wofür es die Zeit des Advent gibt – aber wer schert sich noch um den Advent? Und erst die völlige innere Stille der Seele würde schauen können. Vorher urteilt sie nur, und zwar von sich aus, nicht von den Engeln aus. Christus aber sprach: ,Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet...’

Advent und Dogma

Der Advent dieses Mannes war, dass er schon vorher von dem Nachbarmädchen Belle immer wieder berührt war. Der Advent dieses Mannes war, dass er sein Leben lang die Aufrichtigkeit geliebt hat, die Wahrhaftigkeit, dass er ein Suchender war, eine empfindsame Seele mit echten Idealen, mehr Mensch als die meisten Menschen um ihn herum, vielleicht mit Ausnahme seiner Freundin, die auch ein wahrer Mensch voller Herz ist.

Und nun verliebt sich dieser Mann in dieses Mädchen... Und das Mädchen beginnt schließlich, seine Annäherung zu erwidern, sich schließlich sogar auf ihre Weise ebenfalls tiefgehend in diesen Mann zu verlieben, natürlich nicht ohne Grund, sondern mit sehr viel Grund ... aber die Welt urteilt noch immer, allein schon in Gestalt der LeserInnen, die so etwas lesen, zum Beispiel diese Zeilen jetzt hier. In vielen Seelen hört das Urteilen nie auf, weil das Dogma immer mitspricht, das Einkonditionierte, das routinierte Wissen, die wissende Routine: ,Mann und Mädchen, das ist schlecht...’

Es gab schon so viel, was die Menschheit zu wissen glaubte! Und umgekehrt, das, was sie wirklich wissen sollte, daran glaubt sie nicht mehr...

Das Schlimmste ist der Absolutismus, das Orwell’sche Wahrheitsministerium – denn wo man Glaubenssätze über einen Kamm schert und meint, damit eine Wahrheit in der Hand zu haben, da hat die Lüge längst begonnen. Man macht sich auf einem Auge blind, um sich als der große Sehende zu präsentieren – die Selbstherrlichkeit kennt hier keine Grenzen, zumal sie sich perfekt als ,fürsorglich’ tarnen kann. ,Mann und Mädchen, das ist schlecht...’ Gibt es eine plattere ,Wahrheit’? Wohl kaum. Sie ist dennoch heute so unwidersprochen wie damals die andere Wahrheit ,Die Erde ist flach’. Genau der gleiche, arrogante Wahrheitsanspruch.

Was gut und schlecht ist – wer könnte das denn beurteilen? Doch wohl die Engel! Aber an diese Welt glaubt man ja gar nicht mehr. Man spottet ja heute sogar darüber. Das ist schlecht! Aber diese Frage interessiert einen ja gar nicht mehr. Doch um das Mädchen geht es einem angeblich schon. Aber was gut und schlecht ist, müsste doch wohl das Mädchen beurteilen! Nun – nicht, wenn man es entmündigt... Man sagt einfach: Das Mädchen kann es noch nicht beurteilen.

Und das ist bereits die Lüge.

Das Mädchen ... interessiert gar nicht

Ein Mädchen kann sehr viele beurteilen. Sehr, sehr vieles. Sicherlich, es kann manchen Missbrauch noch nicht wirklich durchschauen. Aber ob es überhaupt um Missbrauch geht, das ist ja nun gerade die Frage! Manche Seele stellt sich jetzt voller Selbstüberzeugtheit hin und sagt: ,Jeder Kontakt eines Mannes zu einem Mädchen ist Missbrauch!’ Und daran sieht man, wie weit das Dogma bereits um sich gegriffen hat.

Wenn dieser Satz stimmen würde, könnten wir als Menschheit ,einpacken’. Dann könnten wir uns segregieren: Erwachsene hier, Kinder dort, Jugendliche da drüben. Männer hier, Frauen dort. Schwarze hier, Weiße dort. Und immer so weiter. Oder doch nicht? Aber ,Erwachsene’ und ,Minder-Jährige’? Oder auch das nur, falls sie sich ineinander verlieben? Weil das nur schiefgehen kann? Wo hört das Dogma auf? Es hört nie auf, wenn man nicht erkennt, wo es beginnt. Und es beginnt bei jedem Kategorismus. Bei jeder sogenannten Wahrheit, die einen Absolutheitsanspruch erhebt.

Diese Absolutheit gibt es nur an einem einzigen Ort: der Unschuld. Sie ist die einzige, die urteilen darf, ohne dass ihr widersprochen werden kann, denn ihr Urteil ist wahr. Und dies ist so, weil sie Wahrheit sogar schaffen kann. Und sie kann dies, weil sie den wahrhaft guten Willen hat. Ihr Urteil ist wahr, weil sie nicht Recht haben will.

Wir kommen hier an gewissermaßen paradoxe Grenzen, die man etwa so formulieren könnte: Das Mädchen kann einen Missbrauch nicht immer durchschauen – aber die übrige Welt kann noch viel weniger durchschauen, wenn gar kein Missbrauch vorliegt. Denn die Unschuld lässt manchmal Dinge zu, die möglicherweise falsch sind. Aber die mangelnde Unschuld beurteilt vieles als unzulässig, ja verwerflich, das in keinster Weise so ist, im Gegenteil.

Und die äußere Welt verweigert hier schlicht jegliche Beweisführung. Was zugleich beweist, dass das Mädchen sie in Wirklichkeit überhaupt nicht interessiert. Dieses Mädchen könnte sich mit dem Mann noch so wohlfühlen, es könnte noch so glücklich sein, im Gegensatz zu vorher – es interessiert die Welt nicht, und ,da beißt die Maus keinen Faden ab’. Das Mädchen (oder Mäuschen) ist einfach noch zu naiv und erkennt nicht, wie falsch das ist.

Deshalb sind es zwei Romane. Der zweite Roman blickt auf dasselbe Geschehen aus den Augen der reifen Frau mehrere Jahrzehnte später. ,Belles Wahrheit’. Und ihr Blick offenbart, wie sehr das Dogma eine Lüge ist. Denn ihr Blick bestätigt, was bereits das Mädchen wusste: Dass die Liebe dieses Mannes zu ihr eine Rettung war. Eine Rettung, durch die sie erst wurde, was sie werden konnte, mit all jenem Reichtum, den sie jetzt ihr eigen nennt. Und die Wahrheit ist: Mann und Mädchen können einander unendlich gut tun. Unendlich.

Wer etwas anderes glaubt, weiß gar nicht, wovon er spricht. Denn er kennt die volle Wirklichkeit nicht mehr. Er hat sich selbst eingeschlossen in menschenunwürdige Teil-Wahrheiten, die nie das Ganze sein können.

Die Unschuld – und ihr Gegenteil

Das Mysterium des Mädchens ist die Unschuld. Und diese Wahrheit kollidiert bereits mit einer anderen, äußeren: In Wirklichkeit möchte heute nahezu keine Seele mehr unschuldig sein – siehe hierzu auch mein Büchlein ,Die Unschuld stirbt zuerst’. Der Selbstheitsimpuls, durch den sich das eigene Wesen ganz zentral auf sich selbst richtet, hat in Zeiten des kollektiven Narzissmus, der Werbe-Bombardements (die alle ebenfalls auf diesen Punkt zielen), der Coolness, des Sich-durchsetzen-Müssens (Kapitalismus!) etc. etc. solche Ausmaße angenommen, das selbst Mädchen heute dies alles ,sein müssen’.

Das Dogma beinhaltet den Reflex, nun sofort wieder zu unterstellen, der weiblichen Hälfte der Menschheit würde die ,Emanzipation’ untersagt. Was hierbei übersehen wird (oder würde), ist jedoch die Tatsache, dass ich im selben Atemzug regelmäßig betone, dass die männliche Hälfte denselben existenziellen Fehler schon viel früher begangen hat, für diesen offenbar viel stärker veranlagt ist, was nichts an dem Fehler ändert.

Die Gleichberechtigung ist nicht nur richtig, sondern eine Tatsache. Wo sie erst hergestellt werden muss, war eben bereits längst etwas falsch. Aber – jetzt besteht (mehr oder weniger) eine Gleichberechtigung auf Grundlage männlicher Normen. Die ja aber bereits in sich falsch sind! Nämlich: Kapitalismus, Kampf, Härte, Stress, Überleben, Druck, Gegeneinander, Konkurrenz, Krieg, Ausbeutung, Vernichtung. Und was dem widerspricht, ist nur deshalb vorhanden, weil die Vernunft noch nicht ganz verlorengegangen ist. Aber Vernunft allein reicht nicht.

Die Emanzipation ist vor diesem Hintergrund die Selbstaufgabe des Weiblichen, denn nur so kann das Weibliche in einer männlichen Welt ,mitspielen’. Es muss sich grenzenlos anpassen – sich ebenfalls durchsetzen, behaupten, präsentieren, performen etc. etc. Das alles ist männliche Welt.

Das Mysterium des Mädchens aber ist die Unschuld. Und der Mann, Hirayama, in dem Film ,Perfect Days’ war auch sehr unschuldig. Er hat sein ganzes Wesen sanft gemacht. Hingebungsvoll. Mit Hingabe tut er seine Arbeit. Zart öffnet er sich der Schönheit des Lichts in den Baumkronen, liebt dieses. Zart ist er offen für alle Eindrücke der Umwelt, ist zurückhaltend, aber auch hilfsbereit. Er ist wie ein Mädchen. Trotzdem ist er ein Mann. Er ist kein Mädchen. Er ist in vielerlei Hinsicht wie ein Mädchen – aber nicht ein Mädchen. Und das ist ein Unterschied. Und dieser Unterschied ist noch immer sehr, sehr groß.

Was nur ein Mädchen kann...

Schon mehrere Male hörte ich das Argument: Was ein Mann an einem Mädchen erlebt, in der Liebe zu einem Mädchen, das kann – und sollte – er sich auch selbst erwerben, ohne den ,Umweg’ über ein Mädchen zu benötigen. Man(n) kann völlig unabhängig davon nach Offenheit streben, nach Sanftheit, nach Empfindungsfähigkeit, nach Hingabefähigkeit.

Selbstverständlich. Solche Einwände berücksichtigen nicht, dass die Protagonisten meiner diesbezüglichen Romane in vielen Fällen längst an diesem Punkt sind. Denn gerade weil sie bereits so offen, sanft, empfindungsfähig usw. sind, werden sie von dem Wesen eines bestimmten Mädchens dann derart berührt.

Selbstverständlich kann man spirituell durch inneres Streben an jeden beliebigen Punkt kommen. Eigen ist einem immer nur das, was man sich erringt. Das ist schon so. Gleichzeitig sollte man aber auch wissen, wie schwer dieses Streben ist – und wieviel man nicht erringt. Natürlich spielen auch Illusionen hier eine große Rolle. Manche meinen, sie seien innerlich bereits ziemlich weit – und sind vielleicht auch längst weiter als der Durchschnitt ... und doch ist ,weit’ etwas anderes...

Die moderne Seele ist so sehr im Kopf verhaftet, dass sie dort auch bleibt, wenn sie anfängt, irgendwelche spirituellen Wege zu gehen. Die Unschuld ist auf keinem dieser Wege ,vorgesehen’. Am nächsten kam der Unschuld vielleicht noch Franziskus, aber auch er blieb ein Mann, auch mit seinem ,Sonnengesang’; aber er kommt dem Herzen eines Mädchens nahe – wo er, zumindest der Legende nach, den Wolf ,Bruder’ nennt, und überhaupt die Tiere als innige Gefährten, ja Geschwister des Menschen empfindet.

Und doch ist dies selbst bei einem Mann wie Franziskus immer auch eine Art gedankliche Begeisterung, ferner dient alles letztlich vor allem dem ,Lob Gottes’. Das reine Herz eines Mädchens aber würde die innige Nähe und Verwandtschaft von allem ohne diese Brücke, diesen Umweg empfinden – in allem einzelnen einen heiligen Eigenwert, zu allem Einzelnen eine unmittelbare Liebe. Ein Mädchen braucht keinen Umweg. Ein Mädchen braucht auch keinerlei Eigengeltung. Die Unschuld ist mit allem verbunden, weil sie in ihrer Hingabe die Schönheit und das ebenfalls Unschuldige noch überall wahrnimmt.

Die Stufe des Herzens

Wenn man also glaubt, von einem Mädchen nichts lernen zu brauchen, alles auch ,allein’ erstreben zu können, begreift man erstens nicht, wie tief die Lehre des Mädchens gehen würde – und verharrt zweitens noch immer in der sehr männlichen Haltung des ,Ich muss es allein schaffen’. Irgendwo sehr prometheisch und sehr maskulin, von einer höchst zweifelhaften Logik.

Wer von einem Mädchen nichts lernen will, verneint schlicht die heilige Bedeutung der Unschuld, in jedem Fall aber ihre höchste Stufe – die eigentliche Stufe des Herzens. Solange ich nicht noch für die winzige Motte, die kurz von einem Grashalm zum anderen fliegt, etwas empfinden kann, habe ich die Stufe des Mädchens noch nicht erreicht. Und dies ist nicht etwa ein neuer Einweihungsgrad, auf den man sich wiederum etwas einbilden könnte – der subtile spirituelle Narzissmus ist ja fast unausrottbar –, sondern das völlige Gegenteil. Der Verzicht auf alle ,Stufen’, nur noch die absolute Läuterung, die absolute Reinheit des Herzens. Unschuld ... die nur noch zarte Liebe ist, nichts anderes mehr. Zart sich hingebende Liebe. Mädchenherz...

Wer meint, dies ohne ein Mädchen erreichen zu können, weiß nicht, was er sagt. Die Wahrheit ist vielmehr, dass die Seelen nicht einmal ansatzweise so weit gehen wollen.

Dabei deutet etwa das Christuswort ,Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut’ (Mt 6,3) zumindest in diese Richtung. Gemeint ist auch hier eine Unschuld – und wer verwirklicht dies schon? Aber jedes Almosen ist wiederum gedanklich geprägt – es sei denn, es würde wie beim Mädchen auch hier unmittelbar das Herz handeln...

Alle übrigen Seelen mögen auch mit dem Herzen handeln – aber nur das Mädchen handelt aus dem Herzen. Und diesen Unterschied zu begreifen wäre die größte, eigentlich die einzige Aufgabe der Zukunft.

Wer sich aufrichtig in ein Mädchen mit einem unschuldigen Herzen verliebt, ist von diesem Mysterium ergriffen worden.

Das Denken als Krone der Schöpfung?

Nicht nur den Anthroposophen ist das Denken heilig. Das Sich-Erheben des Menschenwesens zum Reich des Logos, wie es zunächst als Begriffe, als Wesen der Dinge, im Denken aufleuchtet, ist keinem anderen Geschöpf, etwa keinem Tier, möglich.

Dennoch steht die Weisheit unterhalb der Liebe. An einer Gestalt wie Faust sehen wir, wie selbst der Vorstoß in das Reich ewiger Gesetze, ja die lebendige Begegnung mit dem Erdgeist selbst, einen männlichen Geist noch immer sehr lieblos bleiben lassen kann. Auch der ,Faust’ bleibt noch ein sehr patriarchales, masuklines Werk. Nur in kurzen Momenten erkennt Faust, dass das Mädchen (Gretchen) in all seiner Unschuld viel weiter ist als er. Einerseits begehrt er es, andererseits ist auch er von ihrem Mysterium berührt, aber er erkennt es nicht wirklich, er begreift es nicht.

Das Mädchen aber hat heilige Gedanken. Ob es bereits rein im Denken gefasste ,Begriffe’ hat, ist absolut nebensächlich – es hat die Liebe, und das ist unendlich viel mehr. Ferner hat das Herz seine eigenen Begriffe. Das Mädchen hat noch viel Zeit, die Begriffe auch in seinem Kopfdenken zu einer Wirklichkeit kommen zu lassen – aber bei ihm sind sie bereits eine Liebes-Wirklichkeit. Die Begriffe des Mädchens sind wahr, weil sie unmittelbar aus der Quelle stammen. In Wirklichkeit ist das Herz das Reich des Logos – und trägt das Mädchen dieses Reich in seinem Herzen. Ob es dies weiß oder nicht – viel wesentlicher ist, dass es dieses Reich hütet, und das tut es.

Der wahre Logos wäre von der Liebe gar nicht zu trennen, denn es ist, auch laut der christlichen Wahrheit, dasselbe Wesen. Wo man aber immer noch von ,Vater’ und ,Sohn’ spricht, kann es mit der Wahrheit noch nicht allzu viel her sein – denn was soll ein Mädchenherz von solchen patriarchal geprägten Begriffen denken? Keineswegs geht ein männlicher Logos als ,Wort’ aus dem ,väterlichen’ Urgrund hervor – wieso kommen wir einfach nicht los von derart falschen Vorstellungen?

Vielleicht ist das höchste Wesen eine ewige Mädchengöttin, und von ihren zärtlichen Lippen ging ein ebenso zärtliches Wort hervor, durch das die ganze Welt Wirklichkeit wurde? Und vielleicht gab es unter den in die Freiheit entlassenen Wesen tatsächlich einen ,Sündenfall’, eine eigensinnige Sonderung, die zu Gegenmächten führte, die dann den Menschen verführten, insbesondere den männlichen, während der weibliche eigentlich nur aus Liebe folgte...

Bis heute ist das Problem der Mann – und ist die Lösung das Mädchen. Das Mädchen ist die Heilung des Mannes.

Die Weltlage

Wir haben eine Welt, in der nicht dafür gesorgt wird, dass die Schöpfung in all ihrer Schönheit und Vielfalt erhalten bleibt – sondern in der blindes Wachstum und ebenso blinde Konkurrenz als Gesetz zugelassen und verteidigt werden. In der Bauern (und erst recht Bäuerinnen), die noch im Einklang mit der Natur wirtschaften, zum Aussterben verurteilt sind, weil sie nicht mit den Agrarindustriellen und den Discountern mithalten können – und niemand die Schändung der Erde verbietet.

Die sogenannten ,Volksvertreter’ haben nicht den Mut, der täglichen Vergewaltigung des Planeten durch Gesetze ein Ende zu machen und das einzige Menschliche zu verwirklichen. Gleichermaßen werden Millionen von ,Nutztieren’ der ,Fleischproduktion’ zugeführt, unter unmenschlichsten Bedingungen, grauenvoll, behandelt wie bloße Dinge – während ein winziger ,Lebenshof’ wie ,Butenland’, in dem Tiere einfach leben und alt werden dürfen, wie eine absolute Utopie wirkt. Wir leben nicht mit Tieren – wir ,verwerten’ sie.

Die ökologischen Kosten unserer Lebensweise sind unbezahlbar, und noch immer gibt es keine Reichensteuer, die es ermöglichen würde, alte und kranke Menschen wieder in Würde zu pflegen. Noch immer sind Krankenhäuser, Altenheime, Grund und Boden, Wasser und öffentlicher Verkehr nicht vergesellschaftet, sondern geht der ,Trend’ noch immer weiter in Richtung ,Privatisierung’ – in Richtung von Profit und Rendite, als hätten wir den Wahnsinn noch immer nicht erkannt, nicht schon längst.

Noch immer geht das Fliegen weiter, sogar das Billigfliegen, als wäre der Irrsinn nicht offenbar. Noch immer werden Straßen und Schnelltrassen gebaut, mit Milliarden, während lokale Strecken stillgelegt werden, ganze Regionen aussterben, weil dort die Profitlogik versagt – die aber ohnehin überall versagt, nämlich diesen Planeten zugrunde richtet.

Aber wir werden einfach nicht ,schlauer’ – weil es um diese Frage gar nicht geht. Es geht darum, dass wir die Unschuld wiederfinden müssen. Dann nämlich würden sich die Dinge von einem Tag auf den anderen ändern können. Es fehlt nicht das Wissen, es fehlt der Wille – und dieser hängt mit dem Herzen zusammen. Wir sind zu sehr von dem ,Weg des Mädchens’ abgewichen. Jetzt tun es sogar die Mädchen selbst – die lieber Spotify hören, als etwas für die kleine Motte im Gras zu empfinden... Aber das ist die Krankheit. Es ist nicht die Zukunft.

Die Zukunft ist eine wachsende Umkehr von immer mehr Menschen, die den Irrweg so sehr erkennen, dass sie wieder bei ihrem Herzen ankommen. Sehr, sehr tief. Aber dies wird nur mit Hilfe des Mädchens möglich sein, denn für ,Alleingänge’ wird die Aufrichtigkeit schlicht nicht reichen.

Das Mädchen ist hier die ewige Lehrerin. Das Mädchen ist Weihnachten – und ist die zweite Geburt.