25.11.2023

Advent – oder: Worauf warten wir noch?

Besinnungen kurz vor Beginn der Adventzeit.


Inhalt
Vom Geschehen der Seele
Vom Stillwerden
The Quiet Girl
Maria und der Dornwald
Ist Gott ein Mädchen?
Der Advent – ein Mädchen
,Siehe, innerer Mann...’
Das Mädchen Gottes
Die Erlöserin
Die Verkündigung


Vom Geschehen der Seele

Advent – das bedeutet ,Ankunft’ (es kommt vom lateinischen ,advenire’ = ankommen). Die Adventzeit ist das Geschehen, der Prozess der allmählichen Ankunft ... eines Geheimnisses.

Für die christliche Seele wäre es eine Zeit der Vorbereitung auf Weihnachten – denn ohne eine solche kann nichts wirklich erlebt werden. Alles Heilige braucht Vorbereitung, und zwar vor allem innere. Es wäre eine Zeit heiliger, stiller Erwartung. Und es ist kein Wunder, dass sich die Worte gleichen: ,In Erwartung sein’, das sagt man auch von einer Frau in der Schwangerschaft, die still und innig dem Geschehen der Geburt entgegengeht – während dieses Geheimnis der Geburt gleichzeitig ihr entgegengeht.

Und wenn Maria dem Engel, der ihr das Mutterwerden verkündet, antwortet: ,Mir geschehe, wie du gesagt hast’ (Lukas 1,38), so liegt darin genau jene heilige Hingabe, die für jede innere Vorbereitung und Erwartung notwendig ist. Auch das übrige Evangelium ist voll von Gleichnissen in Bezug auf dieses Geheimnis. Im Gleichnis von den ,klugen’ und den ,törichten’ Jungfrauen, haben bei der Ankunft des himmlischen Bräutigams nur die ersten auch an das Öl für ihre Lampen gedacht (Matthäus 25,1-13). Immer geht es um den Ernst der heiligen Vorbereitung der Seele, um die Polarität zwischen wahrem Ernst und Nachlässigkeit. Der tiefste Ernst aber ist immer die Hingabe...

Advent wäre eine heilige Zeit innerer Einkehr und Stille, was bereits selbst Gesten der Hingabe oder aber zumindest der Vorbereitung auf etwas erst dann Mögliches sind.

Und man sagt die Fähigkeit der Hingabe vor allem der weiblichen Seele nach, was auch ganz stark kulturell konnotiert ist – aber die Zeit des Advent betrifft jede Seele, und heute erhebt sich unmittelbar die Frage: Welche Seele ist überhaupt noch fähig und bereit (beides!) zu Empfindungen und Willensregungen, einer ganzen Stimmung der Hingabe? Zu einer ... Advent-Stimmung, und zwar nicht nostalgisch oder auch nur gewöhnlich verstanden, sondern existenziell? Im Sinne einer seelischen Realität, in der in der Seele selbst etwas geschieht...?

Im Westen Deutschlands verstehen sich noch rund 70 % der Menschen als ,christlich’, im Osten sind es keine 25 % [o]. Aber die Frage ist: Welcher Bruchteil davon begreift das christliche Jahr als einen Organismus seelischer Prozesse? Als etwas, was fortwährend in der Seele zu einem Geschehen werden will? In keinerlei Weise bloß Erinnerungspunkte, sondern heiliges Geschehen, das die Seele, das den Menschen verwandelt?

Ein Prozent? Wie viele Seelen kennen wohl noch die wirkliche Hingabe? Ein Prozent? Oft ist die Rede von den reichsten ein Prozent, die einen obszönen Reichtum auf sich vereinigen – so viel, wie zwei Drittel der Menschheit. Aber es gibt auch einen Reichtum der Seele... Wer kennt diesen noch? Wer kennt ihn noch wahrhaft?

Vom Stillwerden

Der Reichtum der Seele hat unendlich viel zu tun mit der Fähigkeit zur Stille. Dieses innere Stillwerden offenbart sich wunderbar auch in dem Verhältnis von Marta und Maria, wo es heißt:

Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden. (Lukas 10,38-42).

Mit Erich Fromm können wir sagen, es ist die Polarität von ,Haben’ und ,Sein’, jedenfalls aber von ,Vita activa’ und ,Vita contemplativa’, von äußerem Tun und Hingabe. Maria setzt sich einfach Jesu zu Füßen und hört zu. Man darf sich diese Hingabe ruhig grenzenlos vorstellen – als ein Eintauchen der ganzen Seele.

Ein-tauchen... Liebende wollen in den Augen des geliebten anderen Wesens ,ertrinken’. Immer geht es um das Geheimnis des völligen Sich-Vergessens, einer heiligen Selbstvergessenheit, denn erst das wird Hin-Gabe... Das eigene Seelenwesen taucht heilig-vollständig ein in das Andere. Rudolf Steiner sprach auch von einem ,Hineinschlafen’, was bedeutet, dass das körpergebundene Ich-Bewusstsein völlig verschwindet und das Bewusstsein sich erfüllt mit dem Wesen dessen, in das es eintaucht, sich hin-gebend...

Dieses Geheimnis der Hingabe ist nur im Zeichen der Stille möglich, was sehr deutlich wird, wenn man diese Umschreibung eines ,Hineinschlafens’ einmal sehr ernst nimmt. Dies ist niemals möglich, solange das eigene, selbstbezügliche Bewusstsein noch ,lärmt’ und ,Radau macht’. Diese Selbst-bezogenheit, die das gewöhnliche Selbstbewusstsein geradezu konstituiert, muss man völlig ablegen, wenn die innere Bewegung der Hingabe eine Wirklichkeit werden soll.

Und doch lebt in der Hingabe eine stille, heilige Wachheit, aber es ist eben gerade nicht die des lauten ,ich’. Es ist vielmehr der sanfte Wille – wie Georg Kühlewind einmal ein ganzes Büchlein nannte. Der sanfte Wille kann sich jederzeit völlig vergessen ... und ist doch sanft anwesend. Es ist das völlige Gegenteil von der ,Selbstvergessenheit’ inmitten lauter Pop- oder Rockmusik-Konzerte oder anderer moderner ,Rausch’-Erlebnisse. Der sanfte Wille kennt nicht die ,Berauschung’, er kennt die heilige Gnade ... des Beschenktwerdens. Das ist jener heilige, innige Reichtum, der sich in der Antwort Marias an den Engel oder auch in dem hingebungsvollen Zuhören der anderen Maria andeutet und den auch die Adventzeit verheißt.

Jenen Seelen, die still werden können...

The Quiet Girl

Der jetzt in die Kinos gekommene, wunderbare irische Film ,The Quiet Girl’ ist auch deshalb so ein Geschenk gerade jetzt, weil er zutiefst der Adventzeit entspricht. Ich würde diesem Film wünschen, dass jede Seele ihn sähe! Und jeder Seele würde ich diesen Film wünschen...

Ich glaube, es gab in den ganzen letzten Jahren kaum einen stilleren Film. Kaum einen stilleren Film, der gleichzeitig so intensiv in das Innere der Seele reicht, dort mit zarter Hand gleichsam den Grund aufwühlend.

Dieser Film zeigt geradezu das Geheimnis der Stille. Er offenbart es durch das Mädchen Cáit, das in dieses Geheimnis durch die Ignoranz seiner engsten Umwelt, seiner eigenen Familie, geradezu hineingestoßen wurde. Ja, Cáits Stille gründet in der Einsamkeit – aber darum ist sie nicht weniger real. Leid kann sich in der Seele in ein helles, heiliges Licht verwandeln. Was Cáit offenbart, ist eine namenlose, erschütternde Unschuld. Sie lebt ganz allein in jener inneren Stille, die ihre Heimat geworden ist, die aber eine unendliche Fülle enthält, weil Cáit in all ihrer Einsamkeit die Hingabe kennt.

Wie ist das möglich? An was kann sie sich hingeben, wo sich doch niemand für sie interessiert? Aber das ist ja gar nicht notwendig. Oder mehr noch: Gerade diese Einsamkeit nährt in Cáits Seele eine Hingabefähigkeit ohnegleichen. Am Grunde ihrer einsamen Seele lebt ein grenzenloses Bedürfnis nach Kontakt, Begegnung, Wärme und Liebe – in Gestalt einer scheuen Sehnsucht. Aber weil sie längst ,weiß’, dass dies in der Welt für sie nicht existiert, verharrt sie gleichsam in einer nur ganz potenziellen Erwartung, einer unschuldigen Resignation – einer kaum zu beschreibenden Unschuld, die das ihr Zustoßende ergeben hin-nimmt, wie es kommt, und die zarte Hoffnung nie aufgibt, obwohl sie sie längst aufgegeben hat. Es ist das Mysterium der sanften Seele, wie es in dieser Reinheit nur ein Mädchen offenbaren kann.

Was nun hat dies mit Hingabe zu tun? Alles. Allein schon das Fehlen jeder Gegenwehr ist buchstäblich Ergebung gegenüber dem Schicksal. Und erst da, wo die Seele sich nicht mehr wehrt, kann sie alles bis in die Tiefe wahrnehmen, das Schmerzende wie auch das Schöne, und vielleicht ist so noch das Kleinste schön – das in den Baumkronen spielende Licht, ein Schluck Wasser aus einem Brunnen. Und alles wird bis in seine kleinen Details wahrgenommen, wo die Seele aufhört, die Welt ständig irgendwie ,haben’ zu wollen – anders, als sie ist. Wo diese ständige Ego-Regung zur Ruhe kommt, in Cáit vielleicht schon seit Jahren zur Ruhe gekommen ist, da kann in einer unschuldigen (oder wieder unschuldig werdenden) Seele eine heilige Sphäre entstehen, die alles wahrnimmt – buchstäblich alles.

Und in welche grenzenlosen Tiefen der Seele dann jene Gesten der Liebe fallen, die Cáit bei ihren fernen Verwandten, ihren Pflegeeltern für diesen einen Sommer, zuteil werden, das ist kaum zu ermessen – es ist un-ermesslich...

Dieser Film ist wie eine unendliche Schule des Stillwerdens. Durch ihn begreift man wieder, was dies eigentlich wäre, wie tief das gehen kann. Sanft wird man in ein Mysterium hineingenommen.

Maria und der Dornwald

Alle Bilder der sanften Hingabe sind immer wieder weiblich konnotiert gewesen. Jene Hingabe, die nicht auf Ehre und Ruhm oder Todesmut aus ist, nicht heroisch, nicht wissenschaftlich, sondern still, sanft und in jeder Hinsicht weiblich...

Und doch ist das Geheimnis ja viel größer. Die Hingabe verwandelt alles – weil ihr alles im Grunde entgegen kommt (und auch das ist Ad-vent!). In dem Adventlied ,Maria durch ein Dornwald ging’ wird das innig-heilige Bild entfaltet, wie diese hingebungsvolle junge Frau, ja das junge Mädchen – denn nach allen ältesten apokryphen Quellen war sie höchstens vierzehn Jahre alt – in stiller Hingabe der ,Erwartung’ (Schwangerschaft) einen Dornwald durchquert, also ein Gehölz, das, vielleicht fast laublos, dem Wanderer nur noch nackte Dornen entgegenstreckt. Aber nun, als die ,Gottesmutter’ mit dem Gotteskind in ihrem Leib, diesen Wald durchquert, geschieht ein Wunder: ,...da haben die Dornen Rosen getragen...’

Also aus dem Totesten (verhärtete Dornen) blüht neues Leben hervor, in reiner Hingabe an diese Jungfrau und das Gotteskind unter ihrem Herzen... Lange, bevor die weisen Könige aus dem Morgenland kommen, um vor dem Kind ihre Knie zu beugen! Was bedeutet das? Es bedeutet, dass dem hingebungsvollen Mädchen Maria die Natur selbst hingebungsvoll entgegenkommt! Und dies ist das Geheimnis. Es ist immer nur die Hingabe, die ... selbst beschenkt wird.

Wir sehen dies überall. Saint-Exupery, der Dichter des ,Kleinen Prinzen’, berichtet, wie er in seiner Jugend erblindete – und erst in dem Moment, als er aufgab, etwas ,sehen’ zu wollen, plötzlich in ein inneres Licht hinein erwachte, mit dem er sich fast mühelos zurechtfinden konnte. Auch dies ist das Mysterium der Hingabe...

Und wir sehen, wie leer und letztlich un-glücklich all jene Seelen werden, die sich immer mehr dem bloßen ,Haben’ zuwenden (und dazu gehört auch der Konsum von ,Immateriellem’ wie Serien und anderen Bildschirminhalten). Leer und unbefriedigt, sodass sie immer nur nach neuem gieren können, nach Abwechslung, Zerstreuung... Ein Mädchen wie Cáit geht den absolut entgegengesetzten Weg. Sie lebt in einem tiefen, stillen, inneren Zentrum – und wo immer sie nach außen tritt, mit ihren scheuen Fragen, ihren aufrichtigen Antworten, wann immer sie etwas gefragt wird, da tut sie es ganz, in jedem Blick von ihr lebt ihr ganzes Wesen, ungeteilt, unzerstreut. Unschuldige Ganz-heit, die wir heute nahezu überhaupt nicht mehr kennen...

Auch dies also ist Hingabe: heiliges Sammeln seines ganzen Wesens in einen Punkt. Wie auch Maria ihren Sinn nicht irgendwohin schweifen lässt, sondern in der Sphäre des Heiligen lebt, voller Aufrichtigkeit. Und heilig ist schon die Unschuld. Deswegen sind Maria und Cáit so innig verwandt, auch wenn man auf diese Entdeckung erst kommen muss.

Ist Gott ein Mädchen?

Aber wir dürfen uns nicht weiter den kulturellen Einseitigkeiten hingeben, die die Hingabe nur auf der weiblichen Seite ,verorten’, während irgendeine männliche Seite diese Hingabe dann ,belohnt’. Wir müssen aufhören, uns die andere Seite männlich vorzustellen.

Gewiss, Jesus von Nazareth war ein Mann – aber jener Geist der Liebe, der in ihm auf diese Weise Mensch wurde, hat kein Geschlecht, ebenso wenig wie ,Gott’ in anderer Form. Wir müssen also aufhören von ,Gott’ zu sprechen und dabei an etwas Männliches zu denken. Insbesondere müssen wir also aufhören, von ,Vater’ und ,Sohn’ zu sprechen. Dass Jesus dies tat, ist der Zeit zu schulden, in der er lebte. Vielleicht nahm er die Quelle, die den Liebesgeist sandte und gleichzeitig mit diesem eins war, als ,Vater’ wahr – aber das darf uns nicht hindern, diese irreführenden Vorstellungen endlich loszulassen.

Insofern ist es hilfreich, auch die andeutende Bezeichnung ,Gott’ zu überdenken – und vielleicht durch das so umstrittene ,Gendersternchen’ anzudeuten, dass diese Bezeichnung viel mehr umfasst, als man gewohnt geworden ist, damit zu konnotieren. ,Gott*’ – im Sinne von Raum in jede Richtung, als Aufweitung der bisherigen Gedanken zu einem wirklichen Kosmos... Oder man spricht noch besser von einem ,Gotteswesen’, denn dies enthält überhaupt keine Reminiszenz von etwas Geschlechtlichem.

Aber, und sei es nur zur Auflösung jahrtausendealter Vorstellungen, man darf sich auch einmal vorstellen, wie es wäre, wenn Gott ein Mädchen wäre.

Man stelle sich dies wirklich einmal mit allem Ernst, aller Aufrichtigkeit und aller Hingabe vor! Wären je Kriege geführt worden? Hätte die Menschheit jemals die Natur als Feindin betrachtet, die zu erobern und zu unterwerfen sei? Hätte sie je Gifte erfunden? Je den Machtimpuls verherrlicht? Je Kapitalismus und Konkurrenz als irgendwie im Einklang mit irgendeiner christlichen Idee behauptet?

Nein! Aber das Christentum begann erst im Mittelalter Maria nachträglich mit den Himmel zu rücken – gleichsam als Ersatz für die ungeheure ,Männlichlastigkeit’ und auch nur im Zuge des parallel aufkommenden Minnesangs, der so ungeheuer die Kostbarkeit des Weiblichen erkannte. Aber die Kirche, die Maria zu verehren begann, war sich nicht zu schade, auf der anderen Seite tausende und abertausende von Mädchen und Frauen als ,Hexen’ zu verfolgen und zu verbrennen. Wäre dies je möglich gewesen, wenn man sich das Gotteswesen als Mädchen vorgestellt hätte?

Als ein sanftes Mädchen, das nicht den ,richtigen’ Glauben geboten hätte, sondern das nur ein Gebot gekannt hätte: die Sanftheit selbst...

Der Advent – ein Mädchen

Fest steht eines. Wahre Verbindung mit der Sphäre des Göttlichen ist nur durch Hingabe möglich. Die ganze Seele muss sich Gedanken und Empfindungen hingeben (mit ihrem Willen), die nicht sie zum Mittelpunkt haben, sondern etwas anderes.

Wie sauer wird dies einer ,modernen’ Seele, die seit ihrer Geburt auf ,Selbstverwirklichung’ und ,Genussbefriedigung’ konditioniert wurde – durch Werbebotschaften, durch den ,Zeitgeist’, durch ,Peer Groups’, durch den schlichten Materialismus und Kapitalismus? Wie sehr ist der Film ,The Quiet Girl’ für unzählige Seelen ein Ärgernis, weil er daran erinnert, was man nicht wahrmacht, ja im Zuge der ,Emanzipation’ sogar endgültig abschaffen wollte?

Man sucht die Hingabe in lauter Ersatzformen wie Serienkonsum, sportlichem ,Auspowern’, Lärm, Alkohol ... in all diesen Varianten kommt man irgendwie ,von sich los’, aber davon abgesehen nimmt das Selbst-Bewusstsein immer mehr zu, will man von seinem Ego-Thron nicht ein Fitzelchen lassen – und wird so buchstäblich immer unfähiger zu jeglicher echter Religiosität. Denn wo soll es noch eine Beziehung zum Göttlichen geben, wenn man es nicht einmal mehr schafft, sich einer Blume wahrhaft hinzugeben? Wenn man gar nicht mehr weiß, was das ist?

Die ,moderne’ Seele versteht jede Hingabe heute irgendwie als ,Unterordnung’. Sie begreift nicht, dass diese Kategorien in der echten, gelingenden Hingabe einfach wegfallen – denn sie ist es, die an ihnen festhalten will: die Hingabe vermeiden, die Kontrolle behalten... Aber ,Sich-gehen-lassen’ bei einem Rockkonzert oder Konsum von Serien oder andere ,Lockerheiten’ und ,Lässigkeiten’ sind keine Hingabe, sind immer nur weiter ein Festhalten an dem, was nur in der echten Hingabe losgelassen würde, weil diese es nicht mehr braucht, da sie etwas unendlich Kostbares bekommt und ihr wahres Ich ja überhaupt niemals verliert...

So kann man sagen: der Advent ist gewissermaßen ein Mädchen. Und nur, wer innerlich ein Mädchen werden kann, kennt den Advent, die Adventstimmung. Und ich meine so ein Mädchen wie Cáit – das ernst macht mit dem Wesen der Unschuld. Nur wer in seiner Seele die Unschuld aufsucht, kann den Advent kennen. Und deshalb könnte man ein bekanntes Christuswort leicht abwandeln, um es geradezu erschütternd deutlich zu machen: ,Wenn ihr nicht werdet wie das Mädchen...’

,Siehe, innerer Mann...’

In Rilkes wunderbarem Gedicht ,Wendung’ ist von einem Mann die Rede, der es scheinbar schon weit gebracht hat, in einem innig-stillen Anschauen, heißt es von ihm doch:[o]

     Tiere traten getrost
     in den offenen Blick, weidende,
     und die gefangenen Löwen
     starrten hinein wie in unbegreifliche Freiheit;
     Vögel durchflogen ihn grad,
     den gemütigen, Blumen
     widerschauten in ihn
     groß wie Kinder.

Mit anderen Worten: Tiere fürchten sich nicht vor ihm, ein fast paradiesisches Bild. Gefangene Löwen sehen in ihm gleichsam die heilige Freiheit. Vögel durchfliegen ihn geradezu, Blumen bestaunen ihn wie Kinder...

,Und das Gerücht, daß ein Schauender sei’, heißt es weiter, ,rührte die minder / fraglicher Sichtbaren, / rührte die Frauen.’ Doch unmittelbar danach heißt es von ihm: ,Seit wie lange schon innig entbehrend, / flehend im Grunde des Blicks?’ Gewiesen wird hier auf eine grenzenlose Sehnsucht, und wieder erweist sich, dass nur inneres Leid und Entbehren die Seele grenzenlos zu vertiefen vermag. Erinnert nicht auch dies wunderbar an das Mädchen Cáit?

Und nun heißt es von ihm: ,Wenn er, ein Wartender, saß in der Fremde; des Gasthofs [...] da beriets in der Luft, unfaßbar beriet es / über sein fühlbares Herz [...] beriet es und richtete: / daß er der Liebe nicht habe. / (Und verwehrte ihm weitere Weihen.)’

Also dieser bereits so unendlich sanfte Mann, vor dem kein Tier mehr Angst hat, der scheinbar den Vögeln nicht einmal mehr Widerstand bietet – dieser Mann ... hat nach dem Urteil nicht näher genannter Wesen, die über sein Herz beraten und schließlich zu einem Schluss kommen, noch immer nicht der Liebe! Und nun heißt es:

     Denn des Anschauns, siehe, ist eine Grenze.
     Und die geschaute Welt
     will in der Liebe gedeihn.

Selbst das friedvollste Schauen ist noch nicht die wahre Liebe... Ihre Geburt braucht eine nochmalige zart-innige ,Umstülpung’. Was dieser Mann bisher an Friedenskräften errungen hat, muss sich noch ein weiteres Mal völlig läutern und dabei völlig verwandeln, um zur Liebe zu werden, oder, anders gesagt ... zu einem Mädchen...

     Werk des Gesichts ist getan,
     tue nun Herzwerk
     an den Bildern in dir, jenen gefangenen. Denn du
     überwältigtest sie; aber nun kennst du sie nicht.
     Siehe, innerer Mann, dein inneres Mädchen,
     dieses errungene aus
     tausend Naturen, dieses
     erst nur errungene, nie
     noch geliebte Geschöpf.

Das Mädchen Gottes

Rilke dichtete diese Verse im Juni 1914, keine sechs Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Mittlerweile haben wir einen Zweiten Weltkrieg hinter uns, und es herrscht Krieg sowohl in Europa als auch im heiligen Land (Israel/Palästina/Gaza), Bürgerkriege und Konflikte in fast ganz Afrika sowie an weiteren Orten der Erde [o].

Rilke schaute in seinem sehr besonderen Gedicht im Grunde in das Herz des Mysteriums. Und wir dürfen es unmittelbar auf den Prolog des Johannes-Evangeliums beziehen. Dort heißt es über das ,Licht der Welt’:

Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe gemacht; und die Welt erkannte es nicht. Es kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen es nicht auf. Wie viele es aber aufnahmen, denen gab es Macht, Gottes Kinder zu werden: [...] [...] aus Gott geboren [...]. (Johannes 1,10-13).

Ich habe hier ,ihn’, was sich auf den Logos, das Christuswesen, bezieht, durch ,es’ ersetzt, um ganz bei dem Licht- und Liebewesen zu bleiben. Die Frage ist also: Was sind ,Kinder Gottes’? Vielfach denkt man eben, Gott habe nur einen ,Sohn’ gehabt: jenes Kind, das zu Weihnachten geboren wird. Aber das Christuswesen der Liebe vereinte sich mit diesem Kind auch erst wirklich bei der Taufe am Jordan dreißig Jahre später. Dennoch verweist Weihnachten auf die Menschwerdung Gottes, jedes Jahr wieder – aber nicht im Sinne eines Erinnerungsfestes. Und so dichtete Angelius Silesius, der ,schlesische Engel’:[o]

     Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren
     und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.

Nicht zufällig wird auch in seinem Gedicht von der Stille gesprochen – und davon, dass das Herz zur Krippe werden müsse, damit auch in ihm die Geburt geschehen kann. Es ist das Geheimnis der Hingabe. Aber welche Geburt? Die des Gotteskindes. Es ist das wahre Wesen des Menschen. Die Vereinigung dieses wahren Wesens mit dem Wesen Gottes, dem Wesen der Liebe. Eine Vereinigung, die sich inkarniert, die Wirklichkeit wird im Leben des Menschen, der Seele. Gotteskinder sind jene, die aufhören, ,aus dem Fleisch’ zu leben, also der Selbstbezüglichkeit, der Genuss- und Zerstreuungssucht, und, und, und... Sie sind aus Gott (neu) geboren, also aus dem Wesen der Liebe.

Rilke hat diese heilige Läuterung bis hin zum Reinsten beschrieben. Und für ihn war das, was da geboren wird, innig eins mit der Gestalt des Mädchens. Heilige Kraft friedvollster Sanftheit, die sich vereinigt mit der innig-zarten Kraft wirklicher Liebe...

Siehe, innerer Mann, dein inneres Mädchen... Das wahre Kind Gottes...

Die Erlöserin

In unserer Kultur lagern sich gleichsam ganze Berge vor und über diese Wahrheiten. Einerseits kennt jeder das Christus-Wort: ,Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder...’ – aber selbst Menschen, die sich als Christen verstehen, nehmen das im Grunde nicht einmal ansatzweise ernst.

Das Gleiche betrifft die Gestalt des Mädchens. Möge das hier Ausgeführte auch eine eindrückliche Evidenz entfalten – es bestehen noch immer berghohe Hindernisse, es irgendwie ernst zu nehmen, weil einen die Denk- und Fühl-Gewohnheiten einen sofort wieder überwältigen. Und auch dies hängt damit zusammen, dass die Gestalt des Mädchens in der heutigen Kultur keinerlei Bedeutung hat. Abgesehen davon, dass es vor Missbrauch geschützt werden muss, ist es so belanglos wie jedes andere minder-jährige Wesen. Und diese Tatsache äußert sich schon in dem Begriff ,minder-jährig’, die etwa so wirksam ist wie der männliche Begriff ,Gott’.

Man kann also noch so oft sagen ,Wenn ihr nicht werdet wie das Mädchen...’ – das innere Organ oder gar die Bereitschaft, diese Worte auch nur zu verstehen, sind ja überhaupt nicht wirklich entwickelt. Im Gegenteil, man entwickelt gerade die zunehmende Unfähigkeit, diese Worte noch verstehen zu können. Sogar die Mädchen selbst verlieren heute jedes Verständnis und jede Bereitschaft, weil sie ihr Wesen im Einklang mit der höchst männlichen Norm willig über Bord werfen. Selbst wenn man heute nicht mehr an ,Gott’ glaubt, herrscht der ,männliche’ Logos – oder vielmehr das, was den Mann zuerst unterworfen hat: der Geist der Coolness, der Lässigkeit, der Selbstbezüglichkeit, der Anspruchshaltungen in all ihren Verzweigungen...

Um demgegenüber das ,Adventliche’ ernst nehmen zu können, braucht es immer mehr einen ganz unvorstellbaren inneren Weg und einen ungeheuren Ernst, diesen auch zu gehen.

Dies beginnt wie gesagt schon damit, selbst als christlich-religiös sich verstehende Seele sich von sämtlichen Vorstellungen zu lösen, die auch nur ansatzweise noch etwas ,Männliches’ transportieren. In meinem Roman ,Die Erlöserin’ habe ich einen solchen Weg beschrieben. Dort ist es ein Mädchen, das den sich in sie verliebenden Mann das erste Mal damit konfrontiert, dass seine Gottesvorstellung, obwohl bereits geistig-spirituell, noch immer viel zu männlich konnotiert ist.

Andere Romane führen dies weiter. ,Christi Schwester’ etwa stellt dem Evangelium des ,Gottessohnes’ ein solches eines göttlichen Mädchens an die Seite. Bücher wie ,Mädchenland’ machen völlig offensichtlich, wie nicht ein einziger Stein unserer gegenwärtigen Strukturen auf dem anderen bleiben würde, wenn sich das Denken von einem männlich-unmenschlichen Kapitalismus hin zu dem wahren Wesen des Mädchens orientieren würde...

Die Verkündigung

Aber um all dies zu einer Realität zu machen, zunächst zu einer inneren – wie dies in Rilkes Gedicht ausgesprochen wird –, muss die Seele ernsthaft lange Wege gehen. Es geht um weite Wanderungen, um hohe Berge, die nicht nur bestiegen, sondern buchstäblich abgetragen werden müssen.

In sehr vielen Büchern habe ich immer wieder anders versucht, diese Wege gleichsam zu eröffnen – etwa in ,Und erlöse uns von dem Coolen’, ,Bewusstsein der Unschuld’, ,Der Weg des Mädchens’, ,Vom Blick des Mädchens’, ,Das Jahr des Mädchens’, ,Die Seele der Zukunft’, und auch dies sind nur Beispiele.

Dass diese Bücher nahezu nicht gelesen werden, ist nur ein weiteres Symptom unserer Zeit. Es zeigt vor allem, wie extrem das Wesen des Mädchens nicht ernst genommen wird. Weil man es nicht nötig zu haben meint. Weil das Mädchen bedeutungslos zu sein scheint. Weil man es ,überspringen’ zu können meint – man finde die Läuterung und Verwandlung ,auch so’. Dazu brauche man nicht das Mädchen, dass ja per Definition (minder-jährig) noch überhaupt nicht ernst zu nehmen ist. Und so dreht man sich ewig im Kreis und muss auch die Worte des Christuswesens nie ernst nehmen. Wozu auch – sind wir nicht heute schrecklich modern und darüber hinaus?

In einer Zeit wie der heutigen würde wohl der Engel nicht ein Mädchen mehr finden, das ihm erwidern würde: ,Mir geschehe, wie du gesagt hast...’. Cáit könnte noch so sprechen, denn es ist ihre ganze innere stille, scheue Haltung. Aber selbst sie ist nur eine Gestalt aus einem Film. Aber im Sinne des hier Entfalteten ginge es darum, dass erwachsene Menschen diese heilige Seelenverwandlung wieder durchmachen, die Cáit offenbart.

Jahrhundertelang imaginierten männliche Maler die Engel als ,männlich’. Was wäre, wenn man das zutiefst sanfte Wesen eines Engels wie ein Mädchen erlebt – und dieses Wesen einer männlichen Seele verkünden würde:

Fürchte dich nicht, Mann! Du hast dich von der Gnade des höchsten Liebewesens finden lassen. Siehe, du wirst schwanger werden und ein Mädchen gebären. Und das Heilige, was in dir geboren werden wird, wird Gotteskind genannt werden...

Und wenn die männliche Seele nach diesem zutiefst realen Erlebnis in tiefer Hingabe erwidern würde: ,Mein ganzes Wesen dient den Kräften, deren Botin Du bist. Mir geschehe, wie Du gesagt hast...’

Bevor wir das Geheimnis der Hingabe nicht in die Tiefen unseres Wesens aufnehmen, brauchen wir von Advent nicht zu sprechen. Aber auch nicht von Frieden und Liebe. Denn sie werden nicht kommen. Erst brauchen wir den Advent.