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Der Drache mit dem Kaffeekrug

von Manfred Kyber, aus: Das Manfred Kyber Buch. Rowohlt, 1979. Siehe auch www.manfredkyber.de.


In einem großen, tiefen Walde lebte einmal ein schrecklicher Drache, der spuckte Gift und pustete Feuer aus seinen Nasen­löchern und verspeiste Menschen und Tiere, so daß es wirk­lich sehr bedauerlich war. Drachen sind ja meist sehr un­freundliche Leute, die Gift spucken und Feuer pusten und Menschen und Tiere verspeisen, und so ist es kein Wunder, daß es auch dieser Drache tat, denn er hatte eben keine andere Erziehung als eine Drachenerziehung genossen, und das ist nicht ausreichend für eine anständige Lebensführung. Es war gar nicht nett, wie er so dasaß und alles auffraß mit Haut und Haaren, was ihm nur in den Weg kam. Nur die Knochen spuckte er wieder aus und ließ sie noch dazu überall unordent­lich umherliegen. Es sah scheußlich aus, und alle waren sehr unzufrieden mit ihm. 

Eines Tages war ein kleines Mädchen in den großen, tiefen Wald gegangen, um Beeren zu suchen, und die schönen Bee­ren hatten es immer weiter in den Wald hineingelockt, so daß es Abend wurde, als sich das kleine Mädchen darauf besann, heimzukehren. Die Dämmerung spann ihre seltsamen Schat­ten um die Kronen der Tannen, und aus der Ferne sang die Glocke der Dorfkirche das Ave-Maria. Da erschrak das kleine Mädchen und beschloß, eilig heimzugehen. Aber es hatte so viele Umwege gemacht und sich so weit von der sicheren Straße entfernt, daß ihm nur ein einziger gerader Weg übrig­blieb, den es gehen mußte, wenn es vor Einbruch der Nacht noch zu Hause sein wollte. Doch an diesem Wege lauerte der Drache, und das kleine Mädchen wußte das, und es wußte auch, daß Menschen und Tiere diesen Weg vermieden, wenn sie nur irgend konnten. Im Walde allein zu nächtigen, war ihm aber zu grauenvoll, und es fürchtete auch, daß die Eltern sich sorgen würden, und so beschloß es, den Weg zu gehen, an dem der Drache lauerte, und es bat seinen Schutzengel, es zu behüten und gut nach Hause zu geleiten.

Kaum aber hatte das kleine Mädchen diesen Gedanken ge­habt, so stand sein Schutzengel neben ihm.
„Guten Abend“, sagte er, „das ist der Weg, an dem der Drache lauert.“
„Das weiß ich“, sagte das kleine Mädchen, „ich weiß auch, daß er sehr unfreundlich ist und Menschen und Tiere verspeist und daß er Gift spuckt und Feuer pustet. Das ist nicht schön, aber ich muß den Weg gehen, sonst komme ich zu spät nach Hause. Ich habe mir auch gedacht, daß du mich schon behüten wirst.­“
„Das werde ich gewiß tun“, sagte der Engel, „ich werde gut aufpassen, und der Drache wird dich nicht fressen können. Aber sehen wirst du ihn auf diesem Wege, und er wird dich erschrecken. Darum wäre es mir lieber, wenn du einen an­deren Weg gehen würdest.“

„Ich möchte aber gerne vor der Nacht zu Hause sein, und wenn du mich behütest, wird es schon gehen“, sagte das kleine Mädchen, „vielleicht ist der Drache auch gerade spazieren­gegangen, und ich sehe ihn gar nicht.“
„Das sagen viele, wenn sie einen Drachenweg gehn“, meinte der Engel, aber der Drache ist nicht spazieren­ge­gan­gen, er sitzt, wo er immer sitzt, und du wirst ihn sehen müssen.
­„Das ist sehr schauerlich“, sagte das kleine Mädchen, „was soll ich da bloß machen?­“
„Du mußt an deinen Engel denken und darfst keine Angst haben“, sagte der Engel, „siehst du, mein Kind, mit den Drachen ist es so, daß man keine Angst vor ihnen haben darf, und wenn man keine Angst hat, dann werden sie ganz klein, und es nützt ihnen auch gar nichts, daß sie Gift spucken und Feuer pusten.“
„Das will ich versuchen, ich werde an dich denken und will keine Angst haben“, sagte das kleine Mädchen und wanderte tapfer mit seinem Korbe den Weg ins Tannendunkel hin­ein.

Der Engel verschwand vor den Augen des kleinen Mädchens. Aber in Wirklichkeit blieb er da, er ging nur hinter dem klei­nen Mädchen den gleichen Weg, denn es war ja sein Schutz­engel. 

Es dauerte gar nicht lange, so hörte das kleine Mädchen in einer sehr lauten und unmanierlichen Weise husten und niesen. Das war der Drache, der Gift spuckte und Feuer pustete, und als das kleine Mädchen um eine dunkle Felsen­ecke bog, sah es den Drachen mit einem Male leibhaftig vor sich sitzen. Der Drache sah wirklich gräßlich aus, mit seinem riesigen langen Leib lag er auf dem Boden und schlug die Erde mit dem grünlichen Schuppenschwanz. An seinen kurzen, krummen Tatzen waren schreckliche Krallen, und spitze Dor­nen an seinen gezackten Flügeln, er spuckte Gift aus seinem Rachen und pustete Feuer aus seinen Nasenlöchern, und um ihn herum lagen lauter Knochen. Es war wirklich scheußlich. Das kleine Mädchen erschrak sehr, aber es dachte an seinen Schutzengel und versuchte keine Angst zu haben, obwohl ihm das nicht so gut gelingen wollte.

„Es ist nicht schön, wie du dich benimmst“, sagte das kleine Mädchen, „laß mich vorübergehen.“
„Das werde ich nicht tun“, sagte der Drache und legte sich gerade vor den Weg, den das kleine Mädchen gehen mußte. Ich will ein bißchen mit ihm reden, dachte das kleine Mäd­chen, vielleicht wird er dann netter und läßt mich vorbei. Er darf mir ja auch nichts tun, weil es mein Engel gesagt hat. „Sage mal, warum ißt du Menschen und Tiere?“ fragte das kleine Mädchen. „Ist das denn schön, wenn alle dich fürchten? Ich möchte nicht so leben. Kannst du nicht Kartoffelsuppe essen? Du brauchst den Kochtopf doch bloß auf deine Nasen­löcher zu stellen, und in einer halben Stunde ist die Suppe gar. Du hast nicht einmal die Mühe, die wir damit haben.“
„Kartoffelsuppe?“ fragte der Drache und lächelte dabei in einer greulichen Weise, so daß er all seine spitzen Zähne zeigte, von denen einer genügt hätte, das kleine Mädchen zu zerreißen. Kartoffelsuppe hatte ihm noch niemals jemand angeboten.
„Ja, Kartoffelsuppe“, sagte das kleine Mädchen, „Kartoffel­suppe ist etwas sehr Schönes. Es ist sehr dumm von dir, wenn du das nicht magst. Du kannst auch Kaffee trinken und Zwie­back dazu essen. Ich will dir von meinem Kaffee und meinem Zwieback geben. Ich habe noch Kaffee in meinem Krug und Zwieback in meinem Korbe. Ich stelle dir beides hin, und du darfst essen. Aber du mußt mich vorüberlassen.“

„Ich werde dich auffressen“, sagte der Drache.
„Untersteh dich“, sagte das kleine Mädchen, „das darfst du gar nicht tun, das wird dir mein Engel niemals erlauben.“
„Ich werde deinen Engel nicht fragen“, meinte der Drache. Am Ende fragt er wirklich nicht, dachte das kleine Mädchen und bekam nun doch große Angst.
„Sieh, wie ich mit den Flügeln schlage“, rief der Drache, „ich packe dich und zerreiße dich in der Luft.“
„Du kannst ja gar nicht richtig fliegen“, sagte das kleine Mäd­chen, „um richtig in die Sonne fliegen zu können, muß man ein Vogel sein oder ein Engel mit silbernen Schwingen. Deine Flügel sind viel zu kurz, um in die Sonne zu fliegen, die sind bloß so da und nicht einmal schön.“ 

Das Herz schlug dem kleinen Mädchen wie ein Hammer in der Brust, aber es wollte nicht zeigen, daß es Angst hatte, denn das hatte der Engel ihm so gesagt.
„Sieh, wie ich mit den Tatzen den Boden stampfe“, sagte der Drache, „ich mache nur einen einzigen Satz, und du bist in meinen Krallen.“ 

Da preßte das kleine Mädchen beide Hände aufs Herz und rief nach seinem Schutzengel. Kaum aber hatte es das getan, als es den ganzen Wald voller Licht sah. Und vor ihm stand sein Schutzengel, und um den Schutzengel herum standen lauter andere Engel mit Schwertern aus blauen Flammen in den Händen, und damit versperrten sie dem Drachen den Weg. Da war die ganze Angst des kleinen Mädchens ver­flogen, und der große Drache kam ihm mit einem Male sehr klein und sehr lächerlich vor, so ungefähr wie ein Dackel.

„Ach, du mit deinen Dackelbeinen“, rief es, „du bist ja zu dumm! Siehst du denn nicht, daß lauter Engel um mich herumstehen und dir den Weg versperren? Wie willst du denn da herankriechen, um mir etwas zu tun? Trinke lieber Kaffee und iß Zwieback.“
Als das kleine Mädchen das gesagt hatte, verschwanden die Engel, und das Licht im Walde erlosch wieder. Der Drache aber war ganz klein geworden. Er hatte sich an den Krug des kleinen Mädchens gesetzt und trank daraus und stippte Zwie­back in den Kaffee. Er sah jetzt auch wirklich beinahe aus wie ein Dackel, und das kleine Mädchen mußte lachen.
„Schmeckt es dir?“ fragte das kleine Mädchen, „der Kaffee ist leider kalt geworden, aber du brauchst ja bloß einmal aus deiner Nase ein bißchen Feuer hineinzupusten, dann wird er wieder warm.“
Das tat der Drache, und als er fertig war, nahm das kleine Mädchen seinen Krug und seinen Korb wieder auf, sagte dem Drachen guten Abend und ging nach Hause. 

Die Glocke der kleinen Dorfkirche sang noch immer das Ave-­Maria, denn es war nur eine ganz kleine Weile gewesen, daß das kleine Mädchen mit dem Drachen geredet hatte. Und das ist immer so bei allen Erlebnissen, die zwischen dieser und jener Welt liegen. Menschen und Tiere im Walde aber waren von nun an von diesem Drachen errettet, denn er blieb klein wie ein Dackel und aß nur noch Kartoffelsuppe.

Es gibt so manche Wege im Leben, die an einem Drachen vor­beiführen, und sehr oft sind es die Wege, die am allergerade­sten nach Hause führen. Das kleine Mädchen aber hatte nun keine Angst mehr davor, und es erzählte diese Geschichte überall.
„Wenn man einem Drachen begegnet“, sagte es, „dann muß man an seinen Engel denken und darf keine Angst haben. Dann wird der Drache auf einmal ganz klein. Er setzt sich sanft und sittsam auf seine Dackelbeine und stippt Zwieback in den Kaffee.“
Und das, was das kleine Mädchen sagte - das ist wahr.