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10.02.2002

Zur Problematik der Stammzellforschung

Für ein Urteil über die Stammzellforschung entscheidend ist die Beantwortung der Frage: Was ist der Mensch? Hier gibt es mindestens drei Standpunkte: Den materialistischen, den soziologischen und den „geistigen“ im weitesten Sinne.

>> Zusammenfassung, erschienen als Leserbrief in der jungen Welt vom 16.2.2001.


Der materialistische Standpunkt sieht den Menschen als biologisches Wesen und kann überhaupt eine Ethik nur dann begründen, wenn er sich selbst untreu wird und – ob er das zugibt oder nicht – über den Materialismus hinausgeht.

Mit dem „soziologischen Standpunkt“ bezeichne ich hier die Anschauung, daß der Mensch nur unter Menschen zum Menschen wird. Das ist zwar eine richtige Beobachtung, beantwortet aber nicht die Frage. Diese Anschauung ist nur halb auf dem Wege, über den Materialismus hinauszugehen und gerät auf der anderen Seite schon wieder in die Gefahr, den Menschen zum reinen Produkt seiner Umwelt zu erklären.

Menschliche Gesellschaft „macht“ einen Menschen aber nicht in äußerlicher Einwirkung zum Menschen, sondern sie ermöglicht es, daß sein in ihm veranlagtes Menschentum erscheinen kann. Damit ein Mensch menschlich wird, ist die menschliche Gesellschaft nur die notwendige Bedingung. Die eigentliche Ursache für diese Entwicklung liegt in jedem Menschen selbst – in seiner von Anfang an vorhandenen Veranlagung zum Menschsein. In diesen Tatsachen liegt das Geheimnis, warum der Mensch absolutes Individuum und zugleich soziales Wesen ist. Wäre nicht in jedem Menschen das Menschentum veranlagt - eine Ansammlung von Menschen würde nie mehr als eine Horde sein.

Erst wenn man dieses innere Wesen des Menschen in den Blick bekommt, öffnet sich der Weg zur dritten Antwort, die ich den „geistigen“ Standpunkt genannt habe. Wenn man alle Phänomene, die man mit dem Begriff menschlich in seiner eigentlich-ethischen Bedeutung verbindet, auf sich wirken läßt, kann einem immer klarer werden, daß der Mensch mit allen äußerlichen, materialistischen, soziologischen oder sonstigen Ansätzen nicht zu beschreiben und zu begreifen ist. Man kann zunächst nur feststellen, daß es so etwas wie Menschlichkeit gibt – zum einen als von unzähligen Menschen gedachtes Ideal, zum anderen in zahllosen Menschen bruchstückhaft real oder manchmal auch leuchtend hervortretend. Auf das eigentliche Geheimnis des Menschen deutet der Begriff der Würde, der Menschenwürde. Egal wie ein Mensch sich darlebt, die Würde, die jedem einzelnen Mensch innewohnt, kann ihm von außen nie genommen werden.

Wenn man sich in die Frage nach dem Wesen des Menschen in dieser Weise vertieft, kann man zu dem Gedanken kommen, daß das Wesen jedes einzelnen Menschen nichts mit seiner physischen Leiblichkeit zu tun hat und daß es ewig ist.

Diese Anschauung kann sich verbinden mit dem Gedanken der Reinkarnation, der keineswegs die „Wiederkehr des Gleichen“ beinhaltet. Ich übergehe hier die im traditionellen Christentum verbreitete Vorstellung, daß die „Seele“ eines Menschen im Augenblick der Zeugung von Gott geschaffen werde, weil meiner Ansicht nach diese Vorstellung höchstens aus einem naiven Verständnis der Bibel entspringen kann und für jedes tiefere Fragen nicht befriedigend sein kann.

Wenn man davon ausgeht, daß der Mensch ewig ist, daß er schon vor der Geburt existiert und sich, aus der „geistigen Welt“ kommend, mit dem physischen Keim vereinigt – was ergeben sich daraus für Grundlagen in bezug auf die Frage nach der Stammzellforschung?

Zunächst einmal die Feststellung, daß der Mensch nicht identisch mit seiner physischen Leiblichkeit ist. Dann aber auch die Anschauung, daß eine bestimmte Individualität eine Beziehung mit dem physischen Keim eingeht und sich schließlich in diesem inkarniert (im ganz frühen Stadium des Keimes können sich noch eineiige Zwillinge entwickeln, was darauf hindeuten würde, daß die Verbindung zwischen Individualität und Keim in diesem Stadium noch nicht fest und eindeutig sein muß). Wenn Embryonen abgetrieben oder durch Forschung getötet werden, wird also die Inkarnation einer Individualität verhindert. Welche moralische Schuld man dadurch auf sich lädt, ist völlig unabsehbar. Vielleicht hätte gerade ein Mensch, der sich auf diese Weise (und dann möglicherweise auf längere Zeit) nicht inkarnieren kann, für die Menschheit mehr zum Wohle wirken können als alle Stammzellforschung der nächsten Jahre es vermag. Und was bedeutet diese Erkenntnis erst, wenn man sich klarmacht, daß hinter jeder einzelnen befruchteten Eizelle eine Individualität steht, die sich inkarnieren wollte und daran gehindert wurde!

Wenn man befruchtete Eizellen bzw. Embryonen nur als biologisches Material ansieht, das anderen Menschen „helfen“ kann, hat man natürlich keine ethischen Probleme bei der Frage, was zu tun ist. Anders ist die Lage, wenn man davon ausgeht, daß hinter jedem Embryo, aus dem Stammzellen gewonnen werden, von Anfang an eine Individualität steht – kein biologisch-heranwachsendes Wesen, sondern ein Mensch. Ein Mensch, der auf Erden leben und wirken wollte und durch die Zerteilung und Tötung seiner Leiblichkeit wieder in die geistige Welt zurückkehren muß. Was dies für Erlebnisse bedeuten mag, ist kaum zu beurteilen.

Für das ganze ethische Problem ist schlichtweg die Frage entscheidend: Woher hat irgendjemand das Recht, über einen anderen Menschen zu verfügen?

In dem hier betrachteten Fall ist der andere Mensch eine Individualität, die erst in die physische Welt kommen möchte. So wie Kinder uns lange Zeit ausgeliefert sind, so ist die Individualität, die sich hier inkarnieren möchte, absolut schutzlos gegenüber allen Interessen, die ihre sich entwickelnde Leiblichkeit etwa zu Forschungszwecken „verwerten“. Genauso schutzlos ist ja jede Kreatur, wenn man einmal auf die Tierversuche sieht. Wenn man den Menschen als ewiges Wesen ansehen kann, ist die „Tötung von Leben“ zwar nicht unwiderruflich, aber für den jeweils angetretenen Prozeß der Inkarnation gilt dies sehr wohl, und die Folgen sind wie gesagt unabsehbar. Es dürfte klar sein, daß auch im Falle einer Abtreibung schwere moralische Schuld entsteht. Nur sollte man sich die Antwort nicht zu einfach machen, wer hier schuldig wird. Ein Mädchen oder eine Frau, die die Schwangerschaft verhindern hätte können, trägt sehr wohl die Verantwortung für ihren Abbruch. Es sollte auch nie jemand behaupten, daß eine solche Entscheidung leichtfertig getroffen und zu tragen wäre. In den meisten Fällen zieht die Verantwortung aber weit größere Kreise. Man muß letztlich sagen, daß die ganze Gesellschaft verantwortlich ist, wenn eine Frau keine Möglichkeit sieht, ein Kind auszutragen. Dieser Gedanke mag befremden, da in unserer Kultur und Zeit die Meinung herrscht, jeder sei für sich selbst allein verantwortlich. Dies entspricht aber nicht der Realität, und daher sage ich es noch einmal: Wenn ein einzelner Mensch Schuld auf sich laden muß, wird die ganze Menschheit an ihm schuldig. Auch dieser Gedanke entspringt einer geistigen Anschauung des Menschen, und es wird wohl noch lange Zeit dauern, bis seine Wahrheit allgemein erkannt sein wird.

Hier geht es aber nicht um die schweren Schicksalsfragen, die mit der Frage der Abtreibung verbunden sind, sondern um die Frage der Stammzellforschung. Wer mit Embryonen forscht, der ist zu fragen, ab wann er einen Menschen (oder „etwas“?) als Menschen ansieht. Etwa ganz plötzlich dann, wenn man nach wenigen Wochen den Kopf und die Arme des werdenden Menschenleibes erkennen kann? Sollte dies das Kriterium für „Mensch“ sein: dass ich die typische Leibesform endlich erkennen kann? Natürlich spielt dieses Urteil immer halbbewußt eine gewichtige Rolle, wobei dem auch unsere starke Betonung des Sehsinns zugrunde liegt. Aber bewußt muß man sich sagen können, daß dies eben kein Kriterium sein kann. Vielleicht gilt uns eine Rose auch nicht als Rose, solange sie nicht blüht. Ich kann aber die ganze Zeit sicher sein, daß sie zu bestimmter Zeit als Rose blühen wird, und selbst ein Kind kann schon wissen, was aus einer Hagebutte entstehen muß, wenn man sie keimen und wachsen läßt. Wenn ich in dem Samen nicht schon die Rose erkennen kann, liegt dem nur meine eigene Beschränktheit zugrunde. Natürlich hat für mich eine blühende Rose mehr Wert als ein Hagebuttenkern. Aber jetzt müssen wir wieder von Menschen reden. Es macht nichts, wenn ich mir aus einigen Hagebutten einen Tee koche, weil es unendlich viele Hagebutten auf der Welt gibt, aus all denen wieder eine Rose werden kann. Kann ich das von menschlichen Embryos sagen? Nicht einmal ganz ehrlich dann, wenn ich nur Materialist wäre. Es sei denn, ich wäre zusätzlich völlig blind gegenüber der Tatsache, daß jeder Mensch ein Individuum ist. Ein Individuum, das nicht zufällig von jedem anderen Menschen unterschieden ist, sondern das seinem Wesen nach einmalig in der ganzen Welt ist.

Immer, wenn an einem Embryo geforscht wird, verfügt man über eine reale Individualität, die einmalig ist und genauso viel Würde hat (bei Menschen kann man von Wert einfach nicht sprechen) wie jeder andere Mensch, sei er zur Zeit auf Erden schon verkörpert oder nicht. Wenn daher darauf hingewiesen wird, daß mit Hilfe der Stammzellforschung vielleicht Leiden anderer Menschen gelindert werden könnten, so ist dies – aus Sicht der hier dargestellten Anschauung – eine unendliche und unerträgliche Anmaßung. Wenn man mit vollem Ernst die gegenwärtige Diskussion mitverfolgt, kann man nur wenige Worte finden, die dafür wirklich angemessen sind. Ein Wort aber kann einem in den Sinn kommen: ...denn sie wissen nicht, was sie tun.

Zusammenfassung

Veröffentlicht als Leserbrief in der jungen Welt vom 16.2.2001.


Wenn man alles, was man mit dem eigentlichen Begriff „menschlich“ verbindet, auf sich wirken läßt, kann einem immer klarer werden, daß der Mensch mit allen äußerlichen Ansätzen nicht zu begreifen ist. Man kann zu dem Gedanken kommen, daß das Wesen jedes Menschen ewig ist, schon vor der Geburt existierend, und sich, aus der „geistigen Welt“ kommend, mit dem physischen Keim vereinigt. Welche Schuld man auf sich lädt, wenn man eine Inkarnation verhindert, ist völlig unabsehbar. Außerdem hätte vielleicht nur ein Mensch, der sich nicht inkarnieren kann, mehr zum Wohle der Menschen tun können als alle Stammzellforschung es vermag.

Ab wann darf ein Menschen als solcher gelten? Selbst ein Kind weiß, was aus einer Hagebutte entstehen muß, wenn man sie wachsen läßt. Es macht zwar nichts, wenn ich aus einigen Hagebutten Tee koche, weil unendlich viele bleiben, aus denen eine Rose werden kann. Um dies aber von Embryonen zu sagen, müßte ich völlig blind sein gegenüber der Tatsache, daß jeder Mensch ein Individuum ist. Der Forscher maßt sich an, über eine reale Individualität zu verfügen, die einmalig ist und genauso viel Würde hat wie jeder andere Mensch, sei er schon auf Erden verkörpert oder nicht. Wenn man mit vollem Ernst die gegenwärtige Diskussion mitverfolgt, kann einem nur in den Sinn kommen: ...denn sie wissen nicht, was sie tun.