Startseite  >  Aufsätze und mehr  >  2002-12-21_Idee Politik
21.12.2002

Der Idee der Politik zur Verwirklichung helfen

Über den Mut, um die Realisierung menschlicher Ideale zu kämpfen


Es gibt heute zwei sehr konträre Auffassungen, die oft sogar gleichzeitig in demselben Menschen leben können. Die eine ist die, daß Politik zunehmend versagt – und als Instrument prinzipiell versagen muß – angesichts der „Globalisierung“. Die andere Auffassung wirft der Politik vor, immer weniger die Interessen der Menschen zu beachten und sich macht­gierig gewissen Einflüssen zu beugen. 

Wer nicht von anonym waltenden „Sachzwängen“ überzeugt ist, kann erkennen, daß gegenwärtig sehr wohl machtvolle Tendenzen wirken, es aber gleichwohl der Politik anlasten, daß sie sich diesen nicht widersetzt. Daraus kann aber eben sehr schnell die Überzeugung werden, daß die Politik prinzipiell nichts ausrichten kann, zumal wenn man das alltägliche reale Schauspiel auf sich wirken läßt. Gerade vor diesem Hintergrund ist insbesondere bei vielen Anthroposophen eine prinzipielle Abneigung gegen die Politik zu beobachten.

Zum einen steht dahinter das Empfinden, daß die gegenwärtige Politik sich so sehr vom Ideal, oder sagen wir von der eigentlichen Idee, entfernt hat, daß sie ihr im Grunde diametral entgegensteht. Dazu kommt das Wissen darum, daß die gegenwärtigen Verhältnisse weit von der notwendigen sozialen Dreigliederung entfernt sind, was sich mit jenem zuerst genannten Empfinden oft zu der Überzeugung verbindet, daß Politik in der heutigen Form der repräsentativen Demokratie generell nicht mehr zeitgemäß sei. (Was die Alternative wäre, ist zumeist wenig klar). – Zum anderen aber wirkt unabhängig von der realen Politik in den Menschen eine Tendenz, die Steiner folgendermaßen beschreibt:

Ein großer Teil der Menschheit entwickelt zunehmend gewisse spirituelle Anlagen, was aber dazu führt, daß er sich wenig geneigt zeigt, die Angelegenheiten des physischen Planes stark ins Auge zu fassen. Und dann folgt der Satz: Dadurch werden andere, die gerade weniger für dieses spirituelle Leben geeignet sind, gewisse Machtverhältnisse an sich reißen können. (GA178, 6.11.17).


Die darin liegende Tendenz verstärkt sich selbst: Je mehr die Politik zum Doppelgänger ihrer Idee wird, desto mehr wenden sich tiefer empfindende Menschen von ihr ab. Nun wirken zwar anthroposophische Initiativen in verschiedenen Lebensgebieten ganz konkret auf dem physischen Plan, doch Steiner betont eben an jener Stelle, daß es auch um die Frage geht, ob gewisse Menschen gewisse Machtverhältnisse an sich reißen können.

Die Partei als Sekte

Man frage sich einmal unbefangen, was die eigentliche Bedeutung des Begriffes Politik sei. Ich kom­me dazu, unter Politik jegliches Handeln zu verstehen, das in größerem Rahmen gesellschaftliche Verhältnisse gestalten will. – Zumeist handelt es sich um Lobby-Politik, also Politik, die bestimmte Interessen verfolgt. Das können die der eigenen Gruppe sein oder aber die einer anderen, benachteiligten Gruppe, zu deren Fürsprecher man sich macht. Es kann ein egoistisches Interesse sein, für die eigene Klientel möglichst viel zu erreichen. Oder es kann das Interesse sein, in einer bestimmten Frage die Verhältnisse in möglichster Objektivität gerecht zu gestalten. Es zeigt sich hier die grundsätzliche Polarität zwischen egoistischen Sonderinteressen und dem Streben nach Gerechtigkeit - welche Idee und konkrete Vorstellungen auch immer man damit zunächst verbindet. Während dieses Streben nach Gerechtigkeit naturgemäß immer das Ganze im Blick haben muß - die ganze Gesellschaft, die eine Menschheit, die Eine Welt -, ist der Einzel- oder Gruppenego­is­mus naturgemäß - und teilweise ganz bewußt - blind für dieses Ganze. Er muß sich daher die Bezeichnung „Sekte“ gefallen lassen, denn lateinisch „sectus“ bedeutet „geschnitten“, abgeschnitten vom Ganzen.

Das Gleiche gilt nun für die Parteien, insofern sie Sonderinteressen vertreten, denn „pars“ bedeutet „Teil“. Die heutigen Parteien haben sich mehr oder weniger darauf eingelassen, nur einen Teil der Gesellschaft zu repräsentieren. Dieses Verhalten führt, einmal begonnen, zwangsläufig in die Polarisierung: Man muß sich weiter abgrenzen, auf Stimmenfang gehen, die Vorschläge „der anderen“ aus Prinzip ablehnen und schlechtmachen und so weiter. Es geht nicht mehr um das Ganze, Partei wird zum Selbstzweck, begünstigt durch das Machtstreben oder auch nur den beruflichen Selbsterhaltungstrieb der realen Menschen.

In diesem Mechanismus haben selbstlose, auf die Ganzheit blickende und auf Gerechtigkeit zielende Ansätze wenig Chancen. Dazu kommt, daß selbst ehemals durchaus in diese Richtung handelnde Parteien sofort kompromittiert werden, wenn sie als kleinerer Partner in die Regierung eingebunden werden. Sie werden kompromittiert durch die Notwendigkeit von Kompromissen, d.h. aber: durch Verleugnung von Idealen. Hat man sich aber einmal von Idealen verabschiedet, können die Versuchungen der Macht voll durchschlagen. – Das alles aber heißt nicht, daß Politik prinzipiell egoistisch, klientelbewußt und machtgierig wäre. Nicht einmal die heutige Regierungspolitik ist es ausschließlich. Entscheidend ist, daß sich regierende Parteien den scheinbaren „Sachzwängen“ der Markt­logik beugen. Der Kapitalismus wird zum Naturgesetz, die Ideale werden zu Illusionen.

Das einzige, was fehlt, ist Mut. Mut zu Gerechtigkeit, Mut, die eigenen Ideale auch gegen die vermeintlich unvermeidbar wirkenden „Marktmechanismen“ zu vertreten. – Die Menschen können ihre Verhältnisse selbst gestalten. Dann bestimmt nicht das Sein das Bewußtsein, sondern das Sein wird bestimmt durch die Bedürfnisse und selbst gesetzten Ziele der Menschen. Das ist das Selbstverständlichste, was es gibt. Es sind nämlich stets und immer Menschen, die die Verhältnisse gestalten – nur meistens leider einige wenige, und diese nur in ihrem Interesse auf Kosten aller anderen.

Mut wird zum trojanischen Pferd

Nun ist es so, daß die Gestaltung der Verhältnisse tatsächlich ganz wesentlich durch die Politik erfolgt. Ob es etwa um die Erhöhung oder die Senkung der Sozialhilfe geht, um die Einführung oder Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen, oder um noch weitergehende Rahmenbedingungen, immer sind es Parteien, die handeln oder auch nicht handeln, in jedem Fall aber dadurch die Verhältnisse gestalten. Der letztliche Akteur in allen gesamtgesellschaftlichen Fragen ist immer die Regierung. Gerade darum gibt es für eine gesamtgesellschaftliche Veränderung der Verhältnisse nur den politischen Weg.

Natürlich gestaltet auch jedes individuelle Handeln die Verhältnisse im eigenen Umfeld (z.B.: Nachbarschaftshilfe, Entwicklungshilfe), was theoretisch schließlich ebenfalls gesamtgesellschaftliche Ausmaße annehmen kann. Doch die Rahmenbedingungen werden immer von der Politik gesetzt. Daran ändert nichts die Tatsache, daß Politik ihrerseits massiven Einflüssen ausgesetzt ist. Selbst eine Marionettenregierung trifft Entscheidungen.

Wer die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändern will, muß entweder die Politik erreichen oder selbst Politik machen. Wissend um die derzeitigen Verhältnisse, wäre dies bewußt ein Gang in die Höhle des Löwen. Dazu ist nichts weiter nötig als Mut und die Entschlossenheit, die eigenen Ideale niemals aufzugeben. Dann wird der Gang in die Politik zugleich das trojanische Pferd sein, das die Politik von innen heraus verwandeln und wieder zu dem machen kann, was ihre eigentliche Idee ausmacht: Eine Gestaltung der Verhältnisse im Sinne des wahrhaft Menschlichen. Dazu gehört, daß die Logik des Marktes radikal begrenzt und die Verwertung von Mensch und Natur unmöglich gemacht wird. Dazu gehört aber auch, daß „der Staat“ abgebaut wird und alles, was möglich ist, den eigenen Entscheidungen mündiger Individuen überlassen wird.

Eine Idee sucht den Willen der Menschen

Das Bedürfnis nach einer solchen Gesellschaft ist bei sehr vielen Menschen da – ich möchte behaupten, bei fast allen, nur wird es bei vielleicht den meisten unterdrückt durch die Illusion, das sei ohnehin nicht möglich. Würden aber alle, die das Ideal einer gerechten und wahrhaft menschlichen Gesellschaft haben, voneinander wissen – sie könnten eine solche sofort schaffen. Wo aber sind die Menschen, die konkret bereit sind, auf politischer Ebene darum zu kämpfen? Wo sind die Menschen, die den Mut haben, gemeinsam eine Partei zu gründen, die für Ideale steht, welche sie niemals verleugnen wird? Das bedeutet, daß Regierungskoalitionen ausgeschlossen sind. Dazu gehört also der Entschluß, eine Partei zu begründen, die zunächst nur unerschütterlich jene Menschen repräsentieren will, die eine menschliche Welt wirklich wollen und für möglich halten.

Es gehört Mut zu den eigenen Idealen dazu, eine solche Partei zu wählen, weil man angesteckt durch die herrschende Logik glauben kann, daß eine solche Stimme verschenkt sei. Jene Partei wird aber ein fortwährendes Sprachrohr für die Forderungen der Gerechtigkeit, eine stete Anklage an die gegenwärtigen Verhältnisse sein, und je mehr Menschen ihr ihre Stimme geben, um so mehr werden auch alle anderen Menschen erkennen, daß jene Welt, nach der sie sich sehnen, tatsächlich möglich ist. Schon die Wahl einer solchen Partei bedeutet real eine Gestaltung der Verhältnisse. Und wenn schließlich diese Partei von der Mehrheit der Menschen das Mandat der Regierung erhält, wird sie die Verhältnisse so gestalten, daß grundlegende Forderungen der Gerechtigkeit – der Menschenrechte – erfüllt werden, daß vor allem aber die Menschen beginnen werden können, ihre Verhältnisse selbst zu gestalten.