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24.10.2002

Die wahre Leistungsgesellschaft – einige Begriffsklärungen

  • Wer hat welchen Anteil am Erlös?
  • Der Anspruch des Kapitalgebers
  • Was sind Innovationen?
  • Einkommen und Konsum
  • Egoistisches oder konsequentes Denken


Was ist heute für die meisten Menschen die wichtigste soziale Frage? Es ist diejenige der Arbeitsplätze – und dann alles, was damit zusammenhängt. Arbeitsplätze sind „bedroht“, heißt es immer wieder. Warum ist das so? Weil sie „gestrichen“ werden, wann immer es möglich ist. Es gibt dafür dann auch neue Worte wie „Verschlankung“. 

Die „Unternehmerseite“ stellt angesichts der Frage der Arbeitsplätze regelmäßig verschiedene Forderungen, die erfüllt sein müßten, damit sie (vorübergehend?) keine – oder weniger – Arbeitsplätze streicht. Dazu gehören die Autonomie „der Betriebe“ in Lohn- und Arbeitszeitfragen und der Abbau von: Kündigungsschutz, Mitbestimmung, Krankenversicherungsleistungen, Arbeitslosen- und Sozialhilfe und Umweltgesetzen. Ich möchte im folgenden nicht untersuchen, inwieweit konkrete Unternehmen eventuell durch den „Konkurrenzkampf“, der im Zeitalter der „real existierenden“ Globalisierung eine stetige Abwärtsspirale zur Folge haben muß, tatsächlich gezwungen sind, mit immer weniger Arbeitskraft immer mehr Profit zu machen. Es soll im folgenden vielmehr versucht werden, grundsätzliche Gedanken zu bilden, die sich nicht auf Sachzwänge, sondern auf das Sachgemäße beziehen. Es geht um wesenhaftes Denken.

Oft ist von „ungerechter Einkommensverteilung“ die Rede. Oft wird dann von anderen darauf verweisen, daß es doch darauf ankomme, was mit den Einkommen getan wird. Was aber, wenn diejenigen, die konkret die Ungerechtigkeit erleben, dies selbstverständlich schon mit berücksichtigt haben? Was ferner, wenn es auch eine Art absolute Ungerechtigkeit gibt, wo die Unterschreitung eines Einkommens durch eine noch so „gemeinnützige“ Verwendung eines anderen Einkommens nicht aufgewogen werden kann? Was, wenn die Einkommensfrage eine Rechtsfrage und – da im Rechtsleben das Prinzip der Gleichheit zu gelten hätte – gleichberechtigt und gemeinsam zu beantworten ist?

Wer hat welchen Anteil am Erlös?

Natürlich kann nur so viel verteilt werden, wie da ist, und es ist zunächst auch einleuchtend, daß das „Einkommen“ dem entsprechen sollte, was jeder für die Gemeinschaft und ihre Bedürfnisse tut und leistet. Wenn man aber ruhig einmal das „Leistungsprinzip“ in Reinform nimmt, dann würde das die Frage aufwerfen, welchen Leistungsanteil jeder Mensch in einem Industriebetrieb daran hat, daß am Ende eine bestimmte Produktion steht. Daß die Produktion stattfinden kann, ist der Zusammenarbeit aller mit ihr Beschäftigten zu verdanken. Die Höhe der Produktion wird natürlich von den Entscheidungen dessen bestimmt, der sie organisiert. Wenn jemand, der die Produktion steigert, den höheren Erlös egoistisch für sich beansprucht, so soll er das tun.

Wenn jedoch irgendwann ein anderer seine Stelle einnimmt, kann der seine Ansprüche aber wiederum nur von eigenen innovativen Entscheidungen herleiten. Denn dieser Nachfolger hat an der innovativen Idee des Ersten ebensowenig Anteil wie der einfache Arbeiter. Also würde der Erlösanteil, der der Idee des Ersten zu verdanken ist, fortan auf alle verteilt werden. Oder aber der Erste hätte ein „Patent“ auf seine Idee und selbst bei Ausscheiden aus der Firma ein ewiges Recht auf jenen Erlösanteil.

Nun haben ja auch andere Unternehmen Ideen, und der jeweilige Erlös richtet sich nicht nur nach den Innovationen des eigenen Unternehmens, sondern danach, was durch die Gesamtheit aller Innovationen für eine Gesamtproduktion erreicht wird. Diese stößt dann auf die reale Nachfrage, was eben heute den Preis bestimmt. Wer eine Idee hat, könnte also den Erlösanstieg nur so lange für sich beanspruchen, wie dieser wirklich existiert. Aufgrund des reinen Produktionsanstieges im Vergleich zu vorher hat er keine Ansprüche. Denn sonst müßten alle Unternehmer den Großteil aller Erlöse noch heute an Menschen wie Leibniz abführen, ohne dessen Differentialrechnung industrielle Produktion gar nicht möglich wäre.

Nehmen wir an, ein Unternehmen steigert durch eine Idee die Produktion und dadurch den Erlös, worauf der Unternehmer die Differenz für sich beansprucht. Bald haben auch andere Unternehmer Ideen, überall wird die Produktion effektiver, Menschen werden entlassen etc., die Preise sinken etwas. Der Erlös ist wieder wie vorher. In dieser Situation leistet der Unternehmer in erfinderischer Hinsicht nichts mehr, die gesamte Leistung geht von den Arbeitenden aus, die die (überall!) effektiver gewordene Produktion aufrecht erhalten. Im übrigen trifft der Unternehmer natürlich ständig „normale“ unternehmerische Entscheidungen. Aber welchen Anteil will er daraus beanspruchen?

Die Frage ist, wer überhaupt die Verteilung des Erlöses festsetzt, und nach welchen Kriterien. Bloß weil jemand die unternehmerischen Entscheidungen trifft, hat er nicht das Recht auf die Verteilung. Oder aber er betrachtet sich deswegen völlig unsachgemäß als Eigentümer des Unternehmens. Wenn er „Löhne“ festsetzt und den Rest für sich beansprucht, müßte er auch das Risiko tragen und die „Löhne“ eben konstant zahlen, auch wenn für ihn einmal weniger übrigbleiben sollte, als für den einfachen Arbeiter! Die Frage ist jedoch, wie überhaupt jemand dazu kommt, sich als Eigentümer anzusehen.

Der Anspruch des Kapitalgebers

Heute gelten die Kapitalgeber bzw. Aktionäre als Eigentümer. Die Kapitalgeber sind aber sachgemäß nichts anderes als andere Kreditgeber auch. Sie haben einen Anspruch auf das Kapital, was sie in das Unternehmen eingebracht haben, und während einer zu bestimmenden Zeit auf einen Anteil am Erlös des Unternehmens. Wer Kapital einbringt, hat doch wohl keinesfalls den automatischen Anspruch auf „Mehr“, sondern auf einen Anteil am Erlös, der natürlich zu erwarten ist. Irgendwann erlischt aber auch dieser Anspruch, denn ein Anteil steht nur dem zu, der wirklich arbeitet. Das sind alle Menschen, die unternehmerische Entscheidungen treffen oder die sonst arbeiten. Zunächst wurde real mit dem ursprüng­lich gegebenen Kapital gearbeitet. Bald aber hat sich dieses völlig ausgetauscht, und das Unternehmen arbeitet längst mit seinem eigenen Kapital. Nur durch tote Begriffe kann man glauben, dies wäre noch immer das Geld des ursprünglichen Kapitalgebers. Die Kapitalsubstanz eines Unternehmens kann sich nur aus sich selbst heraus immer erneuern oder gar nicht.

Der Kapitalgeber kann nur die einmalig gegebene Summe beanspruchen, aber kein Eigentum darüber hinaus. Wenn man also Autonomie „der Betriebe“ bei Lohn- und Arbeitszeitfragen fordert, muß man erst einmal klären, wer hier eigentlich rechtmäßig die Autonomie bekommen müßte. Wer „Betrieb“ gleichsetzt mit Unternehmer oder Kapitalgeber, dem geht es nicht um das Wirtschaften, sondern um nackte Macht - um den Anspruch auf Geldwerte, die in keinem Verhältnis zu dem stehen, was er real geleistet hat.

Was sind Innovationen?

Ich möchte jetzt in einigen Worten die Gesamtwirtschaft in den Blick nehmen. Wenn durch Innovationen die Produktion effektiver wird, bedeutet das Produktionsanstieg oder Entlassungen - zumeist letzteres, da die Nachfrage irgendwann gesättigt ist. Das Unternehmen beansprucht den vollen Erlös, der auf weniger Menschen zu verteilen ist, und überläßt es der Gemeinschaft, die Arbeitslosen zu tragen. In der Tat hat die Gemeinschaft diese Aufgabe, aber in demselben Maße hat sie Anspruch auf den die Arbeitslosigkeit verursachenden Produktivitätsanstieg, nämlich auf den Pro-Kopf-Erlös, der auf die Entlassenen entfallen wäre. Der innovative Unternehmer kann (egoistisch) Anspruch auf jeden absoluten Anstieg des Erlöses erheben, solange dieser durch Innovationsvorsprung vor der Konkurrenz gegeben ist. Jeder Anstieg des Erlöses geht mit der Zeit verloren, wenn andere Unternehmer nachziehen. Jeder Anstieg aber, der auf Entlassungen zurückgeht, steht dem Unternehmer überhaupt zu keinem Zeitpunkt zu. Die Gesellschaft ist es, die die aus dem Arbeits­leben Herausgefallenen tragen muß. Sie muß die Mittel haben, um ihnen ein gerechtes Einkommen zu zahlen, wenn sie sich alternative Tätigkeiten suchen, z.B. im sozialen, pädagogischen oder im Umweltbereich.

Wenn die Unternehmer meinen, sie könnten bald mit drei Millionen Arbeitenden das produzieren, was bisher noch sechs Millionen Menschen erfordert (ein fiktives Beispiel), dann müssen die anderen drei Millionen die Möglichkeit haben, bezahlte soziale und andere Arbeit zu tun. Dann steht den Unternehmen eben nur noch die Hälfte des bisherigen Anteils am Sozialprodukt zu (d.h. für die Arbeiter konstanter Lohn bei doppelter Produktivität, für die Unternehmer gleicher - statt doppelter - Gewinn). Dann aber werden die Menschen sich überlegen, ob sie einen solchen Arbeitsplatz überhaupt wollen, oder nicht lieber sozial tätig werden. Spätestens dann werden Regelungen kommen, die die existierende Arbeit wieder sinnvoll verteilen, nämlich weniger Arbeit für alle ermöglichen.

Die Produktivität ist über Hunderte von Jahren ununterbrochen gewachsen, das Bruttosozialprodukt und der gesellschaftliche Wohlstand wachsen weiterhin jährlich. Warum sieht es so aus, als sei für immer mehr Menschen immer weniger da? Weil sich Einzelne den Erlös aus dem Produktivitätsanstieg auf Dauer aneignen. Weil in letzter Zeit darüber hinaus die Vermögensbesitzer immer mehr begünstigt werden. Weil der Staat überhaupt ein Nettozahler gegenüber denen geworden ist, die ihm einmal Geld geliehen haben. Das alles sind Verhältnisse, die durch völlig unsachgemäße Begriffsbildungen ermöglicht wurden und nach wie vor werden. Sie sind also weder sachlich, noch menschlich, sozial oder irgendwie anders legitimiert. Und wenn diese Dinge in Zukunft allmählich immer klarer werden, dann wird man – spätestens als Historiker – fragen, wie gewisse Standpunkte und Forderungen, die heute sehr verbreitet sind, überhaupt vertreten werden konnten. Man wird fragen, ob die Menschen nicht denken konnten, oder ob sie bewußt nicht-men­schlich gedacht und agiert haben.

Einkommen und Konsum

Ein verbreitete Forderung ist etwa die Abschaffung der Unternehmenssteuern und „Lohnnebenkosten“. Wer dies fordert, ohne einen weiteren Satz anzuschließen, führt eine Sprache im Munde, die das rechtmäßige Leistungsprinzip unrechtmäßig vertritt, also mißbraucht. Man sollte tatsächlich jene Steuern abschaffen. Wer übernimmt die soziale Sicherung? Die ganze Gesellschaft, der aber auch das Bruttosozialprodukt gehört (abzüglich berechtigter Ansprüche aufgrund individueller Innovationen, siehe oben). Mehr Steuern zahlen sollte durchaus der, der mehr beansprucht, nicht der, der mehr leistet. Das gesamte Steueraufkommen könnte sich aus einer Abgabe vergleichbar der Mehrwert­steuer ergeben. Dann würde jeder genau in dem Maße belastet, wie er konsumiert. Voraussetzung für dieses gerechte System ist aber zunächst die wirkliche Durchsetzung des Leistungsprinzips.

Mein Einkommen muß meinem wirklichen „Verdienst“ entsprechen (in dem Wort liegt das Dienen). Es ist aber unmöglich, daß der sachgemäß-reale Verdienst eines Menschen größer ist als ein Einkommen, das er auch wieder ausgeben kann. Die Gesellschaft kann einem Menschen für seine herausragenden Innovationen ja nicht mehr danken, als ihm einen Anteil des Sozialproduktes zuzugestehen, der unbegrenzten Konsum erlaubt. Auf jeden darüber hinausgehenden Erlös ist ein Anspruch absolut unmöglich, da er ohnehin nur durch Arbeitsteilung zustande gekommen sein kann. Weiterhin ist das Eigentum an ungenutztem Vermögen überhaupt unzulässig, da Geld keine Ware, sondern ein Tauschmittel ist. Wenn ich durch innovative Produktion und Absatz von Waren ein Vermögen erwerbe, bin ich gesellschaftlich verpflichtet, dieses Vermögen auch wieder zu konsumieren, das heißt, andere Waren dafür zu kaufen. Die eine Seite der Gesellschaft wird genau dadurch in die Verschuldung getrieben (und dort festgekettet), daß das gesamte Vermögen auf der anderen Seite bei einigen Wenigen sich sammelt. Dies geschieht in der Regel sogar ohne jede Leistung, nämlich durch laufenden Zins und Zinseszins. Leistungsloses Einkommen ist ohnehin unzulässig, ebenso aber jedes Vermögen, das ich nicht nutzen kann.

Alles, was jemand bei bestem Willen nicht verkonsumieren kann und was ihm gemäß seiner Leistung auch gar nicht zusteht, fällt an die Gesellschaft und geht an alle, die heute noch weniger bekommen, als sie leisten. Sobald man einmal in dieser Hinsicht gerechte Verhältnisse hat, würde alles Einkommen, was dann immer noch jeweils nicht real genutzt wird, ebenfalls an die Gesellschaft fallen, und zwar an jenen gesellschaftlichen Bereich, der die Quelle aller Innovationen und damit Einkommen ist: Das scheinbar „unproduktive“ Geistesleben mit Schulen und Hochschulen aller Art, kulturellen Initiativen usw.

Egoistisches oder konsequentes Denken

Die „Unternehmervertreter“ möchten am liebsten, daß „die Betriebe“ den Lohn willkürlich festsetzen können und die Gesellschaft außerdem noch alle sozialen Aufgaben rein aus den Steuern der Arbeitnehmer finanziert. Eins von beidem geht nur. Entweder die Unternehmer können (völlig unsachgemäß) festlegen, wie hoch der „Lohn“ in „ihrem“ Betrieb ist. Dann muß die Gesellschaft bestimmen können, wie sie für ihre Aufgaben die Mittel bekommt, also auch welches ihr Anteil am Unternehmensgewinn ist. Oder die Gemeinschaft finanziert sich aus dem Einkommen der Arbeitnehmer. Dann muß sie bestimmen können, wie hoch zur Finanzierung ihrer Aufgaben dieses Einkommen sein muß. Sollte es ernsthaft so sein, daß die Unternehmer ihren Beitrag für die gemeinschaftlichen Aufgaben nicht leisten wollen? - Wer darauf mit „doch“ antwortet, muß sich mit den sachgemäßen Begriffen auseinandersetzen. Es muß endlich die Frage auf die gesellschaftliche Tagesordnung, wie gedacht werden muß über Arbeit, „Lohn“ und „Eigentum“, über „Kredit“, „Zins“ und über die Frage wirklicher Leistungsgerechtigkeit.

Arbeitslosigkeit und Leistungslosigkeit sind zwei Seiten derselben Medaille. Die soziale Frage stellt sich zwangsläufig überall da, wo es leistungslose Einkommen gibt. Die wahre Leistungsgesellschaft unterscheidet sich weniger vom Ideal der Brüderlichkeit als von ihrem heutigen Lügenbild.