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19.11.2002

Der Kampf gegen die Arbeitslosen

Oder: Wie wird der Arbeitslose wieder rentabel?

In Deutschland arbeitet die Regierung zur Zeit zügig daran, die Beschlüsse der „Hartz-Kommission“ umzusetzen, die Konzepte in bezug auf die Arbeitslosigkeit und ihre Verwaltung erarbeiten sollte. Die vom VW-Vorstands­mit­glied Peter Hartz geleitete Kommission war seit März tätig und hat am 16. August ihren Bericht vorgestellt.


Die Kommission hält tatsächlich ihre Vorschläge – 13 sogenannte „Module“ – für geeignet, die Zahl der gegenwärtig rund vier Millionen Arbeitslosen innerhalb von drei Jahren zu halbieren! Dagegen hat die Bundesanstalt für Arbeit bereits grobe Fehler in der Hochrechnung bemängelt und zu Recht betont, daß die entscheidende Voraussetzung für weniger Arbeitslosigkeit mehr Arbeitsplätze sind. Die Hartz-Vorschläge würden kaum Arbeitsplätze schaffen, vermittelten dagegen den Eindruck, als sei vor allem eine geringe Effizienz der Bundesanstalt bzw. der Arbeitsämter für die Arbeits­losigkeit verantwortlich. 

Niedriglöhne und „Neue Zumutbarkeit“

Worum geht es bei den „13 Modulen“? Die Arbeitsämter heißen in Zukunft „Job-Center“. Zentrale Neuerung sind die von den Arbeitsämtern aus gegründeten oder zumindest an diese angeschlossenen „Personal-Service-Agenturen“. Wer von einer solchen „angestellt“ ist, erhält einen „ta­riflich vereinbarten PSA-Lohn“ von ca. 70% des ehemaligen Bruttogehalts, wobei die Einstiegslöhne noch niedriger sein sollen (in der Diskussion ist/war auch, daß in den ersten sechs Monaten jede Tätigkeit quasi unbezahlt auszuüben sei, da das Nettoentgelt dem Arbeitslosengeld ent­sprechen sollte). Durch die verschärfte Zumutbarkeitsregelung kann eine nochmalige Abstufung in eine schlechter entlohnte und weniger qualifizierte Tätigkeit erfolgen. Nachdem die Gewerkschaften die PSA-Sonder­tarife vereinbart ha­ben werden, sollen alle gesetzlichen Beschränkungen von Leiharbeit aufgehoben werden. Damit aber stünde einer Verdrängung „normaler“ Arbeitsverhältnisse (und ihren Löhnen, aber z.B. auch ihrem Kündigungsschutz) nichts mehr im Wege.

Wie man glauben kann, daß durch die Einführung eines Niedriglohnsektors wirklich nennenswert Arbeitsplätze entstehen werden (von menschenwürdiger Arbeit gar nicht zu reden), bleibt schleierhaft. Das eigentliche Ziel scheint zu sein, die „Kosten“ zu reduzieren, die `man´ mit arbeitslosen Menschen hat.

Die Ämter werden sich in Zukunft verstärkt bemühen, mittels der verschärften Zumutbarkeitsregelungen den Beweis der Nichtverfügbarkeit zu erbringen – womit die Sozialleistungen gekürzt oder gestrichen werden können. Hartz selbst sagte offen im Magazin Der Spiegel: "Während es für das Arbeitsamt heute ausgesprochen schwierig ist, Arbeitslose zur Annahme bestimmter Jobs zu zwingen, kann die Service-Agentur so etwas künftig einfach durchsetzen.“ - Im Rah­men der „Neuen Zumutbarkeit“ muß künftig der Arbeitslose nachweisen, daß eine Arbeit unzumutbar sei. Dies knüpft nahtlos an die frühere „Faulenzer-Debatte“ von Kanzler Schröder und die absurde Diagnose an, mangelnde Eigenakti­vität und „Flexibilität“ bei der Stellensuche seien die Ursache der Arbeitslosigkeit - und nicht die real fehlenden Jobs!

Im übrigen belastet der Mißbrauch von Ansprüchen die Sozialkassen im Promillebereich, während es etwa bei der Steuerhinterziehung unter Hochverdienern leicht um Millionenbeträge in jedem einzelnen Fall geht. In ihrer Pauschalität sind sowohl die Vorstellung des Mißbrauchs als auch die „neue Zumutbarkeit“ menschenverachtend. Statt der Bekämp­fung der Arbeitslosigkeit wird die Bekämpfung der Arbeitslosen weiter verschärft.

„Ich-AG“ und andere Zumutungen

Ein weiteres „Modul“ wurde „Ich-AG“ genannt - schon an sich eine unerträgliche Verhöhnung des Menschenwesens. Arbeitslose sollen zu einer Mini-Selbständigkeit ermuntert werden. Die neuen „Unternehmer“ erhalten 50% ihres Leistungsanspruchs als Arbeitslose plus Sozialversicherung. Das Einkommen wird bis 20.000 Euro jährlich nur mit 10% versteuert. – Der Haken an der Sache ist: Nach drei Jahren ist der Leistungsanspruch vorbei, und man ist zur Selbstän­digkeit verdammt, d.h. für seine soziale Absicherung selbst verantwortlich. Eine Rückkehr ins Versicherungssystem ist nur über eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung möglich - welche zu finden doch genau das Problem war! Und wenn selbst die etablierten Unternehmen angesichts der Wirtschaftslage zunehmend weniger Investitionen wagen, wie soll dann ein Arbeitsloser ohne jede wirtschaftliche Basis und unternehmerische Qualifikationen sich eine tragfähige wirtschaftliche Existenz aufbauen können?

Handwerks- und andere Kleinunternehmen dürfen künftig bis zur Hälfte ihrer Arbeitnehmer als „Ich-AGs“ be­schäf­tigen. Dies ist nichts anderes als eine - bisher zu Recht verbotene - Scheinselbständigkeit.  Künftig werden sich die Unternehmen auf diese Weise die Sozialversicherung sparen können – und der Staat bei einer Entlassung die soziale Absicherung der „aus dem Arbeitsmarkt He­rausgefallenen“.

Ein weiteres Modul soll die Wirtschaft aus ihrer Ausbildungspflicht entlassen, obwohl laut Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes die Unternehmen verpflichtet sind, ein ausreichendes und auswahlfähiges (größer als die Nachfrage!) Angebot zu gewährleisten. Das erforderliche Ausbildungsplatzangebot soll künftig von den Bürgern durch Kauf von „AusbildungsZeit-Wertpa­pie­ren“ finanziert werden. Konkret sollen also z.B. die Eltern die betriebliche Ausbildung ihrer Kinder finanzieren (d.h. gleichsam deren Lehrlings- und Gesellenlohn zahlen).

Geplant ist weiterhin die Ausweitung und Subventionierung des Niedriglohnsektors. Die Grenze für „Pauschaljobs“ ohne echte Sozialversi­che­rung wird auf 500 Euro heraufgesetzt, Einkommen bis 1000 Euro erhalten gestaffelte Zu­schüsse zur Sozialversicherung, „Dienstmädchen“-Beschäftigung wird wieder steuerlich absetzbar. Möglich, daß auf diese Weise für den einen oder anderen „Arbeitssuchenden“ ein Almosen-Job abfällt - viel wahrscheinlicher ist, daß viele „normale“ Arbeitsplätze in solche prekären Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt werden.

Die Bestrafung der Opfer

Die Not der Arbeitslosen besteht scheinbar in der fehlenden Arbeit, die wirkliche Not ist jedoch die reale Armut. Heute aber gilt zunehmend wieder das Prinzip „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ – selbst wenn es gar keine Arbeit gibt, Arbeitslosigkeit also definitiv kein Zustand der Schuld (oder gar ein Verbrechen) ist. Die Hartz-Kom­mis­sion will ganz offiziell den Druck auf die Arbeitslosen verschärfen. Was dennoch als `Kampf gegen die Arbeitslosigkeit´ ver­kauft wird, ist in der realen Wirklichkeit nichts anderes als ein Programm zur Förderung der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und deren Zurichtung dafür. Da diese Arbeitskraft eigentlich bereits überflüssig ist, ist ihre Verwendung nur profitabel, wenn die Ausbeutung gesteigert werden kann. Was man Marxisten nie glauben wollte und als Ideologie weit von sich wies, das wird der Hartz-Kommis­sion des Kanzlers hoch angerechnet.

Die Lösung des „Arbeitslosenproblems“ wird nicht etwa darin gesehen, daß die heutige Produktivität eine generelle Verkürzung der Arbeitszeit ermöglicht und geradezu nahelegt. Ganz im Gegenteil sollen für einen Teil der Gesellschaft die Löhne und Rechte so drastisch gesenkt werden, daß sich ihre Beschäftigung lohnt, obwohl sie „überflüssig“ sind, weil für die zusätzliche Produktion kaum eine Nachfrage besteht. Die heutige Logik kann sich eine sinkende Arbeitslo­sigkeit nur über ein zunehmendes Wirtschaftswachstum vorstellen. Zugleich glaubt man naiv, die „Wirtschaft“ müßte doch wenigstens dann ein Interesse an der Schaffung von Arbeitsplätzen haben, wenn sie nur billig und schnell kündbar seien. Auch der Vorsitzende der „fünf Wirtschaftsweisen“, von denen sich die Bundesregierung beraten läßt, verkündete kürzlich als „Heilmittel“: Mehr befristete Arbeitsverträge, Ausbau des Niedriglohnbereiches, Lockerung des Kündigungsschutzes, weitere Steuersenkungen für Unternehmen, noch mehr Privatisierung. Diese Logik gipfelte in den Worten: „Wir brauchen mehr soziale Ungleichheit, um zu mehr Beschäftigung zu kom­men.“[1]

Der Mensch als Objekt

Der zentrale Irrtum liegt darin, daß man die menschliche Arbeitskraft nach wie vor als Ware betrachtet, die am Arbeits­markt gehandelt wird. Abgesehen von der sich darin aussprechenden Menschenverachtung, die gerade Anthroposo­phen in ihrer ganzen Dramatik erkennen können, ist dieser Vergleich auch sonst ein völliger Irrtum. Der Produzent einer Ware wird auf eine verschwindende Nachfrage immer mehr oder weniger mit einer Umstellung reagieren können. Der „Ar­beitnehmer“ dagegen hat eben nur seine Arbeitskraft, die er zu Markte tragen muß. Wenn eine fast nicht existie­rende Nachfrage den Preis dieser Ware gegen Null drückt, was kann er tun? Das ist übrigens ein Grund, warum das gewerk­schaftliche Flächentarifsystem durchaus nicht veraltet ist. Vor dem Hintergrund der schlechten „Wirtschaftsla­ge“ wird jetzt gefordert, die Löhne individuell in den Betrieben zu vereinbaren. Auch hierbei mutet man den Arbeitneh­mern wieder mehr zu als irgendeinem Warenproduzenten: Ein Zulieferer erkundigt sich auch nicht nach der Leistungs­fä­higkeit eines Unternehmens und senkt dann eventuell seine Preise. Doch der Arbeitnehmer soll nicht nach dem Wert seiner Arbeit fragen, sondern auf die Wirtschaftslage Rücksicht nehmen und den von Markt und Nachfrage bestimmten Preis seiner Arbeitskraft akzeptieren?

Die Behandlung des Menschen als „Produktionsmittel“ (Arbeitnehmer) und Kostenfaktor wird sich weiter verstärken, denn diese Begriffe sind nun einmal dem Wirtschaftsleben entsprechend. Eine Umkehr kann nur durch den tätigen Willen genügend vieler Menschen erreicht werden, die die Unmenschlichkeit des gegenwärtigen Systems aufzeigen und diesem Alternativen entgegenstellen können. Lange bevor an Brüderlichkeit gedacht werden soll und kann, gälte es, für Gerechtigkeit zu wirken, indem alles, was die Gleichheit aller Menschen und das Menschsein als solches betrifft, in den Bereich der Rechtssphäre geholt wird, wo es sachgemäß urständet. Dazu gehört die Frage, durch welche Einrichtungen verhindert werden kann, daß Menschen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen und ihnen Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen aufgezwungen werden – von anderen Menschen, die dieselben nicht einmal im Traum ertragen wollten. Dazu gehört die Frage, wie sachgemäß über die Begriffe „Eigentum“, „Gewinn“ und „Anspruch“ an demselben gedacht werden muß. In dem Maße, in dem Fragen, die als solche nicht ins Wirtschaftsleben gehören, in die Rechtssphäre zurückgeholt würden, würde ein gerechteres Wirtschaftsleben möglich, das überhaupt erst einen realen Ausgangspunkt für den weit in die Zukunft reichenden Weg in eine brüderlicher handelnde Menschheit bedeuten würde.

Angesichts der heutigen Verhältnisse bräuchte es im Grunde nur einige Momente der Besinnung, um ganz aus sich heraus zu erkennen, wie falsch und unmenschlich alles ist, was in bezug auf das Wirtschaftsleben derzeit an Gedanken gebildet und an Taten in die Welt gesetzt wird. Diese Erkenntnis ist zunächst ganz unabhängig davon, wie unentwickelt die eigene Vorstellung von dem, was das Wesen des Menschen sei, noch sein mag. Nur wer ganz konsequent das Recht des Stärkeren verficht, wird die gegenwärtigen Tendenzen gutheißen können. Das ist auch ein Aspekt des Zeitalters der Bewußtseinsseele: Die Menschen werden durch die Umstände immer mehr geradezu dazu getrieben werden, sich zu besinnen. Dann werden die Geister sich scheiden.

Fußnoten


[1] Wie stark diese Logik sich inzwischen durchgesetzt hat, zeigen die Tatsachen, daß Herr Wiegard nicht konservativer Unternehmervertreter, sondern sozialdemokratisches Mitglied der Dienst­leistungsgewerkschaft verdi ist, und daß eine SPD-Regierung die Hartz-Pläne zügig umsetzen will.