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29.05.2002

Die Schönheit der Welt und das Wesen des Menschen

Zu den folgenden Gedanken fühlte ich mich wesentlich inspiriert durch Schriften zum inneren Schulungsweg von Hermann Weidelener, der in jungen Jahren Rudolf Steiner noch selbst kennengelernt hatte.


Was ist der Mensch? Das, was er sein will oder das, wozu er gemacht wird.

Viele - vor allem junge - Menschen fragen nach dem Sinn des Lebens. Mit Recht. Der Mensch ist das Wesen, das diese Frage stellen kann. Sie wird nicht dadurch beantwortet, daß man sich irgendwann eine „Antwort“ gibt, die das eigene Fragen aufhören läßt und das Gewissen beruhigt. Und es ist sogar ganz armselig, es als Beweis für die Sinnlosigkeit der Frage auszulegen, wenn man keine Antwort bekommt oder das Fragen irgendwann einschläft. Diese Frage und ihre mögliche Antwort machen den Menschen zum Menschen.

Der moderne Mensch stellt sich die Frage zumeist nicht. Aber die Frage stellt sich selbst. Sie lebt in jedem Menschen, auch wenn er es nicht weiß. Sie macht sich bemerkbar, auch wenn er es nicht bemerkt. Und jeder Mensch beantwortet sie auf die eine oder andere Art und Weise. Das Wesen, das nach dem Sinn fragen kann, muß seinem Leben einen Sinn geben - und wenn es der armseligste Ersatz ist für das, was möglich wäre. Wer keinen über sich hinausgehenden Sinn finden kann, muß sich eben sein Leben lang selbst bestätigen - indem er sich Dinge, Menschen und Unternehmungen sucht, die ihn bestätigen.

Der heutige Mensch ist sich selbst Mittelpunkt. Was zu seinem Vorteil oder seiner Annehmlichkeit möglich ist, wird getan. Man wäre ja dumm zu verzichten! Wo man etwas billiger bekommen hat, freut man sich. Denkt irgendjemand an den anderen, und ob der Preis auch für ihn gerecht war? Man fährt mit dem Auto zur Arbeit, zu Freunden, ins Grüne. Denkt irgendjemand an den Radfahrer, der an jeder Ampel - vor, neben und hinter ihm Autos - unwiederbringliche, kostbare Zeit seines Lebens inmitten stinkenden und giftigen Abgases steht? Dieser Radfahrer, der vielleicht nur deshalb überallhin viel länger unterwegs ist, um anderen Menschen nicht dasselbe anzutun?

Der Normalbürger fährt oder fliegt mindestens einmal im Jahr in seinen „wohlverdienten“ Urlaub nach Spanien, nach Teneriffa, nach Afrika oder nach Amerika. Denkt er einmal an die Erde, mit der etwas geschieht, das sie vielleicht zunächst noch ertragen, vor dessen Folgen sie aber die auf ihr lebenden Wesen nicht schützen kann? Denkt er einmal daran, daß sein unglaublicher Energieverbrauch die Atmosphäre unseres Planeten verändert? Daß sich die „Klimazonen verschieben“ werden, was das Zugrundegehen der bestehenden Ökosysteme bedeutet? Ganze Landstriche werden im Meer versinken, unzählige Menschen werden den Mutterboden ihrer Kultur verlieren. Aber während dem Normalbürger Leiden gegenwärtig lebender Menschen durch ein anerzogenes Gewissen noch ein lästiger Stachel im Fleisch sind, bedeuten ihm „künftige Generationen“ nur noch eine abstrakte Vorstellung. Er empört sich vielleicht - seine eigene „Moral“ genießend - gegen die ehrliche Devise „Nach uns die Sintflut“, aber die über seine Lebenszeit und die seiner Kinder und Enkel hinausgehende Zukunft ist für ihn leer.

Gewiß, viele Menschen glauben, moralisch zu leben. Die Moral macht es ihnen einfach. Sie hat unendliche Größe. Jeder kann sich herausgreifen, was ihm gefällt und glauben, er sei moralisch. (Man kann heute sogar wieder Kriege führen und glauben, die Zivilisation selbst zu verteidigen). Früher stand die Moral strenger vor den Menschen, von ihnen Wahrhaftigkeit fordernd. Heute ist sie von uns zu einem Supermarkt gemacht worden, wie das ganze übrige Leben auch. Damit hat auch sie ihren Sinn verloren. Moral beginnt da, wo die Gewohnheit aufhört. Wo es mir gelingt, die Bedürfnisse und die Not des anderen über meine eigenen egoistischen Antriebe zu stellen. Was heute als „Moral“ wie ein Lack auf der Bürgerlichkeit aufgetragen ist, dient hervorragend dazu, die ungeheuerliche Unmoral, aus der unsere Zivilisation sich aufbaut und existiert, zu übertünchen. Wenn dies nicht geschähe und man die Realität wahrnähme - man würde wie tot niederstürzen vor dem Grauen, das sich einem darbietet... als das eigene Wesen.

Die Menschen genießen aber ihr Leben, halten sich noch dazu für moralisch, geben sich für nichts die Schuld, sofern sie überhaupt etwas von dem Leiden der Welt wahrnehmen. Warum soll ich schuld sein an etwas, das mit mir nichts zu tun hat? Habe ich nicht ein Recht darauf, mein Leben und die Früchte meiner Arbeit zu genießen? Alle tun dies.

Nun ja, wo man das jemals als Begründung für sein eigenes Handeln nimmt, was andere tun, offenbart man, daß man nicht erwachsen ist. Mensch ist man, insoweit man die Begründung für sein Handeln in sich selbst finden kann.

Man belächelt die Kinder. Sie müssen nachmachen, was andere tun, um sich überhaupt auf dieser Erde zurecht zu finden. (Und was zeigen wir ihnen?). Aber eigentlich müßten sie uns belächeln, und zwar mitleidig. Das können sie nicht und könnten es niemals, denn sie leiden selbst unendlich an der Welt, die wir täglich schaffen. An einer Welt, die wir mit Sinnlosigkeiten füllen, die auch die Kinder in sich aufnehmen und die als Gift in ihnen wirken. Da wir für das Seelische ohnehin keinen Blick haben, merken wir auch das nicht. Irgendwann merken wir die Folgen und halten sie für etwas anderes und werfen es meistens wiederum den Kindern vor.

Der Mensch genießt sein Leben nach Kräften, hat Freude an und mit seinem Lebensgefährten, seinen Freunden, seinen Kindern, seinen Enkeln und an dem, was ihn von der Welt interessiert. So verbringt er ziemlich glücklich sein Leben. Wenn er Glück hat, tritt am Ende seines Lebens noch einmal die Frage nach dem Sinn vor ihn hin. Und wenn er dann sagen kann, er habe ein erfülltes Leben gehabt? Nun, er mag sagen was er will. Ein vordergründiges Urteil wird es vielleicht sogar Gnade nennen, wenn man so sprechen kann. Die Illusionen werden sich dann erst nach dem Tode zeigen. Gnade wäre es, wenn man in Wahrheit so hätte sprechen können. Nach dem Tode wird einem der wahre Gehalt seines Lebens bewußt werden. Das wahrhaft Gute wird nicht verloren sein. Das, was nur für einen selbst Bedeutung hatte, wird bedeutungslos sein. Und die Versäumnisse des eigenen Lebens werden als Schuld sichtbar werden. Vor dem Blick des in die Wahrhaftigkeit hineinwachsenden Verstorbenen wird jedes nicht getane Gute, das möglich gewesen wäre, als Un-Tat genauso schwer wiegen, wie das Böse, was man auf Erden schon Untat nennt.

Doch kehren wir auf die Erde zurück und verlassen wir die gewöhnliche Welt.

Wo berührt uns der Sinn? Viele Menschen fühlen sich angesichts eines Sonnenuntergangs an die Frage nach dem Sinn erinnert. Die Herrlichkeit des Ereignisses schwemmt für Augenblicke den Schutt beiseite, der die Frage überdeckt hat, die doch immer im Menschen lebt. Aber schon gleich ist sie von demselben Schutt wieder begraben. Und der Mensch ist blind für fast alles andere, was ihn den Sinn erleben lassen könnte, auch wenn er ihn noch nicht begreift.

Wo? - Der Mensch, der fast sein ganzes bisheriges Leben zwischen Häuserschluchten verbringt, steht plötzlich auf freiem Feld. Hinter einem Bauernhaus stehen hintereinander drei Bäume. Große, alte Bäume. Es ist früh, noch ein wenig dunstig. Der Geruch des Tau. In der Ferne liegt ein Waldrand. Irgendwo singt ein Vogel. Dies alles ist durchtränkt von Sinnhaftigkeit, und der Mensch, der es nicht gewöhnt ist, erlebt es für kurze Momente.

Oder man nehme die unzähligen Begegnungen mit Kindern. Ein Kind, dessen Antlitz absolute Unschuld ausstrahlt. Und zugleich kann man in dem Blick eines solchen Kindes die großen Fragen lesen. Große Fragen an die Welt und an mich, der ich Repräsentant dieser Welt bin, voll verantwortlich für alles, was in ihr geschieht. Dasselbe, bewußter, aber auch seltener, etwa in dem Blick eines jungen Mädchens. Was für ein Erlebnis, wenn diese Welt noch nicht die Seele eines solchen Wesens erobern konnte, sondern das wahre Wesen der Seele sich noch immer im Blick offenbart und seine Fragen in die Welt schickt? Heftiger kann man seine Verantwortung nicht fühlen, als in dem Moment, wo man von einem solchen Blick getroffen wird.

Dann kommt die Jugend. Die jugendlichen Menschen mit ihren Idealen. Was vorher unbewußt in der Seele lebte, tritt jetzt verwandelt hervor. Die Jugend stellt mit Recht alles in Frage, weil in unserer Welt alles fragwürdig ist. Auch in der Begegnung mit diesen Menschen kann man etwas von dem erleben, wonach auch das eigene Wesen auf der Suche ist. Aber nur allzuoft erliegen sie, wie man selbst, dem Schein dieser Welt - nur viel ehrlicher. Die Oberflächlichkeit, die dann gelebt wird, ist genau das, was ihnen von der Welt entgegenkommt. Sie können sie noch ganz leben, ohne die Einschränkungen des Alltags und den „moralischen“ Ballast, die den „Erwachsenen“ ermöglichen, einen scheinbaren Gegensatz aufzurichten und sich eben „erwachsen“ und „verantwortlich“ zu fühlen. Doch welcher Lottogewinner würde noch für andere arbeiten? Die Jugend aber hat ein Recht darauf, nicht arbeiten zu müssen. Und sie hat auch ein Recht auf Oberflächlichkeit, denn erst vom Erwachsenen kann man Tiefe verlangen.

Und doch wird die Oberflächlichkeit der Jugend erst durch die von uns geschaffene Welt aufgedrängt. Immer wieder wird sie von den jungen Menschen abgeworfen, immer wieder dringen sie zu den eigentlichen Fragen des Menschseins vor. Und finden bei denen, die ihre Hüter sein sollten, keine Antwort. Das aber wäre noch gut. Wenn sie wirklich keine Antworten bekämen und erlebten, daß auch wir Fragen hätten. Fast immer aber bekommen sie doch irgendwelche Antworten - Antworten, die lächerlich, armselig, ja, in ihrer Leere erschütternd sind. - Diese jungen Menschen werden tatsächlich in ihrem Innersten erschüttert. Manche erleben dies ganz bewußt, andere nicht. Aber keiner von ihnen ist nach einer solchen Antwort noch der gleiche. Wenn sie aus dem Munde der Erwachsenen, die ihnen am meisten bedeuten, etwas hören, das sie einfach nicht glauben können, wird ihnen schlichtweg der Boden entzogen.

Wo also ist der Sinn zunächst im Gefühl erlebbar? Überall! Die ganze Welt ist erfüllt von Herrlichkeit. Von einem gewissen Aspekt aus ist die heute im Menschen lebende Frage nach Sinn hervorgerufen durch einen Mangel. Dieser Mangel begründet eine tief im Wesen des Menschen lebende Unzufriedenheit. Man soll nur nicht denken, wer die Unzufriedenheit nicht erlebt, führe ein sinnvolles Leben. Wenn sie nicht erlebt wird, ist die Sache nur schlimmer. Das Ganze ist zunächst eine Frage der Wahrnehmung. Die Herrlichkeit der Welt wird nicht wahrgenommen. Das Menschenwesen erlebt dies als Mangel, weil es weiß, daß es dazu eigentlich berufen ist. Wenn es selbst dieses Erlebnis nicht mehr hat, steht es eben deshalb sehr schlimm, weil es sich dann gänzlich selbst vergessen hat. Nur dann kann es mit der Oberflächlichkeit, die die Menschenwelt ihm bietet, zufrieden sein.

Im tiefsten Sinne ist aber die Frage nach dem Sinn keineswegs nur die Folge eines Mangels. Würde man wirklich die Herrlichkeit der Welt wahrnehmen, wie sie erlebt werden kann, würde sich die Frage nach einem Sinn erübrigen. Aber der Mensch ist trotzdem zu noch mehr berufen. Inmitten der Herrlichkeit kann er erleben, daß er selbst zum Schöpfertum berufen ist. Erfüllt von Liebe und Dankbarkeit betritt er das Reich der Freiheit und vollbringt Taten der reinen Liebe.

Was ist Freiheit, was ist Liebe? Wahre Freiheit ist solange nicht gegeben, wie ich etwas für mich tue. Wir tun eigentlich alles immer für uns. Auch das, was wir scheinbar für andere tun, weil wir von ihnen geliebt werden wollen. Wir können uns einreden, wir würden dies oder jenes für andere ganz voraussetzungslos tun - aber wie sind wir verletzt, wenn wir einmal nicht so beachtet wurden, wie wir es erwartet haben! ... Und wie erst ist es mit unsere „Liebe“ gegenüber Menschen bestellt, die uns gar nichts vergelten können, weil sie uns z.B. nie begegnen werden?

Wer die wirkliche Liebe findet, der findet die wahre Freiheit, denn beides ist untrennbar. Wer in dieser Weise vollkommen einen anderen Menschen und sein Bedürfnis zum Motiv seines Handelns macht, der kommt zu einer Ahnung, was „Sinn“ meint.

Vollkommen wird dies ohnehin zunächst nicht sein. Es wird sich immer das Ego melden, das etwas anderes, etwas für sich tun will. Doch da ist die innere Stimme, die einen in dem Tun für den anderen bestätigt, was man ja eigentlich auch wollte. Und wie unvollkommen war man also! Dreigeteilt: Das Ego, die innere Stimme und man selbst; dann die vorgestellte Handlung, die getane Handlung, der andere. Alles getrennt und gespalten! Wünsche, Vorstellungen, Absichten und Handlungen. - Wahre Freiheit beginnt da, wo man von diesem allen nicht mehr beeinflußt wird. Wo man dann, wenn man eben aus Liebe handelt, einfach handelt. Man ist dann eins mit seiner Handlung, eins mit seiner inneren Stimme und unmittelbar eins mit dem anderen und seinen Bedürfnissen. Vielleicht ist dann da noch die Stimme des Ego, die einen aber nicht beeinflußt; man kann sie ein andermal anhören.

Was also ist der Sinn? - Es gibt nicht „den“ Sinn. Jeder Mensch findet seinen Sinn, wenn er beginnt, frei zu werden. Frei von allem, einschließlich sich selbst. Frei für alles. Der Mensch erlebt den Sinn, wenn er über sich hinauskommt. In jeder seiner Handlungen kann er sich mit der Welt verbinden, und zwar wahrhaft. - Und das ist genau die Berufung, die sein wahres Wesen in sich trägt. Dieses wahre Wesen eines jeden Menschen ist nicht von der Welt getrennt. Weil aber das gewöhnliche Bewußtsein des Menschen auf das „Selbst“ schrumpft und um dieses kreist, entsteht im Wesen des Menschen die Frage nach dem Sinn. Die Verbindung mit der Welt - der ganzen Welt, natürlich, die Welt ist ein Ganzes - wieder zu finden, ist seine Aufgabe und seine Erfüllung.

Es gibt unendlich viele Wege, diese Verbindung herzustellen. Jeder Mensch kann genau seinen Weg gehen. In allen Augenblicken, die sein Leben ausmachen, kann er sich in freien Taten mit der Welt verbinden - oder die Trennung aufrechterhalten. In jedem Augenblick gibt es so vieles, was zu tun wäre. Ich würde es sofort sehen und erleben, wenn ich einmal nicht mich zum Motiv meines Handelns machen würde. Und doch gibt es in jedem Augenblick für jeden individuellen Menschen genau das eine Richtige - die freie Handlung, die er aus reiner Liebe tut. Nicht etwa, weil er durch irgendeine moralische Pflicht dazu gedrängt wird. Man erinnere sich an das „Märchen“ von Goldmarie und Pechmarie. Die Goldmarie geht durch den Garten des Lebens und tut genau das, was der Augenblick von ihr bedarf: Sie holt die Brote aus dem Ofen, der an ihrem Weg liegt. Sie schüttelt die Äpfel von dem Baum, der ihr begegnet. Und am Ende ihres Weges steht sie in einem Goldregen. Das ist das imaginative Bild dafür, daß ein solches Handeln aus Liebe zu der mir begegnenden „Welt“ die Erfüllung meines wahren Wesens bedeutet.

Was ist der Mensch? Was ist das wahre Ich? Es hat viel mehr mit der Welt zu tun, als sich das kleine Abbild, das wir normalerweise so nennen, das in Wirklichkeit aber nur das Ego ist, träumen läßt. In gewisser Weise ist das Ego das eine „Ende“ des wahren Menschenwesens. Die Welt ist das andere. Das Wesen des Menschen kann sich mit allem wahrhaft vereinigen. Das gewöhnliche Selbstbewußtsein ist sozusagen der „Anker“, der garantiert, daß das Menschenwesen immer Individuum bleibt. Das Ego für sich genommen ist aber völlig von der Welt getrennt, weil es ihr gegenübersteht. Es für das ganze Menschenwesen zu halten, ist die tragischste Illusion, die sich denken läßt.

Der Mensch wird Mensch, wenn er über sein „kleines ich“ hinauskommt und die übrige „Welt“ ebenfalls als zu seinem Wesen zugehörig zu erleben beginnt. Dann offenbart sich das wahre Ich.

In Jesus von Nazareth war dieses Ich erstmals voll an-wesend. Vielmehr, es war an-wesend das Urbild dessen, was in jedem Menschen ganz individuell werden soll. Dieses Urbild ist ein Wesen und wird vom Christentum Christus genannt. Indem Christus in Jesus zum Menschen wurde, schenkte er jedem Menschen die Möglichkeit, wahrhaft zum Ich zu werden. Und das wahre Ich jedes Menschen kann sich eben deshalb mit der Welt verbinden, weil das Welten-Ich diese Welt geschaffen hat. Das Johannesevangelium nennt es den Logos, der in der Zeitenwende Mensch wurde.

Wenn der Christus Jesus im Johannesevangelium die sieben Ich-Bin-Worte spricht, dann spricht das Welten-Ich, das immer auch das Ich meint, das in jedem Menschen erwachen kann. Im Griechischen braucht man das „Ich“ nicht zu erwähnen, weil es schon in der Verbform enthalten ist. Dennoch steht es im Text jedesmal da. Das eine Wort ist: „Ich bin das Licht der Welt!“. Und mitgesprochen ist damit: „Das Ich ist das Licht der Welt!“. Dieses wahre Ich ist seitdem ganz individuell das wahre Wesen jedes Menschen. Im Johannesprolog heißt es: Das war das wahrhaftige Licht, das, in die Welt kommend, jeden Menschen erleuchtet. Er war in der Welt, und die Welt wurde durch ihn, und die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in das Seine, und die Seinen nahmen ihn nicht an; so viele ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden..., die nicht aus dem Blut..., sondern aus Gott geboren sind. - Das wahre Wesen des Menschen ist nicht von dem physischen Leib abhängig, sondern es ist ganz real ein „Kind Gottes“.

Die Menschenkinder kommen aus der göttlichen Welt, darum offenbart ihr Wesen noch etwas von dieser Heimat. Die Aufgabe des Menschen ist es, zu seinem wahren Wesen wieder zu erwachen, wenn er erwachsen ist. Darum sagt der Christus: „So ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht in das Reich Gottes kommen.“ Was die Kinder noch unbewußt leben, muß bewußt erobert werden. „Wenn jemand nicht von neuem (oder: von oben her) geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen“. Und direkt danach heißt es: „aus dem Geist geboren“. - Worin aber zeigt sich dies, wenn nicht darin, daß man das erfüllen kann, was Er - nicht als Gebot, sondern - als Ziel des Menschen gezeigt hat? Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

Dies ist die höchste Berufung des Menschen. Der Mensch, der in der Liebe lebt, lebt in Gott. Im ersten Johannesbrief heißt es: Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Und der Mensch kann ahnen, was es heißt, wenn der Christus sagt: Ich im Vater und der Vater in mir. Und Er hat sogar gebetet: „...damit sie alle eins seien, wie du, Vater, in mir und ich in dir, daß auch sie in uns eins seien... ...daß sie eins seien, wie wir eins sind - ich in ihnen und du in mir...“.

Christus konnte sagen: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“. Das wahre Ich als Wesen des Menschen findet in Christus seinen Urgrund, aus dem heraus es lebt. So sind die folgenden Worte zu verstehen: „Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe nicht von sich selbst Frucht bringen kann, sie bleibe denn am Weinstock, so auch ihr nicht, ihr bleibt denn in mir. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“. Und dann dieses: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird auch die Werke tun, die ich tue, und wird größere als diese tun, weil ich zum Vater gehe. ... ...und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, daß er bei euch sei in Ewigkeit, den Geist der Wahrheit... An jenem Tage werdet ihr erkennen, daß ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch.“.

Dies alles kann man anfänglich erahnen an einem nebeligen Morgen oder in dem Blick eines jungen Mädchens...