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19.11.2002

Das Zeitalter der Macht beginnt

Anmerkungen zum Verständnis der US-Politik

Das Folgende sind episodische Ausführungen, die einen über den Standpunkt der US-Regierung und ihrer gewichtigen Berater illusionslos werden lassen und damit Zugang zur realen Wirklichkeit verschaffen. Wenn im folgenden von „den USA“ die Rede ist, dann sind immer diese Kreise gemeint.


Die USA haben nie die Genfer Konvention von 1949 (mit wichtigen völkerrechtlichen Vereinbarungen zu Menschenrechten im Kriegsfall), nie das Übereinkommen zum Verbot von Kindersoldaten oder die Konvention zum Verbot von Landminen unterschrieben. Als der Internationale Gerichtshof in Den Haag Anfang der 80er die USA aufgrund von Terrormaßnahmen gegen die gewählte Regierung in Nikaragua wegen „rechtswidriger Anwendung von Gewalt und der Verletzung internationaler Verträge“ verurteilte, erklärte die Reagan-Administration, man werde den IGH von nun an nicht mehr anerkennen. Die USA boykottieren Vereinbarungen über Kontrollmechanismen zur Biowaffen-Konvention, sie boykottieren alle Klimaschutzverhandlungen, erkennen den geplanten Internationalen Strafgerichtshof nicht an und haben angedroht, zukünftig eventuell angeklagte US-Bürger mit Gewalt zu befreien. Die Liste ließe sich noch weitaus länger fortsetzen. 

Nicanor Perlas, ein sehr engagierter Akteur der philippinischen Zivilgesellschaft, schildert ein Erlebnis während einer UN-Vollversammlung über nachhaltige Entwicklung 1997, an der er als Berater der philippinischen Delegation teilnahm:

Als das erste Treffen begann, war das erste, was passierte, daß der Vertreter der UN eine Liste der Länder verlas, die ihre Beiträge an die UN nicht bezahlt hatten. Eine Liste mit den Zahlen, wie viele Tausende oder Hunderttausende Dollar das jeweilige Land der UNO noch schuldig ist. Ich wartete auf die Nennung der USA, denn zu der Zeit schuldeten die USA der UNO 2 Millarden Dollar. Aber der Name dieses Landes wurde nicht vorgelesen, und so habe ich unseren Wirtschaftsminister gefragt: „Warum werden die USA nicht genannt?“ Er hat mir eine ziemlich undeutliche Antwort gegeben, etwa: „Du weißt, wie es läuft!“ Ich war sehr wütend und fragte: „Warum protestieren wir hier nicht?“ Nun, das nächste mal war eben dann jemand anders an meiner Stelle.


Die USA versuchen mit allen geeigneten Mitteln ihren Willen durchzusetzen. Jetzt steht der Irak im Mittelpunkt ihres Interesses. Während des ersten Bombardierung 1991 rühmte man sich des mit Präzisionswaffen geführten „chirurgischen Krieges“. Leider wurden aber auch Splitterbomben und tödliche Luft-Benzin-Bomben eingesetzt, und der Krieg kostete 100.000 Iraker das Leben. Vorsätzlich wurden an nicht-militärischen Zielen u.a. 22 Heizkraftwerke, acht Wasserkraftwerke und 31 Umspannwerke zerstört.

Es ist bekannt, daß es den USA im Nahen Osten um das Öl geht – hier lagert weit über die Hälfte aller Vorräte.

Schon Anfang 1980 betonte Präsident Jimmy Carter: Jeder Versuch einer fremden Macht, Kontrolle über die Golfregion zu erringen, wird als ein Anschlag auf die Lebensinteressen der Vereinigten Staaten verstanden und mit allen Mitteln, militärische inklusive, abgewiesen.

1991 schrieb Politikberater Charles Krauthammer in Foreign Affairs: Unsere beste Hoffnung auf Sicherheit ... ist Amerikas Stärke und die Willenskraft, eine unipolare Welt zu führen und ohne Scham die Regeln der Weltordnung festzulegen und sie auch durchzusetzen.

In den USA leben knapp 5% der Weltbevölkerung, ihre Wirtschaft macht 30% des globalen Bruttosozialproduktes aus, ihr „Verteidigungshaushalt“ von rund 320 Milliarden Dollar jährlich über 36% der weltweiten Militärausgaben.

John Gray, Anfang der 80er noch „Cheftheoretiker“ von Thatcher und einer der geistigen Väter des Thatcherismus, mit dem die neoliberale Wirtschaftstheorie begann, kehrte sich später von diesem ab und schrieb 1989:

Während Reagans Amtszeit wurde das öffentliche Bewußtsein dahingehend umgeformt, daß ihm zuletzt die Imperative des freien Marktes, die Interessen der großen Konzerne und die Freiheitsrechte samt den Grundsätzen ihrer Ausübung als ein und dasselbe galten. ... Der amerikanische Kapitalismus galt als Verwirklichung von Freiheit, und die Struktur der freien Marktwirtschaft in Amerika schien sich mit den Imperativen der Menschenrechte zu decken. ... Das gegenwärtige Projekt eines einzigen globalen Marktes ist die vom aufsteigenden Neokonservatismus vereinnahmte universale Mission Amerikas. Die Utopie des Marktes hat sich erfolgreich des amerikanischen Glaubens bemächtigt, ein einzigartiges Land zu sein, das Modell einer universalen Zivilisation, das allen Gesellschaften zur Nachahmung bestimmt ist. ... Wirtschaft und Politik der USA agieren unter der Voraussetzung, daß sie amerikanische Werte bis in den letzten Winkel der Erde tragen können.


Die gegenwärtig so diskutierte Doktrin der präventiven Selbstverteidigung war schon in einem wichtigen Dokument enthalten, das der heutige Vizeverteidigungsminister Wolfowitz 1992 verfaßte und das damals noch selbst in konservativen Kreisen auf allgemeine Kritik stieß. Oberstes Ziel sollte sein, zu verhindern, daß irgendwo auf der Welt eine Macht zum ebenbürtigen Konkurrenten werde.

1993 schrieb Clinton in einem geheimen Regierungsdokument: Mit den Vereinten Nationen wenn möglich, ohne sie wenn nötig ... Die NATO soll die Entscheidungskriterien für die Vereinten Nationen festlegen und nicht umgekehrt.

Schon auf einem NATO-Gipfel dieser Zeit wurde neu definiert: Sicherheitsinteressen des Bündnisses können von vielfältigen Risiken berührt werden, einschließlich der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, der Unterbrechung der Versorgung mit lebenswichtigen Ressourcen sowie von Terror- und Sabotageakten. Der „Spiegel“ Nr. 17/1993 zitiert einen hohen NATO-Offizier: Zuerst haben wir eine neue Streitkräftekultur vereinbart. Jetzt tüfteln wir an einer neuen Strategie, und am Ende werden wir dann die Bedrohung suchen, die zu beidem passen könnte. 1999 wurde zum 50-jährigen Jubiläum der NATO die neue Strategie in der „Erklärung von Washington“ verbindlich.

Am 23.9.1999 hielt George W. Bush, damals Gouverneur und Präsidentschaftskandidat eine Rede in der berühmten Militärakademie von Charleston. Er nannte zwei Hauptziele für den Umbau der Streitkräfte zu einer Armee für das nächste Jahrhundert. Erstens die Unverwundbarkeit der US-Militärmacht bzw. der USA mit Hilfe eines umfassenden Raketenabwehrsystems (NMD Natonal Missile Defense). Zweitens die Verbesserung der Fähigkeit, regionale Feindstaaten anzugreifen und zu erobern – durch Ausbau der Fähigkeit zur „power projection“. Mit Hilfe neuer Hightech-Waffen (verbesserte Sensorsysteme und unbemannte Flugkörper) und schlankeren Kampfeinheiten sollten die US-Streitkräfte im kommenden Jahrhundert agil, tödlich und mobil sein... Wir müssen in der Lage sein, unser Machtpotenzial über große Entfernungen und innerhalb von Tagen oder Wochen...in Stellung zu bringen. Unsere schweren Streitkräfte...müssen leichter werden. Unsere leichten Streitkräfte müssen tödlicher werden. Und alle müssen schneller ins Zielgebiet gebracht werden können. – Schon damals war die Doktrin der „Präventivverteidigung“ voll und ganz angelegt. Der 11. September gab den USA nur die einmalige Gelegenheit, sie auch ohne großen Widerstand durchzusetzen.

Der am 16.5.2001 vorgelegte Report der National Energy Policy Development Group formuliert die Sicherung zusätzlicher Erdöllieferungen als Priorität der US-Außenpolitik. Macht importiertes Öl heute die Hälfte des US-Verbrauchs aus, werden es 2020 zwei Drittel sein. Der Import, der heute schon über 10 Millionen Barrel täglich beträgt, wird dabei absolut um 60% zunehmen. Der Report legt der Regierung nahe, mit entschlossener Diplomatie die Golfländer dazu bringen, US-Unternehmen massive zusätzliche Investitionen zu gestatten. Zum anderen aber gelte es, auch die Importe aus der Kaspischen Region (Aserbaidschan, Kasachstan), Afrika (Angola, Nigeria) und Lateinamerika (Kolumbien, Mexiko, Venezuela) zu steigern. In all diesen Ländern herrschen seit langem instabile Verhältnisse oder ein ziemlicher Antiamerikanismus oder beides. – Hier schließt sich wieder der Kreis zu den militärischen Strategien der USA. Der „Antiterrorkrieg“ ist dann schließlich das vom Himmel gefallene oder vielmehr aus der Hölle aufgestiegene Mittel, mit dem die USA sich in den verschiedensten Regionen der Welt militärisch festsetzen können.

Was mag die Zukunft noch bringen?

Die Apokalypse (ein griechisches Wort mit der Bedeutung: „Offenbarung“) des Johannes spricht von dem Tier, das aus dem Abgrund aufsteigt. Wenn man ein Empfinden dafür entwickelt, daß die Welt nicht nur auf das Physisch-Sinnliche reduzierbar ist, kann man wieder neu etwas mit dem Begriff des Bösen verbinden und eben auch ein Empfinden dafür bekommen, daß dieses wesenhaft ist - wie auch anderes, zum Beispiel das, was die christliche Terminologie die Engelhierarchien nennt.

Das Böse hat sich gerade in unserem Jahrhundert mehr und mehr offenbart, wenn man nur an den Faschismus oder auch andere Massenmorde denkt, seien es Völkermorde, Massaker eines Psychopathen oder eines 16-jährigen Schülers. Es wäre eine abstrakte Vorstellung, wenn man meinen würde, das Böse habe es doch immer, und zwar immer eigentlich gleich gegeben. Der Unterschied zu früher ist, daß jene und viele andere Grausamkeiten aller Art zunehmend bewußter geschehen. Das Böse wirkt heute nicht mehr nur über Instinkte oder Massensuggestionen (man denke etwa an die Hexenverfolgungen). Es ergreift neben dem Gefühl immer mehr das Denken und das eigentliche Bewußtsein, und damit ergreift es immer mehr nicht nur die Massen (im Sinne einer Gruppen- oder Volksstimmung), sondern das einzelne Individuum. Das Bewußtsein des Menschen ist der eigentliche Ort, wo der entscheidende Kampf stattfindet – der Kampf um den Menschen selbst.

Hat man diese Gedanken einmal nach-gedacht und wendet sich wieder den konkreten Zeitereignissen zu, hat man vielleicht die geeigneten Grundlagen für eine wirklich eigenständige Urteilsbildung. Dieses eigene Urteil sollte hier keines­wegs vorweggenommen werden. Jedes Phänomen und Detail, jeder mögliche Gedanke wird aber den wirklich frei denkenden Menschen zu einem immer sichereren Urteil führen können. Ein Gedanke mag zunächst noch so abwegig erscheinen, er kann immer etwas enthalten, was man bisher übersehen hat, und den Blick auf Wesentliches richten helfen. Die Grundlage jeder Urteilsbildung trägt man in sich selbst: Es ist das Wahrheitsempfinden im eigenen Innersten. Wird man auf diese Quelle in sich aufmerksam, kann man lernen, mit immer größerer Sicherheit die Geister zu scheiden.