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19.06.2002

Gedanken zur Frage der „Führung“

Diese Gedanken entstanden im Zusammenhang mit der Situation in der Gemeinde Berlin-Wilmersdorf der Christengemeinschaft. Ein kleiner Kreis von Menschen befasste sich seit Ende 2000 mit der Frage der Gemeinschaftsbildung und den in ihren Augen unzeitgemäßen Strukturen (Gemeinderat, Kooptation, „Führung“ der Pfarrer...). In einem Gespräch zu dritt argumentierte ein Pfarrer dann, die Verkündigungs-Aufgabe der Pfarrer würde notfalls sogar die Entscheidung über die Farbe der Toiletten umfassen! Daraufhin verfasste ich den folgenden Text.


Die Pfarrer haben die Führung in der Gemeinde - was sich aus ihrem Amt und ihren Aufgaben ergibt. Aus ihrer Weihe zum Priester ergibt sich die Aufgabe, den Kultus zu zelebrieren, aus ihrer Einsetzung in das Amt des Pfarrers ergibt sich die Aufgabe von Seelsorge und Verkündigung. 

Die Verkündigung im engeren Sinne geschieht durch das Wort des Pfarrers, insbesondere in Predigten und Vorträgen. Daneben aber trägt alles, was in der Gemeinde sich abspielt auch den Aspekt der Verkündigung - nach innen gegenüber den Mitgliedern und nach außen gegenüber Menschen, die vielleicht zur Christengemeinschaft finden. Die potentiell immer gegebene Wirkung nach außen reicht z.B. bis in die Gestaltung der Toiletten.

Was aber bedeutet hier Führung? Ist hier eine äußere Führung gemeint, die sich u.U. auch gegen die Gemeinde richten kann? Ist es denkbar, daß der Pfarrer z.B. in einer Gestaltungsfrage anders als der Großteil der Gemeinde entscheidet, weil er meint, das Urteil der Gemeinde widerspreche der Aufgabe der Verkündigung? Heißt das, die Gemeindemitglieder selbst kümmern sich nicht oder schlecht um diese Aufgabe? Oder stellen sich sogar gegen das Christentum? Was bedeutet überhaupt Verkündigung im Bereich der Gestaltung, etwa der Toiletten? Kann es hier nicht nur darum gehen, daß man sich um eine ästhetische Gestaltung bemüht (die ja jeder im Sinn haben wird), damit erlebt werden kann, daß das Christentum z.B. durchaus auch mit vertieftem ästhetischem Erleben einhergeht?

Was bedeutet Führung der Gemeinde grundsätzlich? Aus dem Amt des Pfarrers und seiner Entsendung in eine Gemeinde ergibt sich zunächst die Pflicht zum rechten Wirken im Sinne der Weihe. Die Aufgabe der Führung ergibt sich so vor allem im Innern und muß vor allem auch so verstanden werden. Es geht um die großen Aufgaben und Pflichten des Pfarrers, von dessen Tun ja äußerst viel abhängt: Seelsorge; Gemeindebildung; Vertiefung des religiösen Erlebens, u.a. durch Vertiefung des Verstehens der Sakramente. In diesem Sinne bedeutet Führung eine reine Pflicht, die mit der Fülle der Aufgaben zusammenhängt, und hat nichts zu tun mit einem Anspruch auf Führung.

Es gibt zwei Arten der Führung. Im Bilde ist die eine so vorzustellen, daß ein ausgebildeter, verantwortungsvoller Führer den besten Weg für die ihm Folgenden sucht, ihnen vermittelt, worauf sie achten müssen und so weiter. Die andere Art der Führung besteht darin, daß der Führer einen Strick in der Hand hält und das Schaf ihm folgen muß, ob es will oder nicht. In beiden Fällen können sich die Beteiligten vollkommen frei fühlen, bis sie im zweiten Fall den Strick spüren, der ihnen stets nur den Weg offenläßt, den der Führer gehen will.

Das sind zwei Extreme, die auf die Situation einer Gemeinde bezogen etwas umgedacht werden müssen. Wenn es z.B. um eine Gestaltungsfrage geht, muß ja immer die ganze Gemeinde jede einmal getroffene Entscheidung mittragen. Ist aber die Gemeinde eine Gemeinschaft von Menschen, für die der Pfarrer Wege bereitet oder für die der Pfarrer den Weg bestimmt? Das sind auch wieder Extreme, aber offenbar behält sich der Pfarrer zumindest vor, gegen bestimmte Wege sein Veto einzulegen. Hier wären die Gründe entscheidend. Er kann z.B. der Überzeugung sein, daß eine bestimmte Entscheidung nicht zum Wohl der Gemeinde, der Aufgabe der Verkündigung, des Christentums überhaupt o.ä. ist. Die übrigen Gemeindemitglieder werden eine solche Entscheidung ebenfalls nicht treffen wollen. Die Frage ist also, welche Gründe der Pfarrer für seine Überzeugung hat. Wenn er sich der Richtigkeit seiner Überzeugung sicher ist, wird er sie auch begründen können. Aus seiner Aufgabe, seiner Lebenspraxis, seinem täglichen Umgang mit den Sakramenten heraus mag er eine derart vertiefte Verbindung zur geistigen Welt haben, daß er im Einzelfall Aspekte sieht, die nur wenige andere Gemeindemitglieder auch sehen. Dann wird der Pfarrer auch mit Recht eine „äußere“ Führung beanspruchen können. Er muß aber eben seine Gründe darlegen können, und mir ist nicht klar, wie nicht der Mehrheit der Gemeinde durch die Wahrheit Aspekte einsichtig gemacht werden können, die bisher so nicht gesehen worden waren.

Führung beinhaltet eben auch, daß sich im Gespräch über die Urteilsgrundlagen die beste Lösung für eine Frage mit Sicherheit finden wird. Die Führung hat dann in erster Linie zu gewährleisten, daß dieser Prozeß immer wieder möglich ist und sich auch ereignet. - Gerade wenn (letztlich auch im großen Kreis!) die beste Lösung sich nicht klar offenbart, hat die Führung versagt, und zwar nicht, weil überhaupt zu viele „Meinungen“ „zugelassen“ wurden. Es soll ja gerade im Anschauen der Meinungen und durch sie hindurch zu etwas Objektivem der Weg gefunden bzw. geführt werden. Es ist ja erst gemeinsam zu üben, das Subjektive mehr und mehr zu erkennen und immer besser vom Sachgemäßen zu trennen - und mit Führung ist diese notwendige Übung eben möglich. Führung in diesem Sinne führt also (wortwörtlich) zur Ausbildung von Fähigkeiten.

Führung bedeutet zunächst die Verantwortung dafür, daß die Wege der Gemeinde „nach bestem Wissen und Gewissen“ gegangen werden. Im Grunde müßte dazu gerade immer jedes Mitglied nach seinen Kräften beitragen, da nur so mit Sicherheit die größtmögliche Fülle der Aspekte sichtbar wird. Sieht man davon aber erst einmal ab, so wäre bei einem bestimmten „Problem“ zunächst die Frage, wie man auch in einem kleinen Kreis zu einem Urteil kommt, von dem man das Gefühl haben kann, daß es gut ist und der Aufgabe halbwegs gerecht wird. Schon hier zeigt sich ja, daß der Pfarrer viele Fragen gar nicht gut selbst beurteilen kann. Schon hier ist also klar, daß Führung in dieser Hinsicht nur die Pflicht bedeuten kann, die Bedingungen dafür zu gewährleisten, daß kompetente Entscheidungen getroffen werden können. Die Durchsetzung dessen, was man nur selbst für richtig hält, wäre also eine Verfehlung der Aufgabe „Führung“.

Wie verändert sich die Fragestellung, wenn potentiell die ganze Gemeinde mit einbezogen wird? Es wächst heute die Zahl von Menschen, die, wenn sie sich mit einer Sache verbunden haben, auch Verantwortung dafür übernehmen und sich Kompetenzen erwerben wollen. Das kann schon bedeuten, daß man die Dinge aktiv mittragen möchte und erlebt, daß dies auch das Recht einschließt, in den Urteilsfindungen mitzusprechen, wenn man wirkliche Offenheit für Aspekte aller Art mitbringt, also gegenüber Wahrheiten, Bedürfnissen anderer und so weiter. - Das ist meiner Ansicht nach ein Phänomen der Bewußtseinsseelen-Entwicklung: Man mag in vielen Dingen zunächst oder auf Dauer nicht die Kompetenzen haben, die einige andere in diesen Dingen haben, aber man will Entscheidungen aus Einsicht mittragen. In Anlehnung an ein Wort Rudolf Steiners könnte man sagen: Nicht jeder hat die Fähigkeit und Kompetenz, für eine bestimmte Frage eine gute Lösung zu finden. Aber sobald die Lösung gefunden ist, können jedem die Gründe, warum sie gut ist, einsichtig gemacht werden.

Zweitens gehört zu diesem Aspekt der Bewußtseinsseelen-Entwicklung meiner Ansicht nach oft ein weiteres Bedürfnis: Man will erleben, daß jederzeit die Möglichkeit gegeben ist, seine eigenen Kompetenzen zu offenbaren, wann immer solche vorhanden sind. Dies muß möglich sein, ohne daß man von außen vor-beurteilt wird und ohne daß man sich vorher jahrelang bei verschiedenen Gemeindeaktivitäten eingebracht hat (man bedenke das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg). - Bei der Suche nach richtigen und guten Gestaltungen ist es wichtig, daß Kompetenz und eine ernsthafte Mitgliedschaft vorhanden sind. Mitgliedschaft hängt aber vom gegenwärtigen Augenblick ab: In der Gegenwart muß dieser Ernst gegeben sein, das ist entscheidend. Wer schon lange diesen Ernst lebt, für den strahlt dieser auch vertiefend in sein gegenwärtiges Mitgliedsein hinein. Das ist aber kein Grund, jene von Entscheidungen auszuschließen, die diesen Ernst erst seit kurzem leben. Wer solchen Ernst mitbringt, der wird auch erleben, wo dieser Ernst bei anderen vorhanden ist und wo er schon lange wirkt, und er wird auf das Urteil jener Menschen, die er in dieser Weise wahrnimmt, sehr genau hören (dies widerlegt jeden Vorwurf der „zeitlosen Gleichmacherei“!). Wo ein „junges“ Mitglied aber erleben muß, daß man versucht, den Ernst gewissermaßen nach „Dienstjahren“ zu beurteilen, kann es dort nicht mit Recht das Gefühl bekommen, daß der wirkliche Ernst eigentlich nicht wahrgenommen wird? - Man mißversteht mich völlig, wenn man vermutet, daß ich langjährige Arbeit geringschätze oder entwerten wollte. Das Gegenteil ist der Fall. Ich versuche darauf hinzuweisen, daß die Gefahr besteht, eine noch „neue Mitgliedschaft“ zu gering zu schätzen.

Es kann auch nicht sein, daß man von außen Kriterien an ein neues Mitglied heranträgt, um dessen Ernst nach seinen eigenen Maßstäben zu beurteilen. Dies ist höchstens eine sichere Methode, um Ich-Begegnungen zu vermeiden. - Manche Äußerungen hören sich in der Tendenz so an, als könne jemand, der nie den Rasen mäht, nicht als zutiefst ernsthaftes Mitglied gelten. Ich denke, darin auch nur ein Indiz zu sehen, ist grundfalsch. Richtiger wäre ein umgekehrter Schluß: Vielleicht gibt es mit verschiedenen Arbeiten in der Gemeinde ziemliche Not, weil solche Kriterien atmosphärisch in der Gemeinde leben. Scheinbar schätzt man das Rasenmähen so hoch wie alle anderen Arbeiten, indem man es zu einem Kriterium macht, an dem sich Mitgliedschaft beweisen kann. Aber gerade dadurch, daß ich Rasenmähen zu einem Kriterium mache, entwerte ich es. Ich entwerte etwas, wenn ich es nicht für sich ernst nehme, also in diesem Fall, indem ich das Rasenmähen zu einem Kriterium mache. Mähe ich selbst denn den Rasen? Mähen die Gemeinderatsmitglieder ihn bisweilen noch (sofern sie es früher einmal getan haben)? Vielleicht ahnen Sie, worauf ich hinweisen möchte.

Allgemein kann sich Mitgliedschaft für andere nur in der Begegnung von Ich zu Ich erweisen. Ich kann es leider nur etwas provokant auf den Punkt bringen: Die Pfarrer haben ihre Fülle von Aufgaben; die Gemeinderatsmitglieder haben ihre verantwortungsvolle Aufgabe, nur die „einfachen“ Mitglieder müssen erst einmal durch mehrere Garteneinsätze, Sommerfeste, Basare, Weihnachtsspiele usw. hindurch beweisen, daß es ihnen mit der Mitgliedschaft in der Christengemeinschaft ernst ist? Damit man dann vielleicht daran denken kann, sie in interne Entscheidungsprozesse einzubeziehen? Aber auch dann nicht, weil sie aus Verantwortungsbewußtsein schon lange dieses Bedürfnis haben, sondern weil man selbst es nun für gut befindet? - Ich tue sicherlich all jenen Menschen unrecht, die selbst auf der Suche nach zeitgemäßen Formen des Umgangs miteinander sind und hier mit Fragen ringen. Es tut mir leid, daß ich nur auf diese Weise andeuten kann, worum es mir geht. Andererseits erlebe ich die bestehenden Strukturen in gewisser Hinsicht durchaus so wie angedeutet, und wenn es auch anderen Menschen so geht, beweist dies eben die Notwendigkeit, gemeinsam nach neuen Formen zu suchen. - Und ich möchte einmal die Behauptung aufstellen: Wenn wir Formen finden, wie alle Mitglieder der Gemeinde in Entscheidungsprozesse einbezogen werden (und zwar vom Ansatz her wirklich als Gleiche unter Gleichen), dann gewinnen auch alle in der Gemeinde notwendigen Arbeiten ihre Weihe zurück - und werden getan werden.

Ich komme nun wieder auf die Frage der Führung direkt zurück. Führung ist nötig, solange die mir Anvertrauten unmündig, noch keine wirklichen Ich-Menschen sind. Führung im christlichen Sinne beinhaltet aber gerade als größte Aufgabe, dieses wahre Ich jedes Menschen herauszurufen. Jeder seelisch-geistig halbwegs gesunde Mensch erkennt wahre Führung in diesem Sinne an. Allerdings gilt dies nur solange, bis der Christus auch aus ihm spricht. Dann kann es keine äußere Führung mehr geben.

Nun hat die „Führung“ der Pfarrer ja auch den Aspekt, daß sie alles, was in der Gemeinde geschieht, zu verantworten haben. Also selbst wenn gar nicht die Frage der Führung von Menschen innerhalb oder außerhalb der Gemeinde berührt ist, würde dieser Aspekt dazu führen, daß ihnen das letzte Wort zusteht. Das kann in dieser Hinsicht aber nur im Sinne eines Vetorechtes sein und nicht ein positives Recht, zu sagen, so werde etwas gemacht.

Wer wirklich überzeugt ist, daß etwas im Begriff ist, falsch beschlossen zu werden, kann dies immer begründen - und muß es als Pfarrer auch, denn nur so können die Gemeindemitglieder sich zeitgemäß seiner Führung unterstellen: aus Einsicht. Führung kann in der Christengemeinschaft meiner Ansicht nach niemals absolut verstanden werden. Nicht nur die Priester, sondern auch andere Mitglieder ringen zutiefst ernsthaft um das Leben mit dem gegenwärtigen Christus. Und zum einen muß man doch auch als Priester sich der Weihe immer wieder würdig machen, zum anderen muß man doch von der Priesterkirche wegkommen wollen, an der die Gemeinde nur teilhaben darf. Was aber ist dafür nötig? Und wie weit sind wir nach 80 Jahren wirklich? Wirklich, das heißt: Vor den Augen des Christus?

In der Gemeinde müßte meiner Ansicht nach viel mehr an der Bildung von Verantwortungsfähigkeit gearbeitet werden. Das sind Ich-Fähigkeiten. Dazu gehört z.B. auch die Fähigkeit der Gemeindemitglieder, die Gremien (selbst, d.h. nicht „angeleitet“ durch Kooptation) zu wählen, die wirklich fähig Urteilsgrundlagen bilden und Entscheidungen vorbereiten oder sogar treffen können. Natürlich immer mit Beteiligung der Pfarrer und mit deren Recht auf begründetes Veto. Wenn die Pfarrer gegen irgendetwas ihr begründetes Veto einlegen, dann muß es anerkannt werden. Es geht mir hier um das Ideal und nicht um Machtspiele.

Wenn die Pfarrer selbst die Notwendigkeit neuer Strukturen erkennen, werden sie selbst auch am besten die älteren Menschen einbeziehen können, die vielleicht (!) diese Bedeutung nicht mehr sogleich erkennen. Wenn diese neuen Strukturen mehr Gespräch erfordern, dann kann man das Notwendige nicht deshalb sein lassen, weil ein Teil der Gemeinde (viele der Älteren) - scheinbar? - jeden Freitag einen Vortrag hören wollen. Die Rücksicht auf derartige Bedürfnisse ist ein berechtigter Aspekt der Seelsorge, aber es existiert hier kein automatischer Anspruch. Seelsorge steht meiner Ansicht nach nicht höher als die Aufgabe, Zukunft zu schaffen. Mit dieser Aufgabe befinden wir uns ohnehin im Rückstand, wenn man bedenkt, was heute immer mehr notwendig wäre: Die Wahrnehmung des ätherischen Christus! Es kann also immer nur um einen echten Ausgleich der realen Aufgaben gehen. Aber hier muß sich überhaupt gar kein grundsätzlicher Konflikt auftun. Seelsorge besteht doch letztlich immer im Aufleuchtenlassen des Ideals. Die recht verstandenen Notwendigkeiten des Bewußtseinsseelen-Zeitalters gehen nicht an den Alten vorbei, sondern brauchen auch sie. Und gerade indem man versucht, auch bei ihnen ein Verständnis für das heute Notwendige zu wecken, nimmt man sie ernst und schließt möglicherweise Tore auf, durch die die Lebensweisheit der Älteren zugänglich wird und wirklich die ganze Gemeinde in bezug auf die Gegenwartsaufgaben zu wirken beginnt.