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06.03.2002

Brief an eine Trauernde


Wenn ein uns eng verbundener Mensch über die Schwelle des Todes geht, fühlen wir uns zunächst völlig von ihm getrennt.
Wir fühlen ihn für uns verloren, wir können ihn nicht mehr sehen, nicht mehr hören, nicht mehr mit ihm telefonieren. Und zwar endgültig. Nie mehr in der ganzen Zeit, die wir überschauen. Dies wird einem allmählich bewußt. Und weil die Zukunft – die gemeinsame mit diesem Menschen – nicht zu existieren scheint, wendet sich der Blick in die Vergangenheit.

Die Erinnerung wird wachgerufen, Du begibst dich vielleicht noch einmal innerlich zu allen Momenten, die Dir bedeutsam waren. Und nun erscheinen sogar Augenblicke bedeutsam und wertvoll, die als ganz unwichtig durchlebt worden waren. Jeder Moment wird wichtig, wenn man merkt, daß er sich nicht wiederholt und daß es überhaupt keine neuen Momente in dieser Art mehr geben wird.

Es kommt einem allmählich und plötzlich zu Bewußtsein, was man alles versäumt hat, was man falsch gemacht hat, was man hätte anders, besser - oder einfach: was man hätte mehr tun können. Hätte man sich nicht glücklicher verabschieden können? Habe ich ihr nicht nur Schmerzen bereitet?

Es ist gut, Versäumnisse zu erkennen und es ist gut, an ihnen zu leiden. Denn das Leid verwandelt. Die Vergangenheit wiederholt sich nicht, und sie kann nie mehr rückgängig gemacht werden. Sie kann es nicht, und sie braucht es nicht - beides aus demselben Grund: weil sie Vergangenheit ist. Als solche ist sie nicht mehr real. Deswegen kann sie nicht rückgängig gemacht werden. Aber sie verwandelt die Zukunft.

Jemand ist gestorben - ich denke zurück an die gemeinsamen Zeiten und wünsche mir die Vergangenheit als fortdauernde Gegenwart. Indem ich daran leide, daß die geliebte Person nicht mehr gegenwärtig ist, wandelt sich alles. Ich selbst öffne mich für die Wandlung. Was kann geschehen? Ich kann in meinem ganzen Leiden und angesichts meiner Versäumnisse und der nie mehr existierenden Möglichkeiten offen werden. Ich entferne mich in meinem Leiden ein Stück weit von dem, was ich gewohnheitsmäßig und als aus Gewohnheiten bestehende Person bin, und werde wandlungsfähig und offen für - das Wirken der Liebe selbst.

Ist das nicht ein Wunder? Im Leiden kann ich am ehesten das Wesen der Liebe erleben. Was bemerken wir schon im Alltag? Ist es uns überhaupt manchmal ein wenig bewußt, was in dieser Welt eigentlich wichtig ist? Die wesenhafte Liebe aber will in jedem Augenblick unter uns wirken. Und sie tut es besonders, wenn wir leiden. Dann sind auch wir offen für ihr Wirken.

Darum kann die Vergangenheit die Zukunft verwandeln. Die vergangenen Ereignisse können uns, obwohl wir nur noch wie schattenhaft in ihnen leben können, offen machen für das Erleben der in der ewigen Gegenwart wirkenden Liebe.
 
So offenbaren die scheinbar vergangenen Ereignisse im nachhinein ein großes Geschenk der Toten an uns. Und so auch sind die vergangenen Ereignisse kein Schein, sondern das Tor zur gegenwärtigen Verbundenheit mit den geliebten Menschen, auch wenn sie durch den Tod gegangen sind. 

Wer durch den Tod gegangen ist, der lebt - und wahrscheinlich sogar mehr als wir. Und ebenso wahrscheinlich ist er mit uns im Leib Lebenden viel enger verbunden als es im Erdenleben überhaupt möglich ist. Wir haben also vom Vergangenheitserleben aus einen Verlust erlitten, in Wirklichkeit aber haben wir eine große Aufgabe anvertraut bekommen. Wir können lernen, mit dem geliebten Menschen in eine neue Begegnung zu treten. Weil diese aber rein geistig sein muß, ist es eine Art der Verbindung, die geübt werden will. Im Erdenleben begegnen wir uns, wenn wir nur unsere Beine in Bewegung setzen; in der geistigen Welt nur, wenn wir es wirklich und stark wollen, und auch dann muß die Gnade dazukommen.

Aber auch wenn die bewußte Begegnung einem nicht geschenkt wird, ist die Verbindung da. Jeder Gedanke wird den geliebten Menschen erreichen, wenn er in der geistigen Welt begonnen hat, die dort nötigen Organe zu entwickeln. Und wir müssen auch aus Rücksicht auf ihn üben, unsere Seele leiten zu können. Jeder schmerzvolle Gedanke von uns wird für den in der geistigen Welt lebenden Menschen doppelt schmerzvoll erlebt werden. Zum einen wird er ohne die dämpfende Leiblichkeit den Schmerz unmittelbar wahrnehmen können, zum anderen wird er selbst so von Liebe erfüllt sein, daß es ihm allein Schmerzen bereitet, uns so leidend zu erleben, während uns um seinetwillen doch Freude erfüllen müßte.

Der in der geistigen Welt lebende Mensch kann uns in jedem Augenblick nahe sein und uns in allen unseren Aufgaben beistehen, wenn wir seinen Rat suchen, und auch, wenn wir ihn nicht suchen, aber brauchen könnten. Aus dem Tod ersteht das Leben. Die Toten stehen der Erde und den im Leib Lebenden in unendlicher Treue nahe.

Die geliebten Toten sind es, die uns Kraft geben wollen, wenn wir mit den Widrigkeiten unserer Zeit, mit unseren menschlichen Schwächen, mit den versucherischen Impulsen zu kämpfen haben; wenn wir träge sind, wenn wir aufgeben wollen, wenn wir die ganze Welt anklagen.

Du weißt, daß die Ver­storbenen die eigentlich Lebendigen werden. - Sie sind es, die die große Aufgabe der einen Mensch­heit deutlich vor sich sehen und voller Vertrauen auf uns blicken, die wir dieses Werk mit ihrer Hilfe tun können. Sie hoffen darauf, daß wir nicht in Blindheit und Schwäche verzweifeln und daß wir die Verbindung zur geistigen Welt, die nun ihre Heimat ist, nicht verlieren. Auf daß wir das Wissen um die eigentlichen Dinge hüten und mutige Kämpfer des Einen werden, der die Liebe ist.