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07.11.2002

Zur Konstitutionsfrage der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 15.11.2002 (Nr. 47) unter dem Titel „Rückblick auf die damaligen Ereignisse“. Da es sich um einen Beitrag für das Forum zur Konstitutionsfrage handelte, war die Zeichenzahl auf 1.500 Zeichen begrenzt.

>> Brief vom 31.10.2002 an den Vorstand in Dornach. / >> Chronik der Konstitutionsfrage bis Herbst 2002.

 

Steiner wollte die Weihnachtstagungsgesellschaft niemals als Verein konstitutieren – und gerade deshalb den Bauverein umbenennen in den Verein AAG.

„Unterabteilungen“ sollten sein: anthroposophische Gesellschaft bzw. ihre Administration, Administration des Goetheanum-Baues, Verlag und Institut Arlesheim. Registriert wäre ein kleiner Verein mit wenigen Mitgliedern, die Unterabteilung Weltgesellschaft wäre allem Vereinsmäßigen enthoben! Das Verbindende wären die Menschen, die die Vorstände des Vereins AAG, der Gesellschaft und der Hochschule bilden – trotz Personalunion völlig verschiedene Gremien.

Sieht man Hochschule und Weltgesellschaft als „Glieder“ eines Vereins und regelt ihr Verhältnis satzungsmäßig („Ergänzung“ der Statuten und Eintragung als Verein), gerät alles in einen Bereich, in dem es untergeht. In einem Verein haben Mitglieder Entscheidungsrechte, die Hochschule jedoch arbeitet aus sich heraus, das Ziel der Gesellschaft ist die Förderung der Geisteswissenschaft. Umgekehrt können Hochschule und Vorstand nicht autoritativ in die Gesellschaft eingreifen (Ausschluß!).

Für die Gesellschaft gelten die Statuten, für den kleinen Verein AAG gälte eine zeitgemäße Vereinssatzung ohne Vorschriften für Hochschule oder Gesellschaft. Der Verein ist die formal-rechtliche, irdische Hülle, die den Organismus Weltgesellschaft und Hochschule trägt (Leben und Seele der Anthroposophie, ein esoterischer Vorstand hätte die Aufgabe des Ich zu übernehmen - im Sinne des „Nicht ich, sondern...“). Das Ganze ist wie ein Mensch, und das Vereinsmäßige darf nicht in die höheren Wesensglieder übergreifen – sonst erfolgt keine Neuergreifung, sondern die tatsächliche Vernichtung der Weihnachtstagungsgesellschaft.

Erläuterung

In der Konstitutionsfrage dreht sich der Streit vor allem darum, wie das Verhältnis von Weihnachtstagungsgesellschaft und dem 1925 entstandenen Verein zu deuten ist. Gibt es die WTG noch, ist sie verduftet, wie kann sie wieder begründet und in Übereinstimmung mit dem bestehenden Verein oder zumindest mit juristischen Voraussetzungen gebracht werden? Das sind die verbreiteten Fragen, wobei der Vorstand jetzt zügig die Identität bzw. Absorption erklären will, damit die WTG dann eindeutig als existent erklärt werden und auch juristisch als Verein eingetragen werden kann.

Die Anthroposophische Gesellschaft war aber von Steiner niemals als Verein gedacht gewesen und der Vorstand hat nichts mit einem Vereinsvorstand zu tun, der etwa gewählt werden müßte oder ähnliches. Formaljuristisch sollte die Weltgesellschaft der Weihnachtstagung (bzw. ihre Administration) als Unterabteilung eines Vereins AAG laufen. Der Vorstand der WTG ist der gleiche wie der Vorstand des Goetheanums als freie Hochschule bzw. der Vorstand dieses neuen Vereins AAG, doch real gesehen sind es jedesmal völlig unterschiedliche Gremien, deren Verbindung nur durch die Personaleinheit gegeben ist.

Wie der ehemalige Bauverein sollte der neue Verein AAG nur ganz wenige ordentliche Mitglieder haben. Die WTG hat auf die Initiativen am Goetheanum keinerlei Einfluß, sondern sieht das Goetheanum als zentrale Pflegestätte der Anthroposophie an, aus deren Quell sie schöpfen kann. Nach Dornach hin ist die WTG gewissermaßen eine Förderin dessen, was am Goetheanum getan wird, zum Umkreis hin kann innerhalb der WTG die Anthroposophie in freiester Weise auf jede nur erdenkliche Art gepflegt werden. §13 der Statuten sieht ausdrücklich vor, daß alle Arbeitsgruppen ihrerseits eigene Statuten bilden sollen, was aber nicht geschehen ist.

Diese Intentionen Steiners werden völlig übersehen oder übergangen, wenn man nur diskutiert, in welcher Weise die WTG heute besteht. Wenn man dann noch überlegt, wie die WTG als Verein eingetragen werden kann, wird diese nach fast 80 Jahren nicht neu begründet, sondern vernichtet.

Einem Menschen, mit dem ich über diese Fragen damals im Austausch stand, schrieb ich:


Ihrer Einschätzung, daß die AG vor dem Nichts steht, kann ich nur zustimmen. Ich habe den Eindruck, der Vorstand verschließt sich aktiv neuen Einsichten. Wenn das Argument, daß die überwiegende Mehrzahl der Mitglieder endlich klare Verhältnisse will, ernst gemeint ist, dann fühlt er sich natürlich auch von dieser Vorstellung getrieben und wird schon deshalb seinen Zeitplan nicht mehr aufgeben. Doch wäre auch hier seine Aufgabe, die Mitglieder davon zu überzeugen, daß man auch inmitten sehr unklarer Verhältnisse sehr wohl Anthroposophie treiben könnte und daß es eben wichtig ist, zunächst Erkenntnisarbeit zu leisten. 

Bleibt also doch nur, daß der Vorstand in seiner Sichtweise ganz real befangen ist oder sogar wider besseres Wissen die Konstitutionsfrage auf seine Weise lösen will. Zu dieser Vorstellung kann man angesichts der immer wieder – unter anderem von Ihnen – öffentlich aufgeworfenen Fragen und gegebenen Hinweisen durchaus kommen.

Die Form, die Steiner intendiert hat, ist ja der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt, weil es dort in und trotz voller Freiheit ganz auf die Zusammenarbeit zwischen Mitgliedern und Vorstand, zwischen Mutterinstitution und allen übrigen Arbeitsgruppen ankommt. Wenn eine Seite die andere nicht anerkennt und das Wirken im gemeinsamen Sinne aufhört, ist die Anthroposophie immer unmittelbar bedroht. Es gehört aber die Möglichkeit des Scheiterns und des Todes zum Leben dazu, und ohne solche Tode und Durchgänge durch das Nichts gibt es keine Auferstehung und damit keine Offenbarung des wahren Wesens. In jeder Institution – und so auch beim Vorstand der AG – gibt es die Versuchung der Macht und die paradoxerweise ganz ähnlich wirkende Versuchung, die eigene Institution vor möglichen Gefahren der Anarchie und des Zusammenbruchs dadurch zu schützen, daß man sie in die gutbürgerlichen Geleise überführt – was aber für anthroposophische Institutionen gerade das Todesurteil ist.

Umfassender betrachtet, habe ich den Eindruck, daß die Konstitutionsfrage deshalb zumeist so wenig wichtig genommen wird, weil überhaupt zu wenig die Frage lebt, wo die Anthroposophie heute steht. Ob sie nicht vielleicht wie der Christus durch den Materialismus ebenfalls fortwährend im Übersinnlichen gekreuzigt wird – durch das Unverständnis der Anthroposophen über ihre Aufgaben, oder durch die Unfähigkeiten der Menschen, Anthroposophen zu sein. Oder dadurch, daß viele die Tatsache verschlafen haben, daß sie längst nicht mehr zu den Suchenden gehören. [...]

Brief an den Vorstand in Dornach

Sehr geehrte Mitglieder des Vorstandes,
sehr geehrte Frau Sease, Herr Mackay, Herr von Plato, Herr Zimmermann, Herr Prokofieff, Herr Pietzner,

angesichts der für die Anthroposophische Gesellschaft und die Freie Hochschule entscheidend wichtigen Konstitutionsfrage schreibe ich Ihnen diesen Brief – da alle entscheidenden Intentionen Steiners offenbar unverstanden bleiben oder mißachtet werden.

Es wird diskutiert, ob die Weihnachtstagungsgesellschaft noch bestehe oder nicht und wie sie gegebenenfalls neu – auch juristisch – begründet werden könne. Es wird diskutiert, wie das Verhältnis des 1925 entstandenen Vereins zu der Weihnachten 1923 neu gegründeten anthroposophischen Gesellschaft zu verstehen sei. Bei der Frage der ein oder zwei Vereine, der Neubegründung durch Willenserklärung, der Absorption oder noch verwickelterer formal-juristischer Fragen übersieht man völlig, wie Rudolf Steiner die anthroposophische Gesellschaft konstituieren wollte. Schon deshalb können Rechtsgutachten (!) niemals Aufschluß über das Wesentliche geben, weil sie Anthroposophie überhaupt nicht erfassen können.

Während 1925 die Vorstellung in die Welt gesetzt wurde, der in AAG umbenannte Bauverein sei identisch mit der Weihnachtstagungsgesellschaft, wird inzwischen seit einigen Jahren darüber diskutiert, was in welcher Form fortbestanden habe. Übersehen wird, daß Rudolf Steiner die Weihnachten 1923 neu begründete anthropo­sophische Gesellschaft eindeutig niemals als Verein konstituieren wollte. Gerade deshalb beabsichtigte er die nur zunächst merkwürdige Konstruktion, den bestehenden Bauverein umzubenennen: um die anthroposophische Gesellschaft als solche von allem Vereinsmäßigen fernzuhalten.

Die Weihnachtstagungsgesellschaft („Anthroposophische Gesellschaft im engeren Sinne“), oder genauer gesagt ihre Administration, sollte formell als Unterabteilung des neuen Vereins laufen, ebenso wie die Administration des Goetheanum-Baues, der Verlag und das Institut in Arlesheim. Auf diese Weise wären alle wichtigen Einrichtungen der anthroposophischen Bewegung in einem Organismus vereint, ohne in das Vereinsmäßige hineingezogen zu werden. Vereinsmäßig wäre nur der neue Verein selbst.

Das Verbindende wären die Menschen, die den Vorstand sowohl des Vereins als auch der Unterabteilung „anthroposophische Gesellschaft“ bilden. Die Personalunion darf nicht vertuschen, daß es sich hier um absolut verschiedene Gremien handelt. Der Vorstand der Weihnachtstagungsgesellschaft (WTG) ist absolut kein Vereinsvorstand, der personell identische Vorstand des Vereins AAG sehr wohl. Entscheidend ist, daß Rudolf Steiner den Bauverein umbenennen wollte, der auch nach seiner Umbenennung nur die gleichen wenigen ordentlichen Mitglieder gehabt hätte, nämlich im wesentlichen den Vorstand selbst.

Die Konstruktion ist also die folgende: Formal-juristisch ist ein kleiner Verein registriert, der sich von Bauverein in AAG umbenannt hat und einige Mitglieder ausweist, die durchaus ganz nach Vereinsrecht den Vorstand bilden usw. – Eine Unterabteilung dieses kleinen Vereins ist die Weltgesellschaft der Weihnachtstagung, ganz dem Vereinsmäßigen enthoben! Eine atemberaubende Konstitution, aber gänzlich sachgemäß.


Die Freie Hochschule und die Weltgesellschaft bilden einen Organismus mit ganz unterschiedlichen Aufgaben. Sobald man beide als Glieder eines Vereins ansieht und ihr Verhältnis satzungsmäßig regelt (Ergänzung der Statuten und Eintragung als Verein), wird das Ganze in einen Bereich gezogen, in dem es untergeht. In einem Verein haben die Mitglieder Mitsprache- und letztlich Entscheidungsrechte über alles, was geschieht. Die Freie Hochschule jedoch arbeitet aus sich heraus, und die Gesellschaft kann nicht entscheiden, was dort geschieht (Das Ziel der Anthroposophischen Gesellschaft wird die Förderung der Forschung auf geistigem Gebiete, das der freien Hochschule für Geisteswissenschaft diese Forschung selbst sein). In einem Verein können Mitglieder ausgeschlossen werden. Hochschule und Vorstand aber können nicht autoritativ in die Weltgesellschaft eingreifen und etwa eines deren Mitglieder ausschließen.

Für die anthroposophische Gesellschaft - als „freieste Gesellschaft, die es geben kann“ - gelten die Statuten genau so, wie Steiner sie intendiert und gegeben hat. Für den eingetragenen Verein AAG (in dem die Mitglieder der WTG nicht Mitglied sind) gilt eine Vereinssatzung, die jeweils den Zeiterfordernissen und Rechtsvorschriften angepaßt wird. Diese Satzung beinhaltet keinerlei Vorschriften für Hochschule oder Gesellschaft, sondern der Verein AAG ist die irdische Hülle, die als formal-rechtliche Einrichtung den Organismus Weltgesellschaft und Hochschule trägt (gewissermaßen Leben und Seele der Anthroposophie, ein esoterischer Vorstand hätte die Aufgabe, die Funktion des Ich zu übernehmen - im Sinne des „Nicht ich, sondern...“). Der gesamte Organismus Anthroposophische Gesellschaft hat dieselben Wesensglieder wie der Mensch und das Vereinsmäßige darf nicht in die höheren Wesensglieder übergreifen!

Wird dies alles nicht verstanden und statt dessen die Weihnachtstagungsgesellschaft unter Anpassung der Statuten als Verein eingetragen, erfolgt nach fast 80 Jahren keine Neuergreifung, sondern die tatsächliche Vernichtung dieser 1923 neu begründeten anthroposophischen Gesellschaft.

Sehr geehrte Mitglieder des Vorstandes, ich bitte Sie herzlich, diese Ideen und Intentionen Steiners zu ergreifen.