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24.08.2002

Statistik- und Bilanztricks: Lügen ist Macht

Ein berühmter Mathematiker sagte einmal, er glaube keiner Statistik, die nicht von ihm gefälscht ist. Für den Normalbürger gelten Zahlen oft immer noch als „handfest“. Politiker und Unternehmer dagegen ziehen ganz selbstverständlich alle Register, um die gewünschten Ergebnisse zu „verkaufen“. Das fängt schon bei der Sprache an („Nullwachstum“, „Minuswachstum“, „negativer Bilanzüberschuß“). „Besser“ ist es aber, wenn es sich mit den Zahlen fortsetzen läßt.


Gute Zahlen beflügeln den Aufschwung, nicht umsonst haben die Führer aller deutschen Parteien gehofft, daß Brasilien das Finale der Fußball-WM verliert... Wenn allerdings die Psychologie unbequem wird, zählt sie nicht. So wird behauptet, die Inflation infolge der Euro-Einführung sei nur subjektiv „gefühlt“. Der Standardwarenkorb belegt tatsächlich keine gesteigerte Inflation, doch wenn gerade Grundbedarfsgüter (die nur einen Teil dieses Korbes ausmachen) 20-100% teurer werden, dann steht „der kleine Mann“ vor einer sehr realen Inflation, die zwar weggeredet, aber nicht inexistent gemacht werden kann! Die Lüge beherrscht einen immer größeren Teil des alltäglichen Geschehens. In den USA gilt jemand nicht als arbeitslos, wenn er mindestens eine Arbeitsstunde pro Woche bezahlt bekommt. Wenn Arbeitsplätze fehlen, müssen nur die arbeitssuchenden Menschen wegretuschiert werden, und schon hat man nach wie vor keine Probleme...

Positive Bilanzen um jeden Preis

Wie sehr die gesamte Wirtschaft auf Lügen aufbaut, offenbart sich zur Zeit in den Bilanzskandalen. Zunächst stellt sich die Frage, warum Konzerne überhaupt ein Interesse daran haben, Gewinne auszuweisen, da sie ja entsprechend Steuern zahlen müssen. Bis vor kurzem war tatsächlich das Interesse uneingeschränkt, die Gewinne offiziell so gering wie möglich zu halten. Dieser Trend kehrt sich seit einigen Jahren um, weil man sich inzwischen ganz nach den Erwartungen der Finanzmärkte richtet. Je florierender ein Unternehmen durch seine Bilanz erscheint, desto günstiger bekommt es Kredite bzw. desto leichter kann es seine Aktien an den Mann bringen. Der Börsenkurs steigt, weitere Vergünstigungen folgen, der erhoffte Kreislauf ist im Gang.

Der Energiekonzern Enron umging die Steuer mit einem Netz von fast 900 Tochterfirmen außerhalb der USA. Indem eine Strohmännerfirma Enron-Aktien kaufte, konnten jährlich mindestens 600 Mio $ Schulden in der Bilanz zum Verschwinden gebracht werden - bis zum Ruin Ende letzten Jahres. Im Juni mußte dann der zweitgrößte US-Telefonkon­zern WorldCom (85% des US-Europa-Internetverkehrs) bekanntgeben, 385 Mrd $ Falschbuchungen in den Büchern „entdeckt“ zu haben. Doch schon im Jahr 2000 mußten rund 230 börsennotierte Unternehmen auf Druck der US-Bör­sen­aufsicht SEC ihre Bilanzen wegen offensichtlicher Verfehlungen neu erstellen. Die USA hat nur die größten, aber nicht die einzigen Skandale zu bieten. Eine Studie der deutschen Universität Saarbrücken ergab bei 342 untersuchten Geschäftsberichten, daß die Wirtschaftsprüfer in der Regel eklatante Verstöße gegen einschlägige Bilanzierungsvorschriften akzeptierten.

Bilanztricks im Detail

Im Zuge der allgemeinen Deregulierung sind vor allem in den USA viele Vorschriften des Bilanzwesens gelockert oder beseitigt worden, die als Hindernis für unternehmerische Effizienz und Innovation galten. Bereits ganz legal können so die Bilanzen auf vielerlei Art „geschönt“ werden. Weil die - über Nordamerika hinaus verwendeten - US-Regeln der Rechnungslegung absolut kein realistisches Bild geben, behalten sich sogar die Gerichte in Prozessen vor, selbst eine „ordnungsgemäße Bilanzierung“ zu erstellen.

Beliebt sind z.B. sogenannte Pro-forma-Ergebnisse, die um „außergewöhnliche Ereignisse“ (die das Unternehmen selbst definiert) bereinigt sind. Der Internetdienst SmartStockInvestor.com hat errechnet, daß die im Nasdaq notierten Unternehmen in ihren Pressemitteilungen für die ersten drei Quartale 2001 einen Pro-forma-Gewinn von insgesamt 19 Mrd $ auswiesen, während sie an die US-Finanzaufsicht einen Verlust von 82 Mrd $ meldeten.

Mit „Partnerschaften“, an denen der Mutterkonzern zu weniger als 50% beteiligt ist, lassen sich offiziell finanzielle Risiken streuen. Real werden so vor allem Schulden ausgelagert (im Fall Enron waren ausgewählte Mitarbeiter in rund 5000 solcher Scheingründungen gleichzeitig „Partner“). Ebenfalls legal ist es, prognostizierte zukünftige Gewinne aus langfristigen Marktpreisänderungen in die Bilanzen zu schreiben. Es gibt Schätzungen, daß der Börsenwert der US-Kapitalgesellschaften allein durch diese üblichen Methoden um 15% aufgebläht ist und sich eine Wertberichtigung auf eine Billion Dollar belaufen müßte.

Aktienoptionen müssen im Gegensatz zu den gewöhnlichen Gehaltszahlungen in der Bilanz nicht als Ausgaben verbucht werden. Ein britischer Ökonom errechnete, daß dies bei den großen US-Konzernen im Jahr 2000 durch­schnittlich rund 20%, in der High-Tech-Industrie sogar 73% der ausgewiesenen Gewinne ausmachte! Selbst das US-Finanzmini­sterium meint, daß ohne den Trick neun der 40 größten Konzerne Verluste geschrieben hätten.

Deutschland gilt wegen der Bestimmungen des Handelsgesetzbuches als Ausnahme im globalisierten Bilanzschwindel. Tatsächlich hätte die Telekom, die 2001 einen Verlust von 3,5 Mrd € verzeichnete, nach US-Regeln 500 Mio  € Gewinn ausweisen können. Doch 2005 müssen EU-weit alle börsennotierten Firmen nach den „International Accounting Standards“ (IAS) bilanzieren. VW und BMW tun dies jetzt schon, wodurch sich ihr ausgewiesenes Eigenkapital fast verdoppelt hat und die Umsatzrendite um 10% gestiegen ist.

Schein und Realität

Wie erwähnt dient der gesamte Kampf um den schönen Schein dazu, den größtmöglichen Konkurrenzvorteil an den Finanzmärkten zu erringen. Wer die Anleger auf seiner Seite weiß und durch einen „guten Kurs“ günstige Kredite erhält, kann die Konkurrenz schließlich schlucken. Das ist das große Ziel, an dem die jetzigen Großpleiten nichts ändern: Man kann ruhig zig Milliarden Euro Schulden anhäufen - wenn man am Ende den Markt beherrscht, hat man gewonnen. Nicht umsonst ist die Bezeichnung „Raubtier-Kapitalismus“ geprägt worden. Sie wird den Raubtieren nicht gerecht, sondern will besagen, daß es darum geht, zuletzt allein übrig zu bleiben.

So dient der Schein dem Zweck der realen Vernichtung bzw. Einverleibung. Und das Ganze funktioniert, weil Millionen von Menschen versuchen, mit Aktien reich zu werden, und sich ebenfalls nicht um die Folgen dieses Kapitalismus scheren. Der Aktienbesitzer ist es ja selbst, der den steigenden Kurs verlangt. Er selbst ist es aber auch, der ihn hervorruft, indem er die größten Konzerne tendenziell am höchsten bewertet, d.h. deren Aktien am meisten nachfragt und ihren Kurs steigen läßt. Weil eine unüberschaubare Menge von Menschen Teilhaber des mächtigsten Unternehmens sein will, setzt sie gerade dadurch die Gigantomanie in Gang.

Die großen Pleiten scheinen zu zeigen, daß eine Abkopplung von der Realökonomie letztlich in sich zusammenfallen muß. Doch so einfach ist die Sache nicht. Fusionen und Übernahmen von Konkurrenten sind schließlich sehr real. Die „Kunst“ besteht darin, auf einer realen wirtschaftlichen Grundlage aufzubauen und sich dann von dieser so weit wie möglich abzuheben. Die Börsenkurse geben dann nicht das realwirtschaftliche Potential wieder, aber solange die Aktien auch oder gerade bei erhöhten Preisen gefragt sind, ist die Unterstützung der Anleger sehr real. Das entscheidende Vertrauen der Anleger richtet sich nur indirekt nach dem gegenwärtigen realen Potential (das ja vertuscht wird), direkt aber nach den erwarteten künftigen Verhältnissen. Und da macht derjenige Konzern das Rennen, der sich heute schon am besten größer darstellen kann, als er ist. Daran ändert sich gar nichts, wenn einige übertreiben und Konkurs anmelden müssen. Ja selbst diese beantragen Gläubigerschutz, zahlen die Großbanken aus (die Anleger gehen leer aus) und sind bald nach einigen Umstrukturierungen unter anderem Namen wieder mit im Spiel. Der Krieg der Lügen funktioniert, weil aus Illusionen durch menschliches Handeln Realitäten werden. Nach dem gleichen Prinzip kann zum Beispiel ein Halbstarker eine ganze Schulklasse beherrschen (weil sich ihm aus Angst, Berechnung etc. genug andere anschließen).

Die Finanzmärkte sind auf dem Sprung, sich alle Gesellschaftsbereiche zu unterwerfen (Stichworte: Liberalisierung, GATS). Die heutigen Prozesse im Wirtschaftsleben lassen schon deutlich werden, was Steiner mit dem „Kampf aller gegen alle“ meinte, vor dem er immer leidenschaftlich gewarnt hat. Der „Raubtier-Kapitalismus“ ist das dunkle Gegenbild desjenigen, was allein in die Zukunft führen kann: Brüderlichkeit gerade im Wirtschaftsleben. Je mehr der Mensch gebannt wird von erwarteten Gewinnen, Fusionen, Aktienoptionen und Marktbeherrschung, desto mehr wird er die Fähigkeit verlieren, den anderen Menschen als Bruder überhaupt wahrnehmen zu können. Das Wort von der Unmöglichkeit, zugleich Gott und dem Mammon zu dienen, eröffnet sich hier in seiner ganzen Tiefe und wird heute alltäglich bestätigt. Wer im Menschen das Geistige und damit das Göttliche erlebt oder erahnt, kann seinen Mitmenschen nicht als Konkurrenten betrachten. Wer sich im Konkurrenzdenken und -handeln auslebt, kann den Nächsten nicht sehen und bleibt auch von seinem eigenen wahren Wesen abgeschnitten.