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06.12.2002

Ein Psycholoanalytiker schildert die Widersachermächte

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 17.1.2003 (Nr. 3).


Der bekannte Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter hielt Anfang Dezember einen bemerkenswerten Vortrag, mit dem er sich aus dem Amt des Geschäftsführenden Direktors des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts verabschiedete.[1]

Sein Vortrag ist eine klare und offenbarende Beschreibung des heutigen Wirkens der Widersachermächte, auch wenn Richter selbst solche Wesenhaftigkeiten nicht in Betracht zieht, sondern rein psychologisch schildert.

Ausgehend von der Bemerkung, daß US-Außenminister Powell die Bedenken seines französischen Amtskollegen gegen den US-Unilateralismus als schwächlich und weibisch bezeichnet hatte, kommt Richter auf die generelle Tendenz unseres Zeitalters zu sprechen. Die Renaissance entdeckte das selbstbewußte Individuum, das sich unter anderem von der Kirche befreite. Descartes schrieb, der Wille dürfe sich nur auf den Verstand stützen und nicht durch Gefühle irritieren lassen. Seine Vision war eine Annäherung an göttliche Vollkommenheit, verstanden in bezug auf Wissen und Macht. Liebe und Mitgefühl wurden damals ausgegrenzt, weil sie einen Rückfall in mittelalterliche Ergebenheit zu sein schienen. Damit aber war der Intellekt von Anfang an einem auf Bemächtigung zielenden Willen ausgeliefert. Verschiedene Denker betonten vergeblich die Wichtigkeit der Sympathiekräfte als Gegenpol, - unaufhaltsam wurde die machtvolle Selbstvergöttlichung des Individuums zum Ideal. Man feierte Nietzsche, der die Gefühle in Grund und Boden verdammte – insbesondere das Mitleid, weil es erhalte, was zum Untergang reif sei.[2]

Heute verstärkt die Technik die Unterdrückung der Gefühle. Die in Massenvernichtungswaffen gespeicherte Gewalt ist unsichtbar, die Kampfflieger sehen die Opfer nicht, die Medien zeigen nur noch Grausamkeiten der Gegner. Richters Analyse gipfelt in dem Satz: „So ist es wohl kaum übertrieben zu behaupten, dass die heute gefährlichste Verdrängung genau die Sensibilität betrifft, die allein imstande ist, den weiteren Absturz in eine letztlich tödliche Dehumanisierung aufzuhalten“. Während des Kalten Krieges warf man den vor atomaren Katastrophen warnenden Medizinern vor, Angst zu verbreiten. Genau das aber wollten sie gewissermaßen, die reale Bedrohung sollte gefühlt und damit endlich erlebt und bewußt werden. Doch noch eine zum 50. Jahrestag von Hiroshima geplante Ausstellung in Washington wurde auf großen Druck hin verboten. Richter weist nun darauf hin, daß die Unterdrückung von eigenem Leid und Mitleid den Haß hervorruft – im letzteren Fall als Abwehr des eigenen Schuldgefühls. Der Mensch muß dann auch jene hassen, „die noch mitleiden können, weil sie ihm wie ein strafender Vorwurf entgegentreten“.

Dann kommt Richter auf den 11. September zu sprechen. „Der hat zwar nicht die Welt verändert, aber er hat genau dasjenige egomanische Weltbild als Illusion entlarvt, das den hektischen Wettlauf in unserem System unerbittlich antreibt“.

Es gibt keine Omnipotenz, die Verletzlichkeit bleibt immer erhalten, und Gewalt sät Gewalt. Der Terrorismus weist in verzerrter Form auf die wechselseitige Abhängigkeit hin, die man nicht anerkennen will. Es ist eine einfache Wahrheit, der jedoch der Glaube an die erreichbare Allmacht eines grenzenlos autonomen männlichen Ego entgegensteht. „Und ich sehe mich nahe bei Norbert Elias, der sich wunderte, dass wir unter `Ich´ etwas von allen Menschen und Dingen `draußen´ Abgeschlossenes verstehen...“. Die Illusion pflanzt sich gerade dadurch fort, daß die Machtkämpfe in Familie, Schule und Umgebung in die Seelen der Kinder eindringen und dort wiederum Grenzen aufrichten – Barrieren gegen die Anderen und gegen das Andere im eigenen Inneren. In den 70er Jahren gab es eine starke Suche nach diesem Anderen, einen großen Impuls zu einem höheren Verantwortungssinn. Vordergründig scheint diese Bewegung gescheitert zu sein. Doch das damals Entdeckte kann kaum mehr ausgelöscht werden, auch wenn heute Empfindsamkeit und Mitfühlen unter dem Vorzeichen härter werdender Verteilungskämpfe und drohender Kriege gegen „das Böse“ erneut machtvoll unterdrückt werden.

„Woher rührt in einer christlichen Kultur die Angst, sich zu derjenigen Disposition in unserem Innern zu bekennen, von der unsere Humanität und letztlich unser Streben nach Gerechtigkeit abhängt?“ Sie stammt genau aus „der Stigmatisierung der Gefühle und der Gesinnung, die einst das Christliche bestimmten, an deren Stelle nun der Anspruch auf egomanische Selbstbefreiung getreten ist...“. Dahinter steht die Furcht des Menschen vor der Erkenntnis, daß er die ganze Zeit ein Wesentliches seiner selbst unterdrückt hat und daß er sich ändern würde und müßte, wenn er sich selbst wahr machen wollte.

Fußnoten


[1] Ist eine andere Welt möglich? Über die Betäubung sozialer Sensibilität und die Abwehr in Zeiten der Bedrohung, in: Frankfurter Rundschau vom 4.12.2002

 

[2] Richter weist darauf hin, daß Nietzsche in jener Zeit mit einer schmerzhaften Krankheit und gegen das eigene Selbstmitleid gekämpft habe.