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01.05.2002

Brief an BDI-Präsident Michael Rogowski

Diesen Brief schrieb ich am "Tag der Arbeit" an den Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Der BDI vertritt besonders aggressiv und unverhohlen die "Arbeitgeber-Interessen".

Siehe auch den Aufsatz >> „Die wahre Leistungsgesellschaft“.


Berlin, den 1. Mai 2002

Sehr geehrter Herr Rogowski,

ich habe in einer Tageszeitung den BDI-Statusbericht 2002 in Auszügen lesen können. Als Vertreter der industriellen Unternehmenseigentümer fordern Sie die Autonomie „der Betriebe“ in Lohn- und Arbeitszeitfragen und den Abbau von: Kündigungsschutz, Mitbestimmung, GKV-Leistungen, Arbeitslosen- und Sozialhilfe und Umweltgesetzen. (Auf Ihre Ansicht, deutsche und andere Militäreinsätze seien heute der beste Garant für eine weltoffene Gesellschaft, und Deutschland müßte eine Führerschaft in verschiedenen Bereichen der Kriegstechnologie einnehmen, werde ich nicht eingehen).

Sehen Sie nicht, daß die Frage, wieviel „Einkommen“ jeder individuelle Mensch bekommen soll, gar nicht eine wirtschaftliche, sondern eine Rechtsfrage ist? Natürlich kann nur so viel verteilt werden, wie da ist, und natürlich sollte das „Einkommen“ dem entsprechen, was jeder für die Gemeinschaft und ihre Bedürfnisse tut und leistet.

Wenn man aber ruhig einmal das Leistungsprinzip in Reinform nimmt, dann würde das die Frage aufwerfen, welchen Leistungsanteil jeder Mensch in einem Industriebetrieb daran hat, daß am Ende eine bestimmte Produktion steht. Daß die Produktion stattfinden kann, ist der Zusammenarbeit aller mit ihr Beschäftigten zu verdanken. Die Höhe der Produktion wird natürlich von den Entscheidungen dessen bestimmt, der sie organisiert. Wenn jemand, der die Produktion steigert, den höheren Erlös egoistisch für sich beansprucht, so soll er das tun.

Wenn aber irgendwann ein anderer seine Stelle einnimmt, kann der seine Ansprüche aber wiederum nur von eigenen innovativen Entscheidungen herleiten. Denn dieser Nachfolger hat an der innovativen Idee des Ersten ebensowenig Anteil wie der einfache Arbeiter. Also würde der Erlösanteil, der der Idee des Ersten zu verdanken ist, fortan auf alle verteilt werden. Oder aber der Erste hätte ein „Patent“ auf seine Idee und selbst bei Ausscheiden aus der Firma ein ewiges Recht auf jenen Erlösanteil.

Nun haben ja auch andere Unternehmen Ideen, und der jeweilige Erlös richtet sich nicht nur nach den Innovationen des eigenen Unternehmens, sondern danach, was durch die Gesamtheit aller Innovationen für eine Gesamtproduktion erreicht wird. Diese stößt dann auf die reale Nachfrage, was eben den Preis bestimmt. Wer eine Idee hat, könnte also den Erlösanstieg nur so lange für sich beanspruchen, wie dieser wirklich existiert. Aufgrund des reinen Produktionsanstieges im Vergleich zu vorher hat er keine Ansprüche. Denn sonst müßten Sie und alle anderen den Großteil aller Erlöse noch heute an Menschen wie Leibniz abführen, ohne dessen Differentialrechnung industrielle Produktion gar nicht möglich wäre.

Nehmen wir an, ein Unternehmen steigert durch eine Idee die Produktion und dadurch den Erlös von 10 auf 15 Mio €, worauf der Unternehmer 5 Mio für sich beansprucht. Bald haben auch andere Unternehmer Ideen, gesamtwirtschaftlich wird überall die Produktion effektiver, Menschen werden entlassen etc., die Preise sinken etwas. Der Erlös geht wieder zurück auf 10 Mio €. In dieser Situation leistet der Unternehmer in erfinderischer Hinsicht nichts mehr, die gesamte Leistung geht von den Arbeitenden aus, die die (überall!) effektiver gewordene Produktion aufrecht erhalten. Im übrigen trifft der Unternehmer natürlich ständig „normale“ unternehmerische Entscheidungen. Aber welchen Anteil will er daraus beanspruchen?

Die Frage ist, wer überhaupt die Verteilung des Erlöses festsetzt, und nach welchen Kriterien. Bloß weil jemand die unternehmerischen Entscheidungen trifft, hat er nicht das Recht auf die Verteilung. Oder aber er betrachtet sich deswegen völlig unsachgemäß als Eigentümer des Unternehmens. Wenn er aber „Löhne“ festsetzt und den Rest für sich beansprucht, müßte er auch das Risiko tragen und die „Löhne“ eben konstant zahlen, auch wenn für ihn einmal weniger übrigbleiben sollte, als für den einfachen Arbeiter! Die Frage ist aber, wie überhaupt jemand dazu kommt, sich als Eigentümer anzusehen.

Die Kapitalgeber sind nichts anderes als andere Kreditgeber auch. Sie haben einen Anspruch auf das Kapital, was sie in das Unternehmen eingebracht haben (inkl. Inflationsanstieg), und während einer zu bestimmenden Zeit auf einen Anteil am Erlös des Unternehmens. Wer Kapital einbringt, hat doch wohl keinesfalls den automatischen Anspruch auf „Mehr“, sondern auf einen Anteil am Erlös, der natürlich zu erwarten ist. Irgendwann erlischt aber auch dieser Anspruch, denn ein Anteil steht nur dem zu, der wirklich arbeitet. Das sind alle Menschen, die unternehmerische Entscheidungen treffen oder die sonst arbeiten. Zunächst wurde real mit dem ursprünglich gegebenen Kapital gearbeitet. Bald aber hat sich dieses völlig ausgetauscht, und das Unternehmen arbeitet längst mit seinem eigenen Kapital. Nur durch tote Begriffe kann man glauben, dies wäre noch immer das Geld des ursprünglichen Kapitalgebers. Die Kapitalsubstanz eines Unternehmens kann sich nur aus sich selbst heraus immer erneuern oder gar nicht. Der Kapitalgeber kann nur die einmalig gegebene Summe beanspruchen, aber kein Eigentum darüber hinaus. Wenn man also Autonomie „der Betriebe“ bei Lohn- und Arbeitszeitfragen fordert, muß man erst einmal klären, wer hier eigentlich rechtmäßig die Autonomie bekommen müßte. Wer „Betrieb“ gleichsetzt mit Unternehmer oder Kapitalgeber, dem geht es nicht um das Wirtschaften, sondern um nackte Macht - um den Anspruch auf Geldwerte, die in keinem Verhältnis zu dem stehen, was er real geleistet hat. Wer gebärdet sich denn im Moment „wie eine Neben-, ja sogar wie eine Hauptregierung“?

Meinetwegen können wir ruhig noch viel länger über Leistung reden!

Ich möchte jetzt in einigen Worten die Gesamtwirtschaft in den Blick nehmen. Wenn durch Innovationen die Produktion effektiver wird, bedeutet das Produktionsanstieg oder Entlassungen - zumeist letzteres, da die Nachfrage irgendwann gesättigt ist. Das Unternehmen beansprucht den vollen Erlös, der auf weniger Menschen zu verteilen ist, und überläßt es der Gemeinschaft, die Arbeitslosen zu tragen. In der Tat hat die Gemeinschaft diese Aufgabe, aber in demselben Maße hat sie Anspruch auf den entsprechenden Produktivitätsanstieg, also den Pro-Kopf-Anstieg des Erlöses. Der innovative Unternehmer kann (egoistisch) Anspruch auf jeden absoluten Anstieg des Erlöses erheben, solange dieser durch Innovationsvorsprung vor der Konkurrenz gegeben ist. Pro-Kopf-Anstiege, die ohne Innovation rein durch Entlassungen entstehen, können eventuell für eine gewisse Zeit als „Innovation“ geltend gemacht werden, aber spätestens wenn andere Unternehmer nachziehen, liegt der Anspruch auf Seiten der Gesellschaft. Sie muß die aus dem Arbeitsleben Herausgefallenen versorgen. Sie muß die Mittel haben, um ihnen ein gerechtes Einkommen zu zahlen, wenn sie sich alternative Tätigkeiten suchen, z.B. im sozialen, pädagogischen oder im Umweltbereich.

Wenn die Industrie meint, sie könnte bald mit drei Millionen Arbeitenden das produzieren, was sie bisher mit sechs Millionen leistet (fiktive Zahlen), dann müssen die anderen drei Millionen die Möglichkeit haben, bezahlte soziale und andere Arbeit zu tun. Dann steht den in der Industrie verbleibenden drei Millionen eben nur noch die Hälfte des bisherigen Anteils am Sozialprodukt zu (d.h. für die Arbeiter konstanter Lohn bei doppelter Produktivität, für die Unternehmer gleicher - statt doppelter - Gewinn). Dann aber werden die Menschen sich überlegen, ob sie einen Arbeitsplatz in der Industrie überhaupt haben wollen, oder nicht lieber sozial tätig werden. Spätestens dann werden Regelungen kommen, die die existierende Arbeit wieder sinnvoll verteilen, nämlich weniger Arbeit für alle ermöglichen.

Die Produktivität ist über Hunderte von Jahren ununterbrochen gewachsen, das Bruttosozialprodukt und der gesellschaftliche Wohlstand wachsen weiterhin jährlich. Warum sieht es so aus, als sei für immer mehr Menschen immer weniger da? Weil sich Einzelne den Erlös aus dem Produktivitätsanstieg auf Dauer aneignen. Weil in letzter Zeit darüber hinaus die Vermögensbesitzer immer mehr begünstigt werden. Weil der Staat überhaupt ein Nettozahler gegenüber denen geworden ist, die ihm einmal Geld geliehen haben. Das alles sind Verhältnisse, die durch völlig unsachgemäße Begriffsbildungen möglich waren und nach wie vor sind. Sie sind also weder sachlich, noch menschlich, sozial oder irgendwie anders legitimiert. Und wenn diese Dinge in Zukunft allmählich immer klarer werden, dann wird man – spätestens als Historiker – fragen, wie so etwas, wovon im „Statusbericht 2002“ die Rede ist, überhaupt vertreten werden konnte. Man wird fragen, ob die Menschen nicht denken konnten, oder ob sie bewußt nicht-menschlich gedacht und agiert haben.

Ein letztes Wort noch an die, die das rechtmäßige Leistungsprinzip unrechtmäßig vertreten. Man sollte durchaus die Unternehmenssteuern und „Lohnnebenkosten“ abschaffen. Wer übernimmt die soziale Sicherung? Die ganze Gesellschaft, der aber auch das Bruttosozialprodukt gehört (abzüglich berechtigter Ansprüche aufgrund individueller Innovationen, siehe oben). Mehr Steuern zahlen sollte durchaus der, der mehr beansprucht, nicht der, der mehr leistet. Das gesamte Steueraufkommen könnte sich aus einer Abgabensteuer vergleichbar der Mehrwertsteuer ergeben. Dann würde jeder genau in dem Maße belastet, wie er konsumiert. Dieses wahrhaft gerechte System erfordert aber auf der anderen Seite die wirkliche Durchsetzung des Leistungsprinzips.

Mein Einkommen muß meinem wirklichen Verdienst entsprechen. Es ist aber unmöglich, daß der sachgemäß-reale Verdienst eines Menschen größer ist als ein Einkommen, das er auch wieder ausgeben kann. Die Gesellschaft kann einem Menschen für seine herausragenden Innovationen ja nicht mehr danken, als ihm einen Anteil des Sozialproduktes zuzugestehen, der unbegrenzten Konsum erlaubt. Auf jeden darüber hinausgehenden Erlös ist ein Anspruch absolut unmöglich, da er ohnehin nur durch Arbeitsteilung zustande gekommen sein kann. Weiterhin ist das Eigentum an ungenutztem Vermögen überhaupt unzulässig, da Geld keine Ware, sondern ein Tauschmittel ist. Wenn ich durch innovative Produktion und Absatz von Waren ein Vermögen erwerbe, bin ich gesellschaftlich verpflichtet, dieses Vermögen auch wieder zu konsumieren, das heißt, andere Waren dafür zu kaufen. Genau das treibt die eine Seite der Gesellschaft in die Verschuldung, daß das gesamte Vermögen auf der anderen Seite bei einigen Wenigen sich sammelt. Dies geschieht in der Regel sogar ohne jede Leistung, nämlich durch laufenden Zins und Zinseszins. Leistungsloses Einkommen ist ohnehin unzulässig (oder sehen Sie das anders?), ebenso aber jedes Vermögen, das ich nicht nutzen kann.

Alles, was jemand bei bestem Willen nicht verkonsumieren kann und was ihm gemäß seiner Leistung auch gar nicht zusteht, fällt an die Gesellschaft und geht an alle, die heute noch weniger bekommen, als sie leisten. Sobald man einmal in dieser Hinsicht gerechte Verhältnisse hat, würde alles Einkommen, was dann immer noch jeweils nicht real genutzt wird, ebenfalls an die Gesellschaft fallen, und zwar an jenen gesellschaftlichen Bereich, der die Quelle aller Innovationen und damit Einkommen ist: Das scheinbar „unproduktive“ Geistesleben mit Schulen und Hochschulen aller Art, kulturellen Initiativen usw.

Der BDI möchte wohl am liebsten, daß „die Betriebe“ den Lohn willkürlich festsetzen können und die Gesellschaft außerdem noch alle sozialen Aufgaben rein aus den Steuern der Arbeitnehmer finanziert? Eins von beidem geht nur. Entweder die Unternehmer können (völlig unsachgemäß) festlegen, wie hoch der „Lohn“ in „ihrem“ Betrieb ist. Dann muß die Gesellschaft bestimmen können, wie sie für ihre Aufgaben die Mittel bekommt, also auch welches ihr Anteil am Unternehmensgewinn ist. Oder die Gemeinschaft finanziert sich aus dem Einkommen der Arbeitnehmer. Dann muß sie bestimmen können, wie hoch zur Finanzierung ihrer Aufgaben dieses Einkommen sein muß. Sollte es ernsthaft so sein, daß die Unternehmer ihren Beitrag für die gemeinschaftlichen Aufgaben nicht leisten wollen? - Wer darauf mit „doch“ antwortet, muß sich mit den sachgemäßen Begriffen auseinandersetzen. Es muß endlich die Frage auf die gesellschaftliche Tagesordnung, wie gedacht werden muß über Arbeit, „Lohn“ und „Eigentum“, über „Kredit“, „Zins“ und über die Frage wirklicher Leistungsgerechtigkeit.

Ich hoffe sehr, daß Sie die in diesem Brief aufgeworfenen Fragen wirklich als solche verstehen und auch zumindest von einem Vertreter beantworten lassen. Es handelt sich nämlich um grundsätzliche Fragen, und das Ausbleiben einer Antwort könnte ich nur so interpretieren, daß Sie die Wahrheit meiner Darstellung zwar sehen, aber durch Verschweigen der Wahrheit und gegensätzliche Behauptungen weiterhin versuchen, „so viel wie möglich für sich zu holen“.

Mit freundlichen Grüssen