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27.09.2002

Politikerverdrossenheit und soziales Empfinden

Den Drachen von innen verwandeln

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 11.10.2002 (Nr. 42). | >> Langfassung 

Vereinzelte Medienberichte vermitteln immer wieder den Eindruck, die meisten Menschen seien zunehmend unpolitisch und interessierten sich nur noch für ihr eigenes, möglichst angenehmes Leben. Dieses Urteil stimmt keineswegs. Viele Menschen resignieren zwar gegenüber der herrschenden Politik und den herrschenden Vertretern der diversen Parteien, stehen jedoch keineswegs der Politik an sich unbeteiligt gegenüber. Schon „Resignation“ im Gegensatz zu Desinteresse weist auf eine innere Beteiligung hin. Die folgenden Ausführungen fassen Ergebnisse des Sozialwissenschaftlers Michael Vester zusammen, der an der Universität Hannover u.a. den Wandel sozialer Strukturen und Anschauungen erforscht.[1]

Der neue, alte Kapitalismus

Was offenbar die meisten Menschen wahrnehmen können, ist, daß die Politik zunehmend von der neoliberalen Theorie bestimmt wird: Das wichtigste Ziel oder aber ein unabwendbarer Sachzwang (je nach Argumentation) sei ein freier Welthandel, dessen Konkurrenzbedingungen man sich anpassen müsse. Angesichts dieser Argumentation sowie real sinkender Steuereinnahmen und stagnierenden Wachstums erfolgen Einschnitte in das Sozialsystem, das im Laufe mehrerer Jahrzehnte entstanden ist und gegen die Mechanismen des reinen Kapitalismus ein gewisses Maß sozialer Ge­rech­tigkeit garantieren sollte. Das Denken in neoliberalen Kategorien scheint die politische Ebene inzwischen weit­ge­hend zu be­stim­men, und so bemerkt man nicht die erstaunliche Tatsache, daß dessen Vertreter nur einen kleinen Teil der Gesell­schaft bilden. Dieser kleine Teil hat nämlich entscheidenden Einfluß in Politik und Medien. Immer wieder zeigt sich in der Geschichte, wie ein kleiner Teil einer Gesamtheit die öffentliche Sphäre beherrscht und gewisse – oft schlimmste – Ent­wicklungen herbeiführt. Die zur großen Mehrheit gehörenden Menschen meinen oft, sie seien die Minderheit. Sie fin­den nicht zusammen oder bleiben von vornherein passiv.

„Neoliberalismus“ ist im Grunde nur ein neues Wort für das uralte Modell des reinen Marktes bzw. Laissez-Faire-Kapitalismus. Behauptet wird nun wieder, daß der reine Markt zum größtmöglichen Wohlstand für – letztlich – alle führe. Staat oder Gewerkschaften sollen sich nicht in die Lohn“politik“ einmischen. Die Löhne müßten entsprechend der internationalen Konkurrenz sinken, damit etwa der „Standort Deutschland“ „mithalten“ könne. So heißt es, und nicht gesprochen wird von der Tatsache, daß 1980 bis 1997 die Nettogewinne sich mehr als verdoppelten, die Nettolöhne aber nur um 20 Prozent stiegen. Nicht gesprochen wird davon, daß die Wirtschaft insgesamt Jahr für Jahr wächst. Real existiert ein Reichtum, der, dem Willen seiner Besitzer nach, möglichst unsichtbar bleiben soll. Die gegenwärtige Stagnation ist zum großen Teil darauf zurückzuführen, daß bei der Mehrheit der Menschen die „Kaufkraft“ schwindet. Die Wirtschaftskrise naht, weil das Wirtschaftsleben so erfolgreich war (!), der wachsende Wohlstand aber höchst ungleich verteilt blieb. Die „Industriegesellschaften“ drohen zu zerbrechen, weil sie mit ihrer eigenen Produktivität nicht umgehen können.

Das neoliberale Dogma (wer steht dahinter?) fordert die „Flexibilisierung“ und eine zunehmende „Eigenverantwortung“ der Arbeitnehmer. In klareren Begriffen heißt das: Der „Arbeitnehmer“ soll bereit sein, zu zunehmend beliebigeren Zeiten und an verschiedensten Orten zu arbeiten und für eine Entlassung (und die anschließende Suche nach einer neuen Arbeitsmöglichkeit) selbst die Verantwortung zu übernehmen. Zynischer kann man den Egoismus kaum noch sprachlich verschleiern. Unter den Voraussetzungen des Egoismus wird der materielle Überfluß zur Überflüssigkeit von Menschen.

Was denken die Menschen wirklich?

Die Mehrheit hat das Bedürfnis nach einer kontinuierlichen Arbeit, deren Mühen und Ergebnisse geachtet und aner­kannt werden. Die meisten Menschen sind bereit, für sich selbst weitgehende Verantwortung zu übernehmen. Mehr als früher nimmt man an Fortbildungen teil, ist man zum Wohnortwechsel mit der ganzen Familie bereit usw. – doch man erlebt, daß die Forderungen nach Flexibilität ohne jede Anerkennung dieser Anstrengungen monoton und gefühllos wie­derholt werden. Man erlebt, daß das Prinzip der „Leistungsgerechtigkeit“ immer mehr mißachtet wird. Aber nicht nur den Arbeitenden wird zunehmend Unrecht getan. Darüber hinaus wird behauptet, Massen von arbeitsscheuen Hedonisten würden den Sozialstaat zerrütten – und schon stehen alle Arbeitslosen am Pranger.

Waren noch 1980 nur 10% der Menschen „politikverdrossen“, schenken seit Beginn der 90er Jahre über 60% den Politikern keinen Glauben mehr (je über 30% stimmten dem Satz „eher“ bzw. „voll“ zu). Sie sind keineswegs verwöhnt von der „sozialen Hängematte“, sondern verdrossen, daß die Bereitschaft, sich den Bedingungen des modernen Wirt­schafts­lebens anzupassen, nicht gerecht belohnt und in ihren sozialen Risiken abgesichert wird. Genau die Tugenden der Verantwortung, Beweglichkeit und Vernetzung, die den Bürgern abverlangt wer­den, werden bei den Politikern vermißt. Die politischen und sozialen Institutionen selbst dagegen finden in ihrem Kern weiterhin eine Akzeptanz von bis zu 90 Prozent. Die Kritik richtet sich vor allem gegen undemokratische Prozesse, eine zweiter Widerlegung des Bil­des vom selbstsüchtigen Bürger. 70 Prozent finden es nicht richtig, daß "immer häufiger politische Entscheidungen außerhalb der dafür vorgesehenen Gremien ausgehandelt" werden. Rund 60 Prozent finden es übrigens richtig, "an Politiker höhere moralische Maßstäbe anzulegen als an andere Menschen" (vermutlich auch aus dem Erlebnis heraus, daß die Moralität oft sogar geringer zu sein scheint).

Die Forderung "Das Mitspracherecht der Arbeitnehmer an ihrem Arbeitsplatz muß sehr viel größer werden" wurde von 72 Prozent befürwortet (von 44 Prozent „voll“). Eine Mitsprache der Gewerkschaften wurde wesentlich weniger bejaht, das heißt, es geht den Menschen ganz direkt um die individuelle Mitwirkung. Dies bezieht sich auch auf die Politik: Den Satz "Wenn man heute als Bürger politisch etwas erreichen will, muß man die Dinge selbst in die Hand nehmen“, bejahten 80 Prozent, davon fast 50 Prozent voll (1991 waren es nur 20 Prozent). Eine direkte Bürgerbeteiligung an wichtigen politischen Entscheidungen befürworteten 66 Prozent (und noch mehr der unter 40-Jährigen). Rund 50 Prozent haben „wichtigere Dinge zu tun, als sich um Politik zu kümmern“ (1991 waren es noch zwei Drittel). Fast 30 Prozent gaben an, eine ehrenamtliche soziale oder karitative Tätigkeit auszuüben, ein ebensogroßer Anteil ist in ei­nem anderen Ehrenamt tätig.

Der Kampf um den Menschen

Keine der großen Parteien scheint einen Ausweg aus der wachsenden sozialen Ungerechtigkeit zu sehen, oder auch nur ihre Ursachen zu erkennen. Man könnte sagen: Es gibt auf politischem Felde heute fast durchgängig eine geradezu schmerzende Leere. Einen grandiosen Mangel an fruchtbaren Ideen und Ansätzen angesichts der Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft. Heute stehen die Menschen inmitten eines Kampfes, der um den Menschen und die Menschlichkeit ent­brannt ist, auch wenn dies oft noch nicht voll erkannt wird. Schrecklich ist es, wenn Egoismus und Macht bzw. Einfluß zusammenkommen. Die Frage des Egoismus betrifft aber auch jeden einzelnen von uns. Das Erlebnis der Individualität ist die Voraussetzung für das moderne Freiheits-Erlebnis des Menschen. Doch gerade die Karikatur des Individualismus – der Egoismus – gefährdet inzwischen auf das äußerste schon die bisher erreichte Freiheit, die noch lange nicht die eigentliche ist. Die heutigen „sozialen Formen“, die mit dem „Modell Marktwirtschaft“ einhergehen, können dem Wachstum des Egoismus nicht Einhalt gebieten, sondern fördern dieses noch.

Doch nicht nur der Egoismus kulminiert heute, auch die wirkliche Menschwerdung ereignet sich in unserer Zeit - wenn der Mensch sich und sein soziales Wesen erkennt und verwirklicht. Freiheit ist immer auch Freiheit des Andersdenkenden (Rosa Luxemburg). Wahre Freiheit ist mit Egois­mus ganz unvereinbar, denn in Wahrheit ist der Mensch innerhalb der Grenzen seines Egoismus gerade unfrei. Das Geheimnis der Freiheit ist die Liebe. Überall dort, wo der Mensch über sich hinausblicken kann, macht diese Fähigkeit ihn frei von dem, was ihn in sich selbst festhalten will. Liebe meint jedes echte Interesse für etwas anderes um dieses anderen selbst willen. Der liebende Mensch erlebt in sich eine wahrhaft wunderbare Fähigkeit und erkennt, daß alles, was ihn zum Egoismus treibt, seine wahre Menschwerdung verhindert. Das Geheimnis der Liebe aber ist - die Freiheit.

Freiheit und Brüderlichkeit – wahrhaft menschliche Impulse wollen sich heute verwirklichen. Sie bedürfen aber gleichsam als Hülle der richtigen „sozialen Formen“, um wirklich unter den Menschen leben zu können.[2] Die soziale Dreigliederung ist heute notwendiger denn je. Für die Gesellschaft im Ganzen heißt das: Die Politik muß sich aus dem Bereich der Wirtschaft und dem des Geistesleben unmittelbar heraushalten. Sie muß allgemeine Rechte und Pflichten formulieren - Rechte im Hin­blick auf die Freiheit jedes Individuums, Pflichten im Hinblick auf die Freiheit und Menschenwürde der anderen. Sie hat als Sphäre der Rechtsfindung Maßstäbe in bezug auf den Schutz der Menschenwürde und der Lebens­grund­lagen zu setzen (Stichworte: Sozial-, Arbeits­- und Umweltgesetz­gebung) und – falls und soweit notwendig – auch die erforderlichen Maßnahmen zu bestimmen. Alle Fragen, wo es um das Selbstverständnis dessen geht, was menschlich ist und was die wahren Ziele menschlicher Gemeinschaft und menschlichen Daseins sind, bilden – aus dem Geistesleben kommend – den Aufgabenbereich der "Politik".

Den Drachen von innen verwandeln

Die anthroposophische Bewegung verdankt Rudolf Steiner gerade in bezug auf das Soziale großartige Ansätze, denen durch­dachte Forderungen anderer sozialer Bewegungen teilweise sehr ähnlich sind. Doch wie viele Anthroposophen erheben angesichts der großen Zeitfragen öffentlich ihre Stimme? Wie begegnen Anthroposophen anderen Menschen, die ebenfalls von Idealen beseelt sind? Und dann: Wo sind die Anthroposophen, die auch den Schritt in die Politik wagen – und sei es als einen Schritt in die Haut des Drachen? So wie Steiner sich vor Jahren ganz in die Naturwissenschaft hineinbegeben und sie in sich aufnehmen mußte, um sie von innen aus zu verwandeln.

Was wäre, wenn ein Bündnis[3] direkt auf politischer Ebene geistgemäße Ansätze und Impulse vertreten würde? Ein solches Bündnis würde vielen Menschen erstmals die Möglichkeit geben, ehrlich ein Mandat zu erteilen - weil sie wirklich empfinden, daß ihre innersten Überzeugungen vertreten sind. – Eine solche „Partei“ hätte nicht das Bestreben, an der Regierung teilzunehmen, weil ihre Mitglieder wissen, daß sie stets Kompromisse schließen müßten, wo es für sie keine Kompromisse gibt. Eine wichtigste Aufgabe - neben der inhaltlichen Arbeit, etwa der Erarbeitung von Gesetzesvorschlägen und den Kontakten mit verschiedensten gesell­schaft­lichen Gruppen - wäre es, einfach dazusein und wirkliche Überzeu­gun­gen wirklicher Menschen zu repräsentieren.

Gibt es aber genug Menschen, die ein derart selbstloses Interesse am Ganzen haben und ihre Aufgabe darin sehen, das Wohl des Ganzen auf dem undankbaren und korrupten Feld der Politik zu vertreten? Wie finden sie sich? Wie kann in einem solchen Bündnis gemeinsam gearbeitet werden?

Das trojanische Pferd der Zivilgesellschaft

Es geht nicht darum, von oben eine ideale Gesellschaft zu schaffen, sondern nur die Lücke zu füllen, die es auf politischem Felde gibt - hinsichtlich der Repräsentanz menschlicher Überzeugungen. Die institutionalisierte Politik soll die von den Menschen kommenden Impulse aufnehmen. Heute aber ist nichts da, was die geistoffenen, zukünftigen Impulse einer durchaus großen Zahl von Menschen aufnähme.

Das hier gemeinte Bündnis soll die Aktivitäten der „Zivilgesellschaft“ keineswegs ablösen, sondern durch Ergänzung unterstützen. Es wäre ein Zusammenschluß von Menschen, die sich entschließen, direkt auf politi­schem Felde gemeinsam zu handeln und damit die Verbindung zu schaffen zwischen den Orten, wo selbstloses gesellschaftliches Engagement heute überall stattfindet und dem Ort, wo Erkennt­nis in das gesamtgesellschaftliche Leben einfließt (als Rechts­sprechung konkret wird).

Antipathien gegen die Idee einer Partei rühren oft von der Erkenntnis, daß das Prinzip der „Partei“ und vor allem die gegenwärtige Ausdehnung der politischen Sphäre unzeitgemäß sind. Das hier gemeinte Bündnis soll aber gerade mit aller Kraft die Notwendigkeit der völligen Autonomie der gesellschaftlichen Teilbereiche öffentlich machen und sich dafür einsetzen. Indem es klar ausspricht, daß alle Einrichtungen, die nicht von der Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Individuums und aller freiwilliger Vereinigungen ausgehen, nicht auf der Höhe der Zeit stehen, ja nicht einmal die Menschenrechte substantiell ernst nehmen. – Dieses Bündnis wird keine neue Form der Parteien-Tyrannei bilden, weil es im Gegenteil das Trojanische Pferd ist, das jene Tyrannei stürzen kann, sobald es von der Mehrheit der Menschen gewollt ist.

Es setzen sich zahllose Menschen in den verschiedensten Vereinigungen für eine "bessere Welt“ ein (natürlich auch einzeln; die Vereinigungen machen aber ihre Zahl offensichtlich). Egal auf welchem Gebiet – Ökologie, Dritte Welt, Menschenrechte, Bildung etc. -, immer kämpfen sie doch dagegen an, daß essentielle Fragen, die alle Menschen angehen, von wenigen Macht-Habenden im Sinne der herrschenden ökonomisch-neoliberalen Ideologie entschieden und für alle verbindlich geregelt werden. Die große Mehrheit der gesellschaftlich engagierten Menschen erkennt, daß dabei der einzelne Mensch, ja der Mensch überhaupt auf der Strecke bleibt, weil das Individuum mit seinem Recht und seiner Fähigkeit der Eigenverantwortung kaum noch gesehen bzw. gar nicht mehr für möglich gehalten wird.

Menschen aller dieser Initiativen könnten hinter dem hier gemeinten Bündnis stehen, weil sie erkennen, daß es dessen – einziges – Ziel ist, die Rahmenbedingungen zu schaffen, auf deren Basis die menschlichen Ziele dieser verschiedensten Initiativen und Vereinigungen eine Chance haben werden. Möglich, daß diesem Bündnis zunächst  viel Hohn über seinen angeblichen „Idealismus“ begegnen wird. Dieser aber wird um so weniger greifen, als das Bündnis gar nicht vorhat, „idealistisch“ wirksam zu werden, sondern nur der Zivilgesellschaft und den anderen Gliedern des sozialen Organismus die ihnen zustehenden Wirkmöglichkeiten verschaffen will. Und dies nicht aus einem naiven Idealismus heraus, sondern aus einem klaren Erkennen der heutigen Notwendigkeiten. Es handelt sich um einen idealistischen Realismus: ein heißes Herz und ein kühler Kopf. Auch die Gegner werden wissen, daß ihr Hohn eine Lüge ist, und daß die Menschen, auf die es ankommt, sich davon nicht beeindrucken lassen. Nur finden müssen sie sich.

Fußnoten


[1] Michael Vester: Schieflagen sozialer Gerechtigkeit. In: Frankfurter Rundschau vom 21.9.2002. Michael Vester et al. (2001):  Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Verlag Suhrkamp

 

[2] siehe hierzu etwa das m.E. unendlich wertvolle Werk von Dieter Brüll: Der anthroposophische Sozialimpuls (1984).

 

[3] Über die Organisationsform eines solchen Bündnisses wäre gesondert zu sprechen. Da das hier gemeinte Bündnis sich weder von Sonderinteressen beeinflussen noch von Ideologien leiten lassen will, müßte man eigentlich von einer „Anti-Partei“ (lat. pars = Teil) sprechen. Die offenlassende und zugleich die Idee der Brüderlichkeit betonende Bezeichnung „Bündnis“ trifft das hier Gemeinte ziemlich gut.