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12.10.2002

Diese Krise wird ein Ruf zur Umkehr

Die westlichen Wirtschaftssysteme offenbaren ihre Un-Logik

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 25.10.2002 (Nr. 44).


Die Weltwirtschaft steht vor einer umfassenden Krise, die anders als bloße „Konjunkturwellen“ die Un-Logik des heutigen Wirtschaftssystems offenbaren wird. Die seit Frühjahr 2000 zusammenbrechenden Börsenkurse nähern sich wieder den Verhältnissen der Realwirtschaft an - und selbst den jahrzehntelang als absolut zuverlässig geltenden deutschen Banken ergeht es dabei schlecht. Dabei sind es die Banken, die über ihre eigenen „Investments“ und ihre „Analysten“ das weltweite Fusionsfieber erst richtig auslösten. Sie legten immer neue Fonds auf und gaben noch zweifelhaftesten Börsenkandidaten Kredite. Nun werden ihnen diese Kredite und ihre eigenen, in den letzten Jahren erwor­benen Beteiligungen zur Last. 

Während in Japan die Banken infolge von rund 400 Milliarden Euro fauler Kredite vor dem Zusammenbruch stehen, sind auch in Deutschland von den einst sieben größten unabhängigen Privatbanken nur noch drei übrig. Allein im zweiten Quartal versuchten die deutschen Banken, von den Firmenkunden über sechs Milliarden Euro mehr zurückzuholen, als sie an Krediten gaben. Experten erwarten im nächsten Quartal selbst bei der Deutschen Bank einen dreistelligen Millionverlust. Die HypoVereinsbank wird an der Börse gar nur noch mit einem Drittel ihres Eigenkapitals gehandelt.[1] – Waren die Banken großteils verantwortlich für den Börsenboom, wurden sie vom Zusammenbrechen der Kurse mit in die Krise gerissen, die sie nun noch verstärken. Auf der anderen Seite sind Kredite selbst für solide Investitionen immer schwerer und ungünstiger zu haben, und Unternehmen müssen infolge von Kreditrückforderungen Konkurs anmelden. So hängen Börsenkrise und Rezession der Realwirtschaft miteinander zusammen, doch hat letztere noch andere Ursachen.

In Deutsch­land gab es schon 2001 über 32.000 Konkurse, dieses Jahr werden 40.000 erwartet. Auch der Staat ist verschuldet – mit 1200 Milliarden Euro, für die er jährlich rund 70 Milliarden Euro Zinsen zahlt. Die Neuverschuldung wird etwa 35 Milliarden Euro betragen. Alles deutet darauf hin, daß die Maastricht-Kriterien, die die Staatsverschuldung der EU-Mitglieder begrenzen sollten, bald politisch „begraben“ werden. Die USA wiederum haben bereits im Juni ihre gesetzliche Obergrenze öffentlicher Schulden vorsorglich auf über 6000 Milliarden Dollar angehoben. - Was bedeutet dies angesichts der Tatsache, daß die Realwirtschaft bisher in den USA wie in Europa jährlich gewachsen ist? Das Vermögen wird fortwährend umverteilt. An den Börsen haben jene verloren, die erst in den letzten Jahren ihr Geld in Aktien anlegten – Menschen mit durchaus mittleren Einkom­men. Eine noch größere Umverteilung aber ist mit dem für fast alle selbstverständlichen Zins- und Kreditsystem verbunden.

Die Un-Logik des Zinses und Kreditsystems

In einem Zinssystem muß es zwangsläufig zu Konkursen kommen. Der Kredit eines Produzenten wird zu Löhnen und Einnahmen für die Zulieferer, und nur ein gleicher Betrag kann im Grunde wieder zu ihm zurückfließen. Wovon soll er den Zins bezahlen (vom Kredit einmal abgesehen)? Entweder macht er Konkurs oder rettet sich durch den eines anderen. – Die Unmöglichkeit der Zinszahlung wird zunächst überdeckt, wenn die Geldmenge stetig ausgeweitet wird. Aber auch dann treten die Konkurse spätestens auf, wenn es zur Inflation kommt. Diese unterbliebe nur, wenn dem Geldmengenwachstum das Wirtschaftswachstum entspräche. Als dies in Deutschland nicht mehr gegeben war und es zu den ersten Firmenpleiten kam, verpflichtete sich der Staat 1967 gesetzlich zur Förderung des Wirtschaftswachstums. Die Staatsverschuldung begann, und bald legte die Zentralbank Inflationsraten fest, die möglichst nicht zu überschreiten seien.

Das Geldmengenwachstum verläuft tatsächlich unkontrolliert infolge einer Geldschöpfung der Banken. Rund 10% eines vergebenen Kredites muß die Bank zugleich als Reserve halten. Schlägt sie die Rückzahlungsraten eines Kredites ihrer Reserve zu, kann sie bereits die nächsten Kredite vergeben, ehe der erste voll zurückgezahlt ist – eine Art Schneeballsystem. Festzustellen ist eine ständige Zunahme der Gesamtverschuldung (Haushalte, Unternehmer und Staat), der durch Zins stetig wachsende Geldvermögen gegen­überstehen. - Den Kreditzins heute noch als „Liquiditätsprämie“ für den Verzicht des Sparers zu begründen, ist angesichts der Kreditschöpfung mit ihrer Geldmengenausweitung absurd. Der Zins ist eine Prämie für die Bank (die das Monopol besitzt, Geld gegen Sicherheiten zu vergeben) und arbeitsloses Einkommen von Vermögensbesitzern[2] - und damit Ursache für Akkumulation von Kapital, das der Realwirtschaft zunehmend entzogen wird.

Diese reale Wirtschaft geht vor allem am künstlich hochgehaltenen Zins selbst zugrunde, der in einem wirklichen Markt infolge des Überangebots an Spargeld auf oder unter Null fallen müßte. Unternehmen können Kredite nur tilgen, wenn ein reales Wirtschaftswachstum da ist, das außerdem noch den Zinssatz übersteigt! Derselbe Zins aber, der die reale Wirtschaft zu einem unmöglichen Wachstum zwingt, gilt heute als einziges Mittel, um das Geldmengenwachstum zu begrenzen.[3]

Zahllose Spekulationskredite und die damit einhergehende Geldmengenerweiterung ermöglichten und bewirkten erst die Explosion der Finanzmärkte. Heute haben 99% der hier täglich zirkulierenden 1.500 Milliarden Dollar mit der Realwirtschaft nichts mehr zu tun. Massenhaft aus dem Nichts geschaffenes Geld kauft aus dem Nichts geschaffene „Werte“, deren Preis solange steigt, wie neues virtuelles Geld weiter „in­vestiert“. Man könnte dieses Spektakel belächeln, wenn die Spekulationen nicht ganz reale Krisen auslösen würden. Wenn die Illusion zerplatzt, kommt es erst recht zur globalen Krise. Während die Aktienkurse abstürzen und virtuelle Werte vernichtet werden, wird sich das Kapital in die Realwirtschaft flüchten. Dem kommt entgegen, daß die verschuldeten Staaten – entsprechend dem neoliberalen Modell angeblich sogar gerne – auf Privatisierung drängen. Das aus Nichts für Nichts geschaffene Geld wird Wasserwerke, Stromversorgung, Krankenhäuser, Schulen... - die gesamte Infrastruktur erwerben. Das ist die letzte Folge des heutigen Zins- und Kreditsystems.

Nur sachgemäße Begriffe können helfen

„Ins Rechte gedacht“ müßte die Geldschöpfung an die Warenwertschöpfung gebunden sein. Das Geld wird auch nur dann keine Machtposition besitzen, wenn es genau wie die Ware entsteht und vergeht. Ein Zins wäre nur zu erwägen, wenn eine reale Nachfrage nach Geld das Angebot übersteigt. - Ganz vereinfacht gesprochen, könnte ein neu in die Wirtschaft eintretender Produzent eine frei geschöpfte Schenkung für seinen Berufseinstieg erhalten, deren Wert dann dem gesamten Wirtschaftskreislauf wieder entzogen wird – entsprechend dem Verschwinden der verkauften Waren aus der Wirtschaftssphäre (sachgemäß zum Beispiel als eine Art Konsumsteuer). Die Bank würde die Fähigkeiten des Produzenten und die Nachfrage danach bewerten. Heute dagegen gibt sie Kredit je nach „Sicherheiten“ und erklärt gleichsam Eigentum selbst zum Produzenten – Endpunkt ist die völlige Verselbständigung der Finanzmärkte.

Einer Fähigkeitenwirtschaft entspricht die Wandlung des Eigentumbegriffes. Das über den Eigengebrauch hinausgehende Privateigentum war Wegbereiter des Kapitalismus mit all seinen positiven und negativen Erscheinungen. Privateigentum statt Nutzungsrecht führt über Nutzungs­blockierung zu arbeitslosem Einkommen und damit weiterer Konzentration, zu Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Der Begriff des Privateigentümers setzt den Nichteigentümer voraus, dem jener verpachten, den er zur Lohnarbeit zwingen kann. – Hier deutet sich an, daß die Frage des „Gewinns“ noch umfassender ist als die des Zinses. Der Zins jedoch schafft den Zwang, Gewinn machen zu müssen. Ist einmal dieser Zwang beseitigt, sind die Menschen ganz direkt, aber in Freiheit, vor das Problem gestellt, Gewinn auf Kosten anderer machen zu wollen.

Nicht um Patentlösungen geht es, sondern um ein grundsätzlich anderes Denken, das die Zerstörungskraft des heutigen Systems durchschaut. Gegen Ende des letzten Vortrags über „Geschichtliche Symptomatologie“ sagt Steiner: „Muß es denn auf dem Wege geschehen, daß erst alles zusammenbricht, damit die Menschen anfangen zu denken?... Nicht verlange ich, daß der einzelne dies oder jenes tut, denn ich weiß sehr gut, wie wenig man in der Gegenwart tun kann [1918!]. Aber was notwendig ist, ist Einsicht zu haben, nicht immer dieses falsche Urteil und dieses Nichtbemühen zu haben, in die Dinge hineinzuschauen...“.[4]

Fußnoten


[1] vgl. Der Spiegel 42/2002: Versenktes Geld. Die Weltwirtschaft im Strudel der Banken-Krise.

 

[2] Da in allen Preisen die Zinsen der Firmenkredite enthalten sind, profitieren vom Zinssystem tatsächlich nur „die oberen Zehntausend“. Der „Gewinn“ des kleinen Sparers ist eine Illusion.

 

[3] Bei „Nullzins“ würden erst recht zahllose Spekulationskredite die Geldmenge explodieren lassen.

 

[4] Vortrag vom 3.11.1918, GA 185