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08.10.2002

Die Weltmacht der Lüge

Die USA und der Irak

Zu diesem Artikel gab es eine interessante >> Korrespondenz mit den Redaktionen des „Goetheanum“ und der „Info3“.

„Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst“, so weiß man inzwischen. Wer sich mit dem Zeitgeschehen auseinandersetzt, wird jedoch feststellen, daß heute überall und täglich die Wahrheit getötet wird, und es ist erschreckend zu sehen, wie sehr die Lüge ihre Herrschaft unter den Menschen - um nicht zu sagen über sie - angetreten hat.


Wie zusammengeballt tritt einem die Lüge und Unwahrhaftigkeit in der „Irakfrage“ von Seiten der USA entgegen. Es ist wohl unvermeidlich, daß in einer Zeit, wo die Menschheit zur individuellen Freiheit kommen soll, zur Lüge gegriffen werden muß, wenn es gilt, eine Weltmacht zu behaupten. Gerade angesichts dessen, daß Präsident Bush in seinen Reden „leuchtende“ Ideale im Munde führt, die jedoch in abstraktester Weise vertreten werden, sollten die Tatsachen angeschaut werden. 

Schon das ganze Jahr hindurch stellt die US-Regierung Saddam Hussein als die größte Gefahr der Welt hin, obwohl bisher kein einziger Beweis vorgelegt wurde. Alle Aussagen, von ehemaligen UN-Inspektionsleitern über die Internationale Atomenergiebehörde bis hin zur CIA selbst, weisen auf das Gegenteil hin. Keinesfalls kann Bush und sein Beraterstab mehr wissen als die bestunterrichteten Stellen, aber er kann etwas Bestimmtes wollen, was mit seinen Worten nicht übereinstimmt. Auch die größte Lüge, immer wiederholt, tut ihre Wirkung. Dazu kommt die Macht der Medien auf das Bewußtsein - die großen Zeitungen in den USA teilen den „Kriegskurs“, anderswo in der Welt wird höchstens das „unilaterale“ Vorgehen kritisiert, niemals jedoch grundsätzlich und kompromißlos die Unwahrhaftigkeit. Die Welt arrangiert sich mit ihr. Außerdem, könnte Saddam nicht doch hier und da einige chemische Waffen...? Sobald man diese Überlegung anstellt, kann man kaum noch bemerken, daß es auf diese Frage gerade nicht ankommt, denn man ist schon gefangen in der von Bush praktizierten Logik und Suggestion. Das Gleiche ist übrigens der Fall, wenn jenen, die über Tatsachen sprechen, unterstellt wird, sie würden den Irak verteidigen. Beides hat miteinander nichts zu tun.

Symptome der Unwahrhaftigkeit

Ohne Beweise und sogar gegen alle Hinweise stellt also Präsident Bush den irakischen Diktator als größten Feind für die „freie Welt“ dar. Wie kann ein Land, das schon 1991 einem sechswöchigen Angriff und der Zerstörung der industriellen Infrastruktur machtlos gegenüber stand und zusätzlich eine etwa 95-prozentige Abrüstung und ein 11-jähriges Embargo hinter sich hat, eine Bedrohung sein, der man mit „präventiver Selbstverteidigung“ zuvorkommen muß? Schon öfter hat die irakische Regierung Journalisten zu verdächtigten Einrichtungen geführt. Zweimal forderte sie führende US-Abgeordnete auf, sich zusammen mit Experten selbst ein Bild zu machen. Die US-Regierung jedoch ist überhaupt nicht an einer neuen UN-Inspektion interessiert, sondern an einem Regimewechsel („system changing“).

Während der ersten UN-Mission waren unter dem Deckmantel der Inspektorenteams US-Agenten völkerrechtswidrig im Irak tätig und sammelten Zielkoordinaten für – auch sehr viele zivile – Einrichtungen, die dann 1998 zerstört wurden. Bis heute blockieren die USA im Sanktionsausschuß sogar erlaubte Hilfsgüter für mehrere Milliarden Dollar, weil sie rein theoretisch militärisch genutzt werden könnten. Das Handelsembargo ist entscheidende Ursache für den Tod von etwa 5000 Kindern Monat für Monat. Während die US-Regierung dem Irak mit militärischer Gewalt eine neue „scharfe“ UN-Resolution aufzwingen will, lehnt dieser eine solche gar nicht grundsätzlich ab, sondern verlangt nur klar formulierte Ziele und Erfolgskriterien für eine neue UN-Mission und die Anbindung an die Frage der Sanktionen. Seit zehn Jahren ist die Hälfte des Irak im Norden und Süden „Flugverbotszone“, die von den USA und Großbritannien einseitig festgelegt wurde und „überwacht“ wird. Im ersten Krieg 1991 setzte die US-Armee Uranmunition ein, wodurch allein 20% der US-Soldaten erkrankten und rund 600 bereits starben. All dies sind Symptome, die eine Empfindung für unwahre und wahre Motive aufwecken können.

Schon mit der Androhung von Gewalt stellen sich die USA außerhalb des Völkerrechts, wie es in der UN-Charta for­muliert ist, auf der die gesamte UNO im Grunde basiert. Was fürchtet Bush am Irak? Warum sagt er kein Wort zu den Massenvernichtungswaffen in Indien oder Pakistan? Die US-Regierung führte eine Verbindung des Irak zu Al Quaida oder zu den Milzbrandanschlägen ins Feld. Diese erwiesen sich als haltlos bzw. kehrten sich gegen die USA selbst. Und wiederum kein Wort gegen die reale Unterstützung von Al Quaida durch saudische und pakistanische Geheimdien­ste.

Die US-Regierung übergeht unverhohlen das Gewaltverbot bzw. –monopol der UNO. An dessen Stelle tritt die Doktrin der „präventiven Selbstverteidigung“. Genau wie Wilson wird Bush das Gegenteil von dem erreichen, was er verkündet. Zum einen macht er den Krieg wieder zum Mittel der Politik und stößt das Tor auf in eine Zukunft des „Kampfes aller gegen alle“ (schon längst wird das, was die USA nun beanspruchen, auch anderswo reklamiert). Zum anderen wird gerade ein verlogener Angriff auf den Irak den Haß der arabischen Menschen nur noch vergrößern. Es ist vermutet wor­den, daß der Anschlag vom 11. September über die Reaktion der USA diesen Haß befeuern sollte. Genau dies wird nun weiterhin erreicht. Es ist geradezu erstaunlich, wie perfekt die Mächte von Haß und Lüge zusammenwirken. Einst stand Amerika durchaus für rechtsstaatliche Ideale. Heute wird man als anti-amerikanisch angefeindet, wenn man ein brutales Weltmachtstreben als unvereinbar mit diesen Idealen hinterfragt.

Die eigentlichen Motive

Vorauszusehen ist, daß bei einem Sturz Husseins die USA ein Marionettenregime einsetzen werden. In Afghanistan „re­giert“ heute mit Hamid Karzai der CIA-Wunschkandidat und frühere Berater des US-Ölkonzern Unocal. Für den Irak steht neben anderen der Vorsitzende des „Irakischen Nationalkongresses“ INC hoch im Kurs. Chalabi ist in Washington wohlbekannt, ist aber in Jordanien verurteilt, weil er eine Bank um 200 Millionen Dollar betrogen haben soll. Andere „Kandidaten“ sind Generäle, die für den Giftgaseinsatz gegen die Kurden mit verantwortlich waren. Keiner dieser Män­ner wird irgendeinen Rückhalt bei der irakischen Bevölkerung haben. Deutlich aber ist, daß es Bush um „Demokratie“ zuallerletzt geht.

Kaum etwas kann einer machtbewußten US-Regierung wichtiger sein, als daß der Irak Teil ihrer Einflußsphäre oder sogar Standort von US-Truppen wird. Im Irak lagern die zweitgrößten Ölvorkommen eines Staates, in direkter Nähe die riesigen Vorkommen der kaspischen Region (ähnlich groß wie die von Saudi-Arabien), einschließlich der Pipelines durch Afghanistan, Pakistan oder die Türkei. Über das irakische Öl könnte der Ölpreis weitgehend beeinflußt werden, die OPEC würde zerbrechen, außerdem sind im Ölgeschäft selbst enorme Gewinne zu machen (vielleicht ist dies in Wirklichkeit das naheliegende Hauptmotiv). Man würde von Saudi-Arabien weitgehend unabhängig. Nebenbei würde der Iran von beiden Seiten kontrolliert und die gesamte arabische Welt eingeschüchtert – zumindest die politische Ebene. Das Wall Street Journal schrieb am 16. September: „Die beste Art und Weise, die Ölpreise niedrig zu halten, ist ein kurzer, erfolgreicher Krieg gegen den Irak, der besser heute als morgen beginnen sollte.“ Zwei Tage später warnte das Blatt davor, daß die Bemühungen um eine UN-Sicherheitsratsresolution „die beste Zeit für eine Invasion – den Winter – verstreichen lassen könnten“.

Dies also ist es, was der US-Regierung 100 bis 200 Milliarden Dollar und möglicherweise bis zu 40.000 tote Soldaten wert ist. Selten aber hat ein so mächtiger Mann so wenig von der Welt gewußt wie Bush. Es ist eben nicht nur eine Redewendung, wenn man den ganzen Nahen Osten als Pulverfaß bezeichnet. Einen Angriff auf den Irak würden die arabischen Bevölkerungen auf sich selbst beziehen. Umgekehrt könnte Israels Regierung sich hingerissen fühlen, die „Vertreibung“ der Palästinenser durchzuführen oder auch auf einen irakischen Angriff mit Atomwaffen zu reagieren. Die Türkei versetzt ihre Armee bereits in Alarmbereitschaft, um jedes kurdische Staatsgebilde zu verhindern. Die Berater von Bush kennen diese Gefahren, doch sie scheinen nicht „relevant“ genug zu sein. Die „Kollateralschäden“ im Irak selbst sind es mit Sicherheit nicht. Was hat dies noch mit „westlicher Zivilisation“ zu tun?

Die wahren Menschheitsimpulse ergreifen

Man kann sich immer wieder fragen: Wie kann es sein, daß heute die schönsten Ideale, Freiheit, Frieden und Menschenwürde, vertreten zu werden scheinen und doch offenbar ganz andere, berechnende Motive verfolgt werden? Man kann sich gegenüber dem, was Präsident Bush ganz abstrakt als zu verteidigende Ideale verkündet, durchaus immer wieder zur inneren Zustimmung gedrängt fühlen. Das muß auch so sein, wenn man diesen Idealen aus seinem eigenen Inneren heraus Inhalt verleihen kann. Dennoch muß man durch das Gesagte hindurchdringen. Heute können die Dinge sogar „wortwörtlich übereinstimmen mit dem, was der Wirklichkeitserkenntnis der Zeit gemäß ist. Aber auf das Wortwörtliche kommt es nicht an, sondern darauf kommt es an, in welcher Region der Menschenseele die Dinge entspringen“[1]

Was aber kann dem Machtstreben der heutigen Zeit, das sich nur exponiert im Handeln der US-Regierung äußert, entgegengestellt werden? Rudolf Steiner weist zunächst grundsätzlich auf folgendes hin: „Führen Sie ein in diesem Zeitalter der Bewußtseinsseele Demokratie, Parlamentarismus, Technik, modernes Finanzwesen,...all diejenigen Gesichtspunkte, die die Menschen jetzt zugrunde legen dem, was sie Neuordnung der Welt nennen... – Sie fördern dann den Tod, wenn Sie nicht all das befruchten wollen durch die Impulse der übersinnlichen Welt.“[2] Der Mensch muß die Bewußtseinsseele entwickeln. Dann kann er jene Impulse ergreifen und sich zugleich von den Tatsachen leiten lassen. Die Menschheit entwickelt sich hin zum Individualismus und zum Sozialismus. Der wirkliche Impuls des Sozialismus ist Brüderlichkeit. Dazu aber braucht es „an Stelle der heutigen Staatssysteme Organisationen über die ganze Erde hin, die durchtränkt sind von Brüderlichkeit“[3].

Steiner deutet hin auf die Dreigliederung. Eine Politik, die sich auf Rechtsfragen beschränkt und keine Interessenvertretung betreibt, ein Wirtschaftsleben, in dem die verschiedenen Interessen und Bedürfnisse direkt und gleichberechtigt aufeinandertreffen und sich auszugleichen haben, ein Geistesleben, das sich frei entfalten kann. Durch eine sachgemäße Trennung der drei Bereiche wird all jenen Ursachen von Macht(streben) und Egoismus der Boden entzogen, der auf ihrer Vermischung beruht. Die drei getrennten Bereiche könnten über Staatsgrenzen hinweg zusammenwachsen. Das kann hier nicht näher erläutert werden, und sicherlich ist eine solche Entwicklung nur möglich, wenn zuvor einzelne Gemeinschaften (z.B. Institutionen oder Zusammenschlüsse von solchen) das Prinzip der Dreigliederung vorleben. Das Leiden an der Erkenntnis falscher Strukturen und Entwicklungen in der Welt muß den Willen zum Handeln im eigenen Umfeld befeuern. Vor allem aber braucht es wirkliche Erkenntnis der Zeitgeschehnisse, auch wenn man zunächst gar nicht sieht, wie man konkret „etwas tun“ kann. Steiner sagt 1918: „Nicht verlange ich, daß der einzelne dies oder jenes tut, denn ich weiß sehr gut, wie wenig man in der Gegenwart tun kann. Aber was notwendig ist, ist Einsicht zu haben, nicht immer dieses falsche Urteil und dieses Nichtbemühen zu haben, in die Dinge hineinzuschauen...“.[4]

Fußnoten


[1] Rudolf Steiner am 26.10.1918 (GA 185: „Geschichtliche Symptomatologie“)
[2] Vortrag vom 20.10.1918 (ebd.)
[3] Vortrag vom 3.11.1918 (ebd.)
[4] ebd.