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29.06.2002

Warum die Verfassung schützen?

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 10.7.2002 (Nr. 29) unter dem Titel: „Die Verfassung oder den Menschen schützen?“


Im September 2001 schlägt eine Gruppe Jugendlicher unter „Sieg Heil“-Geschrei einen Griechen in einem Ort in Mecklenburg-Vorpommern krankenhausreif. Im gleichen Jahr gab es Dutzende ähnlicher Gewalttaten, doch der Verfassungsschutzbericht 2001 listet für Mecklenburg-Vorpommern eine erstaunliche Zahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten auf: Null. Auf ganz Deutschland bezogen finden sich in dem Bericht weniger als 50% aller Fälle, die in den einzelnen Länderberichten auftauchen. Nordrhein-Westfalen gibt z.B. 123 Straftaten mit rassistischem Hintergrund an, doch im Bundesbericht erscheinen nur 48. Die Sprecherin der PDS-Bundesfraktion, Ulla Jelpke, richtete deswegen am 11.6. eine kleine Anfrage an die Bundesregierung und bekam zur Antwort: Das Bundesamt für Verfassungsschutz dokumentiere nur „extremistische Straf- und Gewalttaten“, die Landesämter dagegen alle Fälle „politisch motivierter Kriminalität“. 

Wo liegt der Unterschied? Mit „extremistisch“ ist offenbar gemeint „verfassungsfeindlich“. Nun müßte man wissen, welche Taten unter diesem Aspekt erfaßt werden, inwieweit sich also die im Bundesbericht erfaßten Taten gegen die Verfassung richten. Doch einmal abgesehen davon: Die Verfassung ist nichts Abstraktes. Das Wesen der Verfassung offenbart sich im konkreten Leben. Insofern ist jede Tat, die Ideen der Verfassung mißachtet, verfassungsfeindlicher als etwa ein an das Gebäude des Bundesamtes geschmiertes Hakenkreuz. Das Ziel der Verfassung bezieht sich auf die konkreten Menschen und ihre Gemeinschaft, die also den Sinn der Verfassung erst be-gründen. Der oberste Grundsatz der Verfassung ist doch: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Aus dieser Idee heraus gewinnt alles übrige erst seinen Sinn. Aus dieser Idee heraus ist z.B. ein demokratisches System überhaupt erst schützenswert.

Es ist keine verfassungsfeindlichere Tat denkbar als eine, die die Würde eines Menschen verletzt (angemerkt sei, daß eine solche immer auch die Würde des Menschen, d.h. aller Menschen verletzt!). Im Grunde sind alle Gewaltverbrechen verfassungsfeindlich. Dennoch macht es einen Unterschied, ob sie konkret nur ein bestimmtes Opfer haben, oder ob sie sich prinzipiell ständig wiederholen können, weil sie sich auf bestimmte Eigenschaften von Menschen beziehen. „Ausländerfeindliche“ Taten verletzen die Würde des Menschen unabhängig vom konkreten Geschehen schon deshalb, weil sie das Wesen des Menschen verleugnen, indem sie die Nationalität über das Individuum stellen.

Der Verfassungsschutzbericht ist im Grunde genommen ebenso blind gegenüber dem Wesen des Menschen, weil er ein Abstraktum „Verfassung“ höher stellt als den Menschen und Taten kennt, die zwar die Würde des Menschen (nicht eines einzelnen!) mit Füßen treten, aber dennoch die Verfassung nicht verletzen.

Die Blindheit gegenüber der hier angesprochenen Problematik wird in unserer Zeit weiter zunehmen. Man beachte genau, wie auch die offizielle Politik „Ausländer“ zunehmend zum Problem erklärt und auf Kosten der Idee des Menschen auf Stimmenfang geht. Wer mit einer herbeigeredeten „Ausländerflut“ Politik macht, stellt den Staat, den „Standort Deutschland“ oder was auch immer über die Idee des Menschen. - In vielen Fällen mag er nur seinen Wohlstand bzw. den seines gegenwärtigen „Volkes“ sichern wollen (meist um jeden Preis, also auch auf Kosten anderer). Für sich genommen ist ein solcher Egoismus zunächst die größte Behinderung gegenüber allem, was als Liebe in Form von menschheitlich verstandener Brüderlichkeit in die Welt kommen soll. Es kann aber niemand zur Brüderlichkeit gezwungen werden. Wenn dann aber noch die entsprechende Rhetorik dazukommt, mit der alle Menschen, die zunächst nicht einer europäischen oder anderen „Union“ angehören, als unerwünscht dargestellt werden, dann wird die Idee des Menschen selbst begraben, von der allein Impulse ausgehen können, die der Mensch­heit ihre Zukunft ermöglichen.

Man beachte zweitens, wie gefährlich die Gratwanderung ist, in der „Antiterrorgesetze“ zwar mit dem angeblichen Schutz der Bürger begründet werden, in Wirklichkeit aber jeden Bürger als potentiellen Terroristen behandeln, der schnell ins Visier des Verfassungsschutzes geraten kann (etwa bei Teilnahme an einer Antikriegsdemonstration!).

Die Frage ist, wer oder was hier eigentlich vor wem geschützt werden soll. Selbst, wenn man den besten Willen unterstellt, weiß doch jeder, daß ein Mensch, der nach völliger „Sicherheit“ strebt, sich selbst vom Leben abschneidet. Um dem möglichen Leiden aus dem Weg zu gehen, wählt man ein Leben, das keines mehr ist. Auf einen Staat übertragen beginnt dasselbe dort, wo mit dem Hinweis auf alle möglichen Möglichkeiten den Menschen absolute Grundrechte genommen werden. Immer mehr muß das Individuum beweisen, daß es kein Verbrecher ist (es sei denn, es sitzt ruhig zuhause). Auch hier ist die Würde des Menschen bereits zutiefst verletzt. Wer auf diese Weise die Verfassung schützt, hat sie bereits gebrochen. Und selbst wenn es ihm um die konkreten Menschen geht: ihr Wesen hat er nicht begriffen.

Quelle: junge Welt vom 29.6.2002