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07.07.2002

Der Kampf gegen die Idee des Sozialen

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 31.7.2002 (Nr. 32). / >> Zur Diskussion mit Ingo Craubner.


Die konstant hohe bzw. ansteigende Arbeitslosigkeit führt überall in Europa zu konkreten Bemühungen, diejenigen Elemente abzuschaffen, die sich auf die Idee der „sozialen Marktwirtschaft“ beziehen. Der Grundgedanke der dahinter stehenden neoliberalen Denkweise ist, daß es mehr Arbeit gibt, als man glaubt - wenn man nur danach sucht. In erster Linie geht dabei die Tendenz dahin, die „Arbeitslosen“ für ihren Zustand verantwortlich zu machen. Da jedem klar ist, daß die Massenabeitslosigkeit größtenteils auf die massiven Rationalisierungen und „Entschlankungen“ insbesondere der Großkonzerne zurückgeht, reicht eine bloße Schuldzuweisung an die Arbeitslosen aber noch nicht aus. Folgerichtig damit einhergehend etabliert sich zur Zeit zweitens immer mehr der Grundsatz, daß für einen Arbeitslosen selbstverständlich jede Arbeit zumutbar sein muß. Wer sich durch „Einsparungen“ eines Konzerns auf der Straße wiederfindet, hat also nicht nur froh zu sein, daß er irgendeinen Job bekommt, er hat sogar die Pflicht, die Arbeitslosenstatistik so schnell wie möglich wieder zu entlasten, auf welche Weise auch immer. 

Angesichts dieser Tendenzen muß unmißverständlich betont werden, daß keine noch so subtile „Faulenzer-Debatte“ auch nur einen realen Arbeitsplatz schafft. Was dazu geschehen müßte, wird weiter unten betrachtet werden. Wichtig ist zunächst die Erkenntnis, daß sich die Politik mit ihren gegenwärtigen Diskussionen und Aktivitäten aus ihrer Verantwortung verabschiedet, ohne daß es der Normalbürger sogleich merkt. Zugleich erhalten die wirklich Verantwortlichen in der Wirtschaft einen Freibrief, indem mehr oder weniger deutlich allen Arbeitslosen der Stempel aufgedrückt wird, selbst schuld zu sein. Die Opfer werden nach ihrer Opferung noch gedemütigt.

In Deutschland hatte Bundeskanzler Schröder im Frühjahr eine Kommission "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" eingesetzt. Sie sollte unter Leitung des VW-Personalvorstands Peter Hartz bis Ende August Vorschläge zur Reform der deutschen Bundesanstalt für Arbeit erarbeiten. Nun wurden jedoch schon Ende Juni wesentliche Punkte veröffentlicht. Schröder ist zwar schon lange auf einen neoliberalen Kurs eingeschwenkt, reagiert jetzt aber offenbar verstärkt auf die Stimmenverluste sozialdemokratischer Parteien bei den Wahlen in Frankreich, Holland und Portugal. Die Vorschläge der Hartz-Kommission kamen auch für die Opposition so überraschend, daß diese sie einerseits als unseriös bezeichnet, andererseits der SPD vorwirft, ihr Programm gestohlen zu haben.

Geplant ist unter anderem, daß eine an das Arbeitsamt angegliederte Personal Service Agentur jeden Arbeitslosen nach sechs Monaten einstellt und wie eine Zeitarbeitsfirma an Unternehmen ausleiht - die damit nicht fest einstellen müssen. Der Arbeitslose wird voraussichtlich jede Arbeit annehmen müssen, auch „gemeinnützige“ für 1,50 Euro Stundenlohn. Die Beweislast für Unzumutbarkeit wird umgedreht. Die bisherige soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit (sogenanntes Arbeitslosengeld und später Arbeitslosenhilfe) soll sukzessive abgebaut werden und tendiert zu einer minimalen Grundsicherung. Es ist geradezu unglaublich, daß das einheitliche Sozialgeld u.a. damit begründet wird, daß Menschen „in gleichen Problemlagen gleich behandelt“ werden müßten. Bisher ging es immer darum, die Leistungen der Sozialhilfeempfänger mit dem Argument einzuschränken, sie müßten sich von den Hilfen für (normale) Arbeitslose genügend unterscheiden. Jetzt gleicht man de facto diese an das niedrige Niveau der ersteren an, indem man die Idee der Gerechtigkeit auf den Kopf stellt.

Der Verlust des Rechtsempfindens

In der Marktwirtschaft wurde schon bisher auf den Egoismus des Einzelnen gesetzt. Die neoliberale Ideologie tut dies nun so vollständig, daß sie die sozialen Elemente, die bisher die unsozialen Wirkungen des Kapitalismus auffangen sollten, Schritt für Schritt reduziert, um dem Einzelnen die volle Vorsorgepflicht für sich selbst aufzubürden. Zugleich geht paradoxerweise der Blick für das Individuum vollständig verloren. Prinzipiell muß dies in einer Gesellschaft ohne Dreigliederung immer der Fall sein: Der Einfluß von Lobbys auf die Gesetzgebung, der Einfluß der Legislative auf das Geistesleben, der Einfluß von Ideologien auf das Rechts- und Wirtschaftsleben - all das führt zur Verschleierung und Mißachtung des individuellen Wesens des Menschen. Der Neoliberalismus nun mündet gänzlich in die sozialdarwinistische Denkweise ein.

Rudolf Steiner formulierte schon 1905 das „soziale Hauptgesetz“: „Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist umso größer, je weniger der Einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen  an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.“ (GA34) - Und an anderer Stelle sagte er: „Bei Menschen ohne eine auf den Geist sich richtende Weltauffassung müssen nämlich notwendig gerade diejenigen Einrichtungen, welche den materiellen Wohlstand fördern, auch eine Steigerung des Egoismus bewirken und damit nach und nach Not und Elend und Armut erzeugen.“ Steiner wies deutlich darauf hin, daß, wer für sich arbeitet, allmählich dem Egoismus verfallen muß, und daß dies zwangsläufig zu Not und Elend anderer Menschen führt. Not und Elend müssen auftreten, wenn das soziale Hauptgesetz nicht beachtet wird.

Wir befinden uns mitten in der Zeit, in der die Geister sich scheiden und in der es darauf ankommen wird, wieviele Menschen zumindest ahnungsweise zu einer „auf den Geist sich richtenden Weltauffassung“ finden. Wer im Menschen dessen geistiges Wesen ahnen kann, der kann auch dazu kommen, sich im Sinne der Nächsten- und der Feindesliebe für jeden seiner Menschenbrüder verantwortlich zu fühlen - unabhängig von Sympathie und Antipathie und überhaupt davon, ob er ihn kennt oder nicht. Rudolf Steiner sagt in einem Vortrag: „Die Menschen müssen die Dinge alle durch Prüfungen durchmachen, indem sich ihnen gewissermaßen die Gegenkräfte in den Weg stellen. So werden die Sympathie- und Antipathiegefühle wirklich sich ausbreiten, und nur im...bewußten Bekämpfen der oberflächlichen Sympathie- und Antipathiegefühle wird die Bewußtseinsseele richtig geboren werden können. ... Was von selbst entstehen wird, wird Entfremdung der einzelnen untereinander sein. Was aus dem menschlichen Herzen wird herausquellen, das wird bewußt anzustreben sein. Schwierigkeiten geht jede einzelne Seele...entgegen. Denn nur in der Überwindung dieser Schwierigkeiten werden sich die Prüfungen ergeben, unter denen die Bewußtseinsseele entwickelt werden kann.“ (10.10.1916, GA 168).

Die zunehmende Ungerechtigkeit

Schon der gesunde Menschenverstand sagt einem, daß etwas nicht stimmen kann, wenn zum einen der Regelsatz der Sozialhilfe bei 290 € im Monat liegt und bereits Radiosender zu Spenden für Kinder von Sozialhilfeempfängern aufrufen, zum anderen etwa der ehemalige Berliner Bürgermeister Diepgen ein Ruhegeld von 8.000 € bekommt, Kanzler Schröder an die 15.000 €, Florian Gerster (der neue Chef der Bundesanstalt für Arbeit!) um 20.000 € und die acht Vorstände der Deutschen Bank im Jahr 2001 insgesamt 56 Mio € (davon 50 Mio „erfolgsabhängiger Bonus“).

1993 bis 2001 stiegen die Gewinne der Kapitalgesellschaften um 100%, die Nettoeinkommen der Beschäftigten nur um 4,6%, deren Kaufkraft sank um 6%. Die Lohnsteuer auf die Bruttolöhne stieg in den 90er Jahren von 16,3 auf 19,4%, die durchschnittliche Steuerlast für die Unternehmen sank in den letzten 20 Jahren von 30% auf 15%, die Staatseinnahmen aus Unternehmens- und Vermögenssteuern sanken in den 90er Jahren um 20%. Die Staatseinnahmen resultieren heute zu über 30% aus der Lohnsteuer, der Anteil der Gewinnsteuern sank 1980-96 von 24% auf 11%. Wäre ihr Anteil heute noch so hoch wie 1980, hätte der Staat jährlich über 50 Mrd € mehr, was rund drei Viertel der Neuverschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden ausmacht (übrigens: auch, als die Unternehmen 1994 noch rund 90 Mrd DM Gewinnsteuern abführten, erhielten sie zugleich 130 Mrd DM an Subventionen). Nach einer OECD-Studie liegt Deutschland beim Anteil von Unternehmenssteuern am Bruttosozialprodukt vor Island an vorletzter Stelle. Die EU-Kommission hat Deutschland sogar Steuerdumping vorgeworfen.

Bei der Einkommenssteuer muß ein Manager mit 8 Mio € Jahresgehalt nicht mehr zahlen als ein Ingenieur mit 4.500 € Brutto-Monatsgehalt. Schon 1996 ärgerte sich Hamburgs Bürgermeister, daß von 4.500 Einkommensmillionären wegen diverser Steuerlücken die Hälfte überhaupt keine Einkommenssteuer zahlt. Das Geldvermögen einer kleinen Oberschicht hat sich in den 90ern fast verdreifacht. Jedes Prozent Vermögenssteuer brächte dem Staat über 15 Mrd € im Jahr. Nach einer Weltbankstudie unter 14 Industrieländern liegt Deutschland bei der effektiven Steuerbelastung der Kapitalerträge auf Platz 12. Erst 1991 wurde die Börsenumsatzsteuer abgeschafft (warum wird eigentlich die Mehrwertsteuer auf „Güter des täglichen Bedarfs“ immer wieder erhöht, während der „tägliche Kapitalbedarf“, der ganze Volkswirtschaften durcheinander wirft, völlig steuerfrei abgewickelt wird?).

Ein Konzern wie Daimler führte 1996-98 trotz bester Gewinnlage keine Körperschaftssteuer ab, konnte aber für 75 Mrd DM Chrysler schlucken. Die Gewinne aus Beteilungsverkäufen sind inzwischen steuerfrei, Verluste aus Beteiligungen sind steuerlich absetzbar. Das Land Nordrheinwestfalen z.B. mußte deswegen im Jahr 2001 rund 1,6 Mrd € Körperschaftssteuer zurückzahlen. Im selben Jahr reduzierte der Bayer-Konzern seine Ertragssteuern durch legale Tricks von 1,15 Mrd auf 150 Mio €. Insgesamt sanken die Unternehmenssteuern 2001 um 26% oder 20 Mrd €. Die Unternehmenssteuerreform geht zurück auf den Bayer-Finanzchef Heribert Zitzelsberger, der von Finanzminister Eichel als Staatssekretär damit betraut worden war...

Was ist zu tun?

Im Sinne des sozialen Hauptgesetzes müßten Einrichtungen geschaffen werden, durch die jeder in der Befriedigung seiner Bedürfnisse von den Leistungen anderer abhängig ist. Es dürften demnach gar keine Gewinne entstehen, d.h. einem bestimmten Wirtschaftsakteur gehören, der damit möglicherweise nicht einmal neue Wirtschaftswerte hervorbringt, sondern nur (steuerfrei!) die Konkurrenz aufkauft.

Deutschland ist ein reiches Land, dessen Bruttosozialprodukt nach wie vor - wenn auch minimal - stetig wächst. Nicht nur reale Werte, sondern auch Geldvermögen sind im Überfluß vorhanden. Der „mittlere“ deutsche Privathaushalt verfügt über 97.000 € Geldvermögen! Dieses Kapital wandert nun zunehmend in den Bereich rein spekulativer, irrealer Transaktionen ab, weil sich damit am schnellsten und meisten Rendite erzielen läßt (bis durch das Platzen von Spekulationsblasen einige Anleger entsprechende Verluste machen). Deutschland ist um ein Mehrfaches reicher als in der Nachkriegszeit, in der Vollbeschäftigung herrschte. Die Arbeitslosigkeit ist direkt gesehen eine Folge der Rationalisierungen, diese aber gingen einher mit der Konzentration des Reichtums, so daß Arbeitslosigkeit und wachsender Reichtum zwei Seiten derselben Medaille sind. Wie anders kann in einer wachsenden Volkswirtschaft zugleich die relative Armut eines Teils der Bevölkerung zunehmen?

Vor 50 Jahren gab es keine Arbeitslosigkeit. Auch heute gäbe es genug (bisher ungetane) Arbeit: Im Umweltschutz, in der Pflege, eigentlich in allen Bereichen, die einer Monetarisierung nicht wirklich zugänglich sind. In bezug auf diese - kulturell gerade besonders wesentlichen - Bereiche hat Steiner deutlich ein Umdenken gefordert. Im Grunde kann es nur einen Niedergang der Zivilisation geben, wenn nicht immer mehr eingesehen wird, daß diese Bereiche über Schenkungsgeld finanziert werden müssen. Bisher hat der Staat dies zwangsweise über Steuern getan. Indem er selbst die Steuern senkt, ist er dazu immer weniger in der Lage. Zugleich treibt er durch Gesetze die Privatisierung und damit Ökonomisierung dieser Bereiche voran. Damit geht die Idee des Schenkungsgeldes völlig verloren. Der angedeutete Bereich, in dem Arbeit nötig wäre, könnte weit mehr als vier Millionen Arbeitslose aufnehmen. Und wenn im Sinne des sozialen Hauptgesetzes niemand die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beanspruchen kann (ganz zu schweigen von einem Mehrfachen dessen, was seiner Leistung entspricht...), dann wäre genug Reichtum für die Bedürfnisse eines jeden vorhanden, ohne daß Millionen Menschen - oder wenn man den Blick weitet: weltweit viele 100 Millionen - aus der Rechnung herausfallen.

Damit diese einfache Wahrheit gesehen wird, müßten jene, die sie erkannt haben, gemeinsam aktiv werden. Jene, die von der Gesellschaft stigmatisiert werden, sind naturgemäß zu schwach, ihre Rechte geltend zu machen (wenn sie sich ihrer überhaupt bewußt sind). Die Gewerkschaften sind faktisch höchstens die Vertretung derer, die noch Arbeit haben. Bewegungen wie ATTAC bilden Plattformen und Netzwerke, die die Idee der Gerechtigkeit vertreten. Ihre Vorschläge wollen dieser Idee bis in die institutionelle Realität Möglichkeiten zur Verwirklichung schaffen. Es ist daher zu hoffen, daß entsprechende Organisationen durch Zusammenarbeit mit der Zeit auch das gesellschaftliche Gewicht bekommen, das ihren real Gehör verschafft. Das aber hängt von jedem einzelnen von uns ab.