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09.10.2002

Der Sinn des Bösen

„Wer von euch ohne Schuld ist...“

Erhard Fucke beschrieb im letzten Goetheanum, wie das Denken, Fühlen und Wollen degeneriert und es geradezu zum Seelentod kommt, wenn der Mensch sich nicht in seinem Ich findet, wenn er nicht den Geist ergreift. Die Impulse des Bösen wirken heute stärker denn je in der Welt, das aber heißt, im Menschen. Auch hier braucht man die zahllosen Beispiele der Menschenverachtung im Großen wie im Kleinen nicht zu wiederholen.


„...und erlöse uns von dem Bösen“, so beten Christen zum Vater. Dies kann voll mit der eigenen Aktivität zusammen gedacht werden und enthüllt durchaus noch nicht das Geheimnis des Bösen. Im exoterisch-gesellschaftlichen Bereich jedoch wird das Böse gar nicht als Eigenes gesehen. Gerade eine materialistische Anschauung kann nur von „bösen Handlungen“ sprechen und diese zugleich mit den „bösen“ Menschen identifizieren, vor denen die Gesellschaft zu schützen ist. Weil man das Böse nicht versteht, weist man es ab, leugnet es in sich selbst, bekämpft es und schafft sich immer wieder eine illusionäre Schwarz-Weiß-Sicht der Welt: Wer böse ist (!), hat selbst schuld, ich bin gut, oder wenigstens: Ich habe mich voll unter Kontrolle. 

Die Schuld aller

Immer klarer wird, wie sehr die Bedingungen des Umfeldes einen Menschen prägen. Die traditionelle Sicht auf das Böse kommt an diesen Erkenntnissen nicht vorbei, und doch postuliert sie die volle Freiheit und damit Selbstverantwortung und Schuld des Einzelnen (wenn nicht physiologische oder ähnliche „Schäden“ eine „Unzurechnungsfähigkeit“ begründen). Diese Prämisse ist jedoch abstrakt und darum unmenschlich. Man setzt etwas voraus, was nicht vorausgesetzt werden kann: Das freie Ich, das das Gute ergreift. Mit dieser Illusion identifiziert man sich und weist es von sich, sich in einen „Täter“ und seine Biographie hineinzuversetzen, denn selbstverständlich hätte man selbst in keiner Situation das Böse getan.

Das Gesagte soll keineswegs die Unschuld des „Täters“ belegen. Doch überall dort, wo der Mensch nicht aus dem Ich handelt, sind seine Taten unfrei und damit fremdbestimmt. Die Ursachen unfreier Taten sind in der Welt zu suchen, an der wir alle Anteil haben.

Der US-amerikanische Neurologe Jonathan Pincus erforscht seit vielen Jahren das Thema Gewalt.[1] Er zitiert eine Studie über eine Kindergartengruppe: Die Hälfte der Kinder hatte schlimmen Mißbrauch erlebt, die Hälfte nicht. Wenn irgendein Kind weinte, waren die letzteren betroffen und versuchten, es zu trösten. Die mißhandelten Kinder zeigten Angst und Unwohlsein, teilweise schlugen sie das weinende Kind sogar. Von 150 untersuchten Mördern hatten 94 als Kind eine Zeit schwerer körperlicher Gewalt und sexuellen Mißbrauchs erlebt, von 14 zum Tode Verurteilten traf dies auf 13 zu. Pincus fand bei der Mehrzahl der Mörder außerdem Anzeichen neurologischer Veränderungen der Stirnlappen (die z.B. mit der Veränderung oder Verhinderung instinktiven Verhaltens zu tun haben) und vermutet eine kombinierte Wirk­samkeit beider Faktoren. – Nicht im Sinne eines Determinismus, aber objektiv sprechen die Tatsachen eine deutliche Sprache: Gewalt nährt Gewalt und ist zunächst etwas, das von außen über Kinder hereinbricht. Die Häufigkeit von Kindesmißhandlungen verdoppelte sich in den USA zwischen 1986 und 1993, wobei körperliche Mißhandlungen in Familien mit einem Jahreseinkommen unter 15.000 Dollar doppelt so häufig sind wie innerhalb der nächsthöheren Einkommensgruppe.

Gefallene Helden

Man vergegenwärtige sich einmal allein das Feld der zahllosen Straftaten, die vor der Mordschwelle bleiben. In der Zeitschrift Info3 vom September erschien ein Interview mit dem Gefängnispädagogen Norbert Rick. Er schildert, wie im Grunde durchweg die von ihm betreuten Menschen während der Tat kein Bewußtsein über ihr Tun hatten. Bei sehr vielen fand er eine große Aggression, der zumeist eine schwere Enttäuschung vorausging. Viele fühlen sich permanent angegriffen und können schon auf einen unschuldigen Blick in der U-Bahn mit Gewalt reagieren (verbreitet sind Lese- und Rechenschwächen mit entsprechenden Erfahrungen in der Schulzeit). Niemand spricht mit den Gefangenen, sie haben keine Aussicht, ihre Tat auszugleichen. In derselben Info3 schreibt Sebastian Gronbach nach einem Besuch im Gefängnis:

„Manche sehen gefährlich aus, gewalttätig und brutal, manche wie Milchbubis und andere einfach nur kalt und fertig mit der Welt. Aber alle haben ein gemeinsames äußerliches Merkmal...: Echte hungrige Gesichter, glasklare Individuen. ... Bevor ich den Knast wieder verlasse, schaue ich noch einmal in die Runde der harten, traurigen und verstörten Gesichter und in meinem Inneren erwächst ein Bild, in dem ich Männer sehe, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind. ... Aber ihre überbordende „Männlichkeit“ paßt nicht in unser androgynes Zeitalter, mit soviel Kampfeslust kann man Drachen töten, aber kein Computerspezialist werden. Ihre Ideale...heißen Stolz, Ehre und Härte gegen sich und andere.“

Ein wirkliches Verständnis für einen dieser Menschen setzt die Erkenntnis voraus, daß der vermeintliche Täter zugleich ein Opfer durchaus tragisch zu nennender Schicksalsumstände geworden ist. Gronbach fand bei keinem einzigen den Willen zur bösen Tat, das direkte Motiv der Schädigung eines anderen Menschen. Der Täter als selbst gefallenes Opfer – für seinen „Fall“ ist er immer auch verantwortlich, doch für all jene Umstände, die dieses Fallen ermöglicht haben, tragen viele andere Menschen Mit-Schuld. Man wird nicht nur durch „böse Taten“ schuldig, das Wort „Schuld(en)“ hat genauso sehr oder noch mehr mit Versäumnis zu tun: Vater vergib uns, was wir alles nicht getan haben. Für gar vieles kann man anonyme Strukturen und Vorschriften verantwortlich machen. Aber all dies haben Menschen geschaffen, und die Menschen haben die Aufgabe, immer wieder das Menschliche in ihre sozialen Einrichtungen einfließen zu lassen.

Es fällt schwer, sich verantwortlich für etwas zu fühlen, was „man gar nicht verbrochen hat“. Nun, solange man nicht einsieht und vor allem auch nicht will, daß die Dinge zusammenhängen, wird man die eigene Schuld immer von sich weisen. Einsicht und Verantwortungsgefühl sowie die willenshafte Bejahung der Mitschuld sind heute in die Freiheit des Einzelnen gegeben.

Die Mission des Bösen

Das Verständnis für den anderen Menschen kann noch größer werden, wenn man sich mit dem beschäftigt, wie Rudolf Steiner am 26.10.1918 über das Böse gesprochen hat.[2] Er schildert zunächst, wie die Todeskräfte vom Menschen aufgenommen werden mußten, um ihn mit der Fähigkeit der Bewußtseinsseele zu begaben. Der Tod als solches und das, was äußerlich mit jenen Kräften zusammenhängt, charakterisiert er vor diesem Hintergrund als eine Nebenwirkung und bringt das Bild einer Eisenbahn, die die Schienen um so stärker abnutzt, je unpassender diese selbst sind: Es ist keinesfalls der Sinn des Zuges, die Schienen zu zerstören, sondern die Menschen voranzubringen.

Das Böse im Menschen ist nun in den Neigungen zum Bösen zu suchen, während deren äußere Folgen wiederum nicht das Eigentliche sind. Und dann sagt Steiner:

Bei allen Men­schen liegen im Unterbewußtsein seit dem Beginne der fünften nachatlantischen Periode die bösen Neigungen... Es gibt kein Verbrechen in der Welt, zu dem nicht jeder Mensch in seinem Unterbewußtsein, insofern er ein Angehöriger der fünften nachatlantischen Periode ist, die Neigung hat. ... ob in dem einen oder in dem anderen Fall die Neigung zum Bösen äußerlich zu einer bösen Handlung führt, das hängt von ganz anderen Verhältnissen ab als von dieser Nei­gung. - Was aber haben die Kräfte des Bösen im Menschen für eine Aufgabe? „Indem er sie aufnimmt, pflanzt er in sich den Keim, das spirituelle Leben überhaupt mit der Bewußtseinsseele zu erleben. ... Würde der Mensch nicht aufnehmen jene Neigungen zum Bösen..., so würde der Mensch nicht dazu kommen, aus seiner Bewußtseinsseele heraus den Impuls zu haben, den Geist, der von jetzt ab befruchten muß alles übrige Kulturelle, wenn es nicht tot sein will, den Geist aus dem Weltenall entgegenzunehmen. ...

Die naturwissenschaftliche Denkweise kann nur das Tote fassen – und das für die Menschheitsentwicklung Unfruchtbare oder sogar Zerstörerische hervorbringen. Darin aber liegt gerade ihr Sinn, daß sie den Menschen in den Tod hineinstellt, weil er sich nur so ganz auf sich selbst stellen kann. Wenn er dann erkennt, daß er in all seinem Tun wiederum nur das Tote in die Welt bringt, ist dies ein erster Impuls, sich aus Freiheit wieder mit der geistigen Welt verbinden zu wollen. Zunächst aber dienen die Todeskräfte dazu, dem Menschen die Entwicklung der Bewußtseinsseele zu ermöglichen. Den wesentlichen Impuls bilden dann die Kräfte des Bösen. Während sich aus der Durchdringung mit dem Tod die Auferstehung des Denkens ereignen kann, führt die Durchdringung mit dem Bösen den Menschen zur Liebe. Und zur Begegnung mit dem ätherischen Christus: „Durch das Erleben des Bösen wird zustandegebracht, daß der Christus wieder erscheinen kann, wie er durch den Tod im vierten nachatlantischen Zeitraum erschienen ist.[3]

„Ich aber sage euch...“

Die Auseinandersetzung mit dem Bösen gerade auch in sich selbst kann den Menschen in seinem Willen befeuern, die geistigen Impulse für ein neues Zusammenleben zu ergreifen.

Und so muß gerade im sozialen Leben aus dem Spirituellen heraus eine viel tiefer greifende, eine viel intensivere Idee den Menschen eigen werden [als die durchaus lichtvollen Ideen von 1848, H.N.]. ... Dasjenige, was der Menschheit einzig und allein Heil bringen kann..., also dem sozialen Zusammenleben -, muß sein ein ehrliches Interesse des einen Menschen an dem anderen. ... Es ist im höchsten Grade antisozial...für die zukünftige Menschheitsentwickelung..., in unmittelbarer Sympathie und Antipathie an den anderen Menschen heranzugehen.[4]

Steiner erwähnt in diesem Zusammenhang die (Übung der) Positivität, von der die meisten Menschen noch nicht einmal einen Begriff hätten. Man denke und empfinde auch die Worte Christi: „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet“, oder: „Wer von euch ohne Schuld ist...“. Es ist aber doch noch ein Weiteres, von da aus zu einem wirklichen Interesse am anderen Menschen zu kommen. Und nur von ferne schimmert das Ziel der Liebe, eingeschlossen die der Feinde...

Das Böse kann nur mit Liebe... ja, erlöst werden. Wem es geschenkt ist, den Weg zur Liebe zu finden, der kann zunächst beginnen, das Böse in sich zu erlösen. Die meisten Menschen aber bedürfen einer von ihren Menschenbrüdern ausgehenden Liebe, um das Böse in sich zu erlösen. Und wie an den Folgen des Bösen alle Mit-Schuld tragen, so müssen die Menschen auch zusammenwirken, um sich einander und das Böse als solches immer wieder zu erlösen und das Gute in die Einrichtungen einfließen zu lassen, die sie früher einmal gemeinsam geschaffen haben und immer wieder neu zu schaffen haben.

Nicht ein äußerlich verstandenes „Erlöse uns von dem Bösen“, sondern die Erlösung des Bösen ist eigentliches Christentum. Dieses hat der Manichäismus erkannt. In einem eigenen Vortrag über den Manichäismus[5] erwähnt Steiner, daß diese Strömung über das Rosenkreuzertum hinausgreifend die Mission hat, solche sozialen Formen zu schaffen, in denen dann das Christentum in seiner vollen Gestalt zum Ausdruck kommen kann. Damit das letztere in der sechsten Kulturepoche möglich ist, müssen in der heutigen Zeit diese Formen vorbereitet werden. An anderer Stelle spricht Steiner von Organisationen, „die durchtränkt sind von Brüderlichkeit“[6]. - Das Böse ist in der Welt mit einer kaum erkannten Mission. Immer wenn Menschen seinen Folgen ihrerseits mit unguten Taten begegnen, hat das Böse zugleich „gesiegt“ und seine wahre Aufgabe verfehlt. Gerade in seinem Anwachsen soll und wird es in Menschen den Impuls zum Guten erwecken.

Fußnoten


[1] Dr. med. Jonathan H. Pincus: Base Instincts: What makes killers kill?, New York 2001
[2] in GA 185 „Geschichtliche Symptomatologie“
[3] Vortrag vom 25.10.1918 ebd.
[4] ebd.
[5] Vortrag vom 11.11.1904 in GA 93 „Die Tempellegende und die Goldene Legende“
[6] Vortrag vom 3.11.1918 in GA 185