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16.07.2002

Der Kampf zwischen der irdischen Macht und der Idee der Gerechtigkeit

>> Langfassung zu Vorgeschichte und Fakten bezüglich des Internationalen Strafgerichtshofes.


Mitte Juli hat die Idee der Gerechtigkeit einen weiteren Schlag erlitten, der noch ungeahnte Folgen haben dürfte. Nachdem am 1.7. das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC) in Kraft getreten war, haben die USA ihre „Verbündeten“ mit einem Veto gegen die gerade anstehende Verlängerung der UN-Bosnien-Mission erpreßt, um für US-Bürger in bezug auf den ICC Immunität zu erreichen. Am 13.7. hat nun der UN-Sicher­heitsrat auf Druck der USA mit einer Resolution beantragt, daß der ICC im Zusammenhang mit von der UNO genehmigten Einsätzen zwölf Monate lang keine Untersuchung oder Strafverfolgung gegen Personen einleitet, die nicht ICC-Vertrags­staa­ten angehören. Zugleich bekundete der Rat die Absicht, diesen Antrag jährlich jeweils am 1. Juli zu erneuern, „solange dies erforderlich ist“. 

Nach den Greueln des Zweiten Weltkriegs wurde die schon vorher gedachte Idee eines Völkerbundes in einem ersten Ansatz verwirklicht, indem die Staaten der Erde die Charta der Vereinten Nationen beschlossen. In Artikel 1 ist das Ziel genannt, "eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen". Die UN-Charta verbietet jede Art von Aggression eines Staates gegen einen anderen. Wir wissen, daß sich gerade die Großmächte während der 45 Jahre des Kalten Krieges nie an Wort und Geist dieses Verbots gehalten haben, auch wenn sie für viele Stellvertreterkriege nur inoffiziell verantwortlich waren. Nach 1990 aber glaubte man, daß eine Zeit des Friedens anbrechen könnte. Und doch wurde schon im gleichen Jahr der Keim für eine gegensätzliche Entwicklung gelegt. Nach der Invasion des Irak in Kuwait verkündete George Bush am 11. September (!) 1990: „Aus diesen schwierigen Zeiten kann unser fünftes Ziel - eine neue Weltordnung - hervorgehen: Eine neue Ära, freier von der Bedrohung durch Terror, stärker in der Durchsetzung von Gerechtigkeit und sicherer in der Suche nach Frieden. Eine Ära, in der die Nationen der Welt im Osten und Westen, Norden und Süden prosperieren und in Harmonie leben können. ... Eine Welt, in der die Herrschaft des Gesetzes das Faustrecht ersetzt. ... eine Welt, in der der Starke die Rechte des Schwachen respektiert."

Was aber geschah? Nachdem der Irak alle Resolutionen des UN-Sicherheitsrates akzeptiert und umgesetzt hatte, beschloss der Sicherheitsrat die Resolution 688, die nicht nur die internationale Kontrolle der irakischen Rüstung festlegte, sondern auch das Öl-für-Nahrung-Programm begründete und das völkerrechtlich neue Prinzip der "humanitären Intervention" verankerte. Daß das Irak-Embargo monatlich Tausende Kinder das Leben kostet und die USA inzwischen direkt den gewaltsamen Sturz von Saddam Hussein planen, ist bekannt. Die „humanitäre Intervention“ wiederum war schon fünf Jahre später so „rechtmäßig“, daß die NATO 1998 für den Angriff auf Jugoslawien im „Kosovo-Krieg“ nicht einmal mehr eine Erlaubnis durch den UN-Sicherheitsrat brauchte. Vorausgegangen waren die „Verhandlungen von Rambouillet“, in denen in einem geheimen Vertrags-Anhang an Jugoslawien die unannehmbare Forderung gestellt worden war, der NATO im ganzen Land Freizügigkeit zu gewähren. Daß die „humanitären“ Argumente zumindest sehr dünn waren, legt sowohl der Skandal des vom deutschen Verteidigungsminsiter Scharping präsentierten fiktiven „Hufeisenplan“ nahe, als auch die Tatsache, daß die „ethnischen Säuberungen“ erst mit dem NATO-Angriff in katastrophalem Ausmaß einsetzten.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September nahmen sich die USA schließlich im Alleingang ganz offen das Recht heraus, gegen „den Terrorismus“ zu agieren. Der UN-Sicherheitsrat hat dies in seiner Resolution 1368 gutgeheißen, indem er auf das Recht zur Selbstverteidigung verwies. Dies ist nach Artikel 51 der UN-Charta tatsächlich gegeben, doch nur „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat." In der Resolution bekundete der Rat tatsächlich „seine Bereitschaft, alle erforderlichen Schritte zu unternehmen, um auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 zu antworten, und alle Formen des Terrorismus zu bekämpfen" - getan hat er bis heute nichts. Ganz abgesehen davon, daß der Angriff auf Afghanistan mit der UN-Charta nicht vereinbar ist.

Die Arroganz der Macht und ihr zweifaches Maß hat der Muslim Bahman Nirumand am 29. September 2001 in Frankfurt auf den Punkt gebracht: „Es war die zivilisierte Welt, die in nahezu sämtlichen Entwicklungsländern Diktaturen errichtet und sie mit Waffen versorgt hat. ... Es ist doch bekannt, dass Saddam Hussein, die Taliban und ähnliche Verbrecher Zöglinge des Westens waren. Selbst der Terrorist Bin Laden war ein Schützling der CIA. Waren es Muslime, die die Natur zerstört, die Umwelt verseucht haben? ... Wenn man bedenkt, dass in Afrika Tag für Tag mehr Menschen an Aids sterben als bei dem Anschlag in New York und Washington, wenn man sich vor Augen führt, wie viele Kinder und Erwachsene Armut, Hunger und Seuchenkrankheiten zum Opfer fallen, wenn man weiß, dass unzählige Menschen in den Entwicklungsländern ihre gesunden Organe gegen ein Handgeld an reiche Europäer und Amerikaner verkaufen, um ihr Dasein fristen zu können, dann sollte erlaubt sein, die Begriffe Zivilisation und Barbarei noch einmal anhand der Tatsachen unter die Lupe zu nehmen.“

Mit dem Angriff auf den Irak werden die USA die Charta der Vereinten Nationen vollends für alle sichtbar zur Makulatur werden lassen.

In den 90er Jahren begann aber nicht nur der geschilderte Prozeß, sondern es wurde auch die Idee eines Internationalen Strafgerichtshofes wieder aufgegriffen, wie es ihn erstmals nach 1945 in Nürnberg gegeben hatte. Nachdem eine Vorbereitungskommission 1994 einen ersten Entwurf vorgelegt hatte, wurden in einer zweiten Phase rund 1400 Einzelvorschläge zusammengeordnet, die dann im Sommer 1998 die Grundlage für eine Konferenz in Rom bildeten. Während der fünfwöchigen zähen Verhandlungen konnte ein Scheitern bis zuletzt nicht ausgeschlossen werden. Noch zu Beginn waren z.B. vier von fünf ständigen Mitgliedern des Weltsicherheitsrates (USA, Frankreich, Rußland und China) gegen ein von betroffenen Staaten oder Sicherheitsrat unabhängiges Gericht. Am 17. Juli fand dann die Abstimmung über die erreichte Form des Statutes statt, die auf Antrag der USA geheim erfolgte. Mit 120 Ja-Stimmen, 21 Enthaltungen und nur sieben Nein-Stimmen (neben den USA noch China, Israel, Irak, Libyen, Jemen und Katar) hatten die USA eine grandiose Niederlage erlitten.

Wenige Tage nach der Konferenz von Rom kündigte das US-Außenministerium seinen "aktiven Widerstand" gegen den ICC an, sollte dessen Statut in seiner jetzigen Form erhalten bleiben. Am 31.12.2000 unterzeichneten sie (wie Israel) in letzter Minute das Statut aus rationalem Kalkül, um sich das Recht weiterer Mitwirkung zu sichern. Am 6. Mai dieses Jahres zog die Regierung Bush in einem diplomatisch einmaligen Schritt ihre Unterschrift förmlich zurück. Einen Monat später billigte der US-Senat den "American Servicemembers' Protection Act", der den US-Prä­si­denten befugt, alle notwendigen und geeigneten Mittel zu gebrauchen, um die Befreiung jedes US-Bürgers zu erreichen, der vom Strafgerichtshof festgehalten wird. Wörtlich ist gesagt, daß die USA die Aufgaben des ICC auf ihre Art wahrnehmen: "Nichts in diesem Gesetz soll es den USA verbieten, internationale Bemühungen zu unterstützen, Saddam Hussein, Slobodan Milosevic, Usama bin Ladin, andere Mitglieder von al-Qaida, Führer des Islamischen Dschihad und andere Staatsangehörige anderer Länder, die des Völkermords, der Kriegsverbrechen oder der Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt werden, der Gerechtigkeit zuzuführen."

Genau diese drei Straftatbestände soll der Internationale Gerichtshof verfolgen - wenn die Justizorgane der betroffener Länder selbst dazu nicht fähig oder willig sind. Schon dieses Komplementaritätsprinzip macht eigentlich die völlige Ablehnung der USA gänzlich unverständlich - es sei denn, sie sind tatsächlich nicht gewillt, entsprechende Verbrechen von US-Bürgern wenigstens vor eigenen Gerichten zu verurteilen (ihr Bündnispartner Israel hat immerhin gerade einer UN-Untersuchungskommission die Einreise verweigert, die ein vermutliches Massaker im Flüchtlingslager Dschenin untersuchen sollte!).

Zusätzlich hatten die USA noch während der Verhandlungen durchgesetzt, daß der UN-Sicherheitsrat Strafverfolgungsmaßnahmen auch bei bereits anhängigem Verfahren zweimal für 12 Monate aussetzen darf. Der ehemalige Chefankläger der Jugoslawien- und Ruanda-Tribunale, der südafrikanische Richter Richard Goldstone, warnte schon 1996: "Kein Gericht wird vernünftig arbeiten können, ohne völlig unabhängig zu sein. Aber die politischen Entscheidungsträger wollen einfach nicht verstehen, dass es in dieser Frage keinen Unterschied zwischen nationalem und internationalem Strafrecht gibt. Einem Gericht, das politisch nicht unabhängig ist, traut niemand Gerechtigkeit zu. Lieber überhaupt keinen internationalen Strafgerichtshof als einen, der vom UN-Sicher­heitsrat kontrolliert wird."

Die USA befürchten ihrerseits, daß der ICC z.B. von „Schurkenstaaten“ zu politischen Prozessen gegen US-Bürger mißbraucht wird. Das angedrohte Veto gegen die verlängerte Bosnien-Mission begründete der US-Botschafter bei der UNO: Man werde den an internationalen Peacekeeping-Einsätzen Beteiligten zusätzlich zu den Gefahren nicht noch das zusätzliche Risiko politischer Verfolgungen vor einem Gericht zumuten, dessen Rechtssprechung die US-Regierung (ohnehin) nicht anerkenne. - Tatsächlich aber hat das ICC keinerlei Befugnisse, die ein Mitgliedsstaat nicht auch hätte: Schon jetzt kann jeder Staat Ausländer für Straftaten auf eigenem Staatsgebiet jederzeit zur Verantwortung ziehen (und die USA tun dies bis hin zur Todesstrafe). Der ICC erhält diese Befugnisse nur ebenfalls von den ICC-Mitgliedern übergeben.

Die USA verlangen dagegen volle Immunität für ihre Truppen bzw. - wie sie jetzt durchgesetzt haben - für alle Personen, deren Staaten nicht ICC-Vertragsstaaten sind. Was das bedeutet, kann man sich ausmalen, wenn man z.B. weiß, daß es im Rahmen der UN-Mission in Bosnien mehrere Fälle von Sexsklaverei gibt (Quelle: Online-Ausgabe des deutschen Magazins Der Spiegel. Ein Mechaniker, der den Vorgesetzten Meldung gemacht hatte, wurde wenig später entlassen). Dabei erfüllen diese Fälle nicht einmal die Straftatbestände des ICC. Wie schwierig die Frage ist, zeigt die Tatsache, daß das ICC prinzipiell schon zuständig wäre, weil offenbar für solche Verbrechen im zivilen Bereich die UN-Mission keinerlei Befugnisse hat und auch z.B. US-Gerichte gar nicht zuständig sind - sondern ausschließlich die örtlichen Organe (die aber eben oft machtlos oder korrupt sind).

Die internationale Presse verurteilte fast einhellig die jüngste Resolution des UN-Sicherheitsrates als Sieg der Macht über das Recht. Die kaum verhüllte Immunität für US-Truppen beschädige das Ansehen von UN-Friedensmissionen und das Vertrauen in den ICC, bevor er überhaupt die Chance hatte, solches durch Rechtssprechung zu erwerben. Aus der Geschichte wissen wir, daß die Vereinten Nationen ihrem Ideal bisher noch nie besonders nahe waren - unter anderem weil von Anfang an die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges (und China) im UN-Sicherheitsrat eine Sonderrolle hatten und diese auch in unterschiedlichem Maße durch ein Veto gegen unliebsame Entscheidungen einsetzten. Rudolf Steiner warnte unter anderem vor den abstrakten Ideen von Wilson und hätte sicherlich auch die realen Machtverhältnisse zwischen USA und UNO vorausgesagt. Bleibt dann aber nur noch, sich dem Kommentar der deutschen Frankfurter Allgemeine Zeitung anzuschließen? Sie schreibt: „Aber selbst diejenigen, die sich erpreßt fühlen, müssen die Frage beantworten, was gewonnen wäre, wäre es bei der scharfen Konfrontation mit Amerika geblieben. Ein strahlender Sieg des Rechts über die Macht? Die Weltpolitik gehorcht nicht einem solchen egalitären Idealismus; das ist ja gerade ein Grund des amerikanischen Einspruchs. Die naheliegende Konsequenz wäre vermutlich gewesen, daß die Vereinigten Staaten um Friedensmissionen fortan einen Bogen gemacht hätten. Damit wäre der Graben zum Beispiel zu den Verbündeten noch tiefer geworden: die einen vermutlich nur noch fürs Grobe, die anderen für die Zeit danach - wenn überhaupt. Viele würden Amerika nur allzugern an die Kandare nehmen und sein militärisch gestütztes Engagement unter "Aggressionsverdacht" stellen. In einer solchen Welt wären nur die Schurken sicher.“

Das ist Pragmatismus pur, der tatsächlich nur noch an den Sieg der Stärke glaubt und von der Stärke der Ideen nichts weiß. Gerade nach den Reaktionen der USA auf den 11. September können doch erst recht alle Diktaturen noch hemmungsloser als zuvor ihre innenpolitischen Gegner verfolgen. Wenn schon die Vormacht der Zivilisation den Gefangenen in Guantanamo z.B. Rechte der Genfer Konventionen verweigert, weshalb sollten dann autoritäre Regime zimperlicher sein? Soll die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte künftig als reines Alibi erkennbar sein, wenn die USA eine aus politischen, ökonomischen oder strategischen Gründen opportun erscheinende "humanitäre Intervention" planen?

Rechtsstaatliche Demokratien dürfen niemals in ihren Mitteln auf das Niveau der von ihnen angeklagten „Barbarei“ herabsteigen - auch nicht im Kampf gegen diese. Dies bestätigt nur die Diagnose eines bin Laden über die moralische Verkommenheit des Westens und produziert jene Terroristen, gegen die zu kämpfen der Westen behauptet. Das Faustrecht sichert die Reproduktion des Terrorismus - Sicherheit kann nur langsam wachsen, wenn oder falls die Idee des Rechts (das immer zuerst das des anderen ist) einmal in mehr und mehr Menschen Wohnung finden wird. Die Idee der Vereinten Nationen könnte einmal kraftvolle Wirklichkeit werden. Der Weg dorthin führt aber über eine den Frieden wollende (und nicht nur wünschende) Menschheit und über das Prinzip der Machtlosigkeit, wonach kein Staat irgendwelche Vorrechte hat. Der Idee der Vereinten Nationen - auch wenn man das Konzept der Nationen sehr kritisieren bzw. als zeitgebunden betrachten kann - liegt in letzter Hinsicht die Liebe selbst zugrunde. Diese aber ist mit jeglicher irdischen Macht, die beansprucht und nicht gegeben wird, nicht vereinbar.