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05.06.2002

Zur Frage der Ungerechtigkeit im Wirtschaftsleben

Leserbrief zu einer Streitfrage zwischen Wilhelm Neurohr und Benediktus Hardorp. Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 19.6.2002 (Nr. 26).


Herr Neurohr hat völlig recht damit, den Blick auf die Ungerechtigkeit zu richten, die sich in jenen Tatsachen manifestiert, die er wiedergibt. Herr Hardorp hat recht, wenn er schreibt, man müsse den Blick auf die Ursachen richten. Dies wird aber so lange nicht geschehen, wie die Folgen einen nicht wirklich berühren, und genau das scheint mir der Ansatz von Wilhelm Neurohr zu sein. Dazu kommt, daß Erkenntnisse in sich richtig sein können, aber deswegen noch lange nicht wahr sind, wie Steiner sagt. Es ist z.B. immer falsch, wenn Menschen auf der Welt verhungern müssen, und dabei spielt es keine Rolle, ob sie „selbst schuld“ daran sind. In der Wirtschaft ist das Ziel eben nicht irgendeine abstrakte Gerechtigkeit, sondern Brüderlichkeit. Dennoch ist Gerechtigkeit für das soziale Denken ein Ziel, solange nicht einmal sie gegeben ist. 

Herr Hardorp sagt richtig, daß es eigentlich nicht sachgemäß ist, Arbeit zu besteuern, sondern daß die Abgaben an den Konsum gebunden sein müßten. Nicht wer viel leistet soll viel zahlen, sondern wer viel verbraucht. Alle Ausführungen Steiners diesbezüglich sind absolut lebenspraktisch. Isoliert man dieses Element aber aus der Idee der Dreigliederung, wird es ein Abstraktum – immer noch richtig, aber unwahr. Die an den Konsum gebundene Abgabe ist nur dann gerecht und sozial, wenn gewährleistet ist, daß jeder entsprechend seinen Leistungen (sofern er tätig ist und sein kann) und seinen Bedürfnissen konsumieren kann. Und schon sind wir mitten in der sozialen Frage, mitten im Verhältnis zwischen Unternehmer und Arbeiter. Wie kann jemand ernsthaft die Besteuerung der Gewinne und Löhne abschaffen wollen, bevor überhaupt das Verhältnis der Menschen in der Arbeitswelt im Rechtsleben angekommen ist? Wer will ernsthaft das gesamte Sozialsystem über den Konsum finanzieren, solange der Langzeitarbeitslose einen 500-Euro-Job annehmen muß, während die Vorstände aller Couleur mit Millionen-Beträgen nach Hause gehen?

Eine kurze Bemerkung noch zu Hardorps Argument, die in den letzten Jahren an der Steuer vorbeigeführten 800 Mrd DM hätten sowohl dem eigenen Egoismus als auch dem Erhalt von Unternehmen und Arbeitsplätzen dienen können: Ich behaupte, daß ein Unternehmen um so mehr legal und illegal Steuern hinterzieht, je mehr es Arbeitsplatzverluste nicht zu befürchten hat, sondern selbst betreibt. Das ist seit jeher die Tendenz und hat seine Ursache (!) darin, daß es den betreffenden Unternehmen bzw. ihren menschlichen Vorständen in keinster Weise um Arbeitsplätze geht, sondern um Profit. Dies ist das Prinzip der Marktwirtschaft und in Verbindung mit den realen Machtmitteln die Ursache der weltweiten Ungerechtigkeit.

Eine Grundwirksamkeit der Dreigliederung wäre es, die Machtverhältnisse aufzulösen und Arbeit zu einer reinen Rechtsfrage zu machen. Dann kann man die „Lohnnebenkosten“ abschaffen. Schlägt man dies heute vor, ohne die eigentliche soziale Frage überhaupt zu erwähnen, arbeitet man doch nur der Ungerechtigkeit und dem Egois­mus in die Hände! Bevor man Einzelmaßnahmen umsetzen kann, die vor dem Hintergrund der Dreigliederung absolut einleuchtend sind, müßte diese selbst erst in ihren Kerngedanken verwirklicht werden.