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09.12.2002

Im Spannungsfeld des Bösen

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 17.1.2003 (Nr. 3).

Das Böse ist das wichtigste Geheimnis unserer Zeit, und es hängt die gesamte Zukunft der Menschheit davon ab, wie die Menschen sich zu dem Bösen stellen werden können. Erhard Fucke beleuchtet in einem vor einigen Monaten erschienenen Werk Im Spannungsfeld des Bösen die Thematik von verschiedensten Aspekten aus. Dabei läßt er nach einer ausführlichen Einführung in das Thema immer wieder Rudolf Steiner selbst sprechen, dessen Zitate etwa die Hälfte des rund 400-seitigen Hauptteils ausmachen.

Das Böse hier und jetzt

Der Autor beginnt mit dem Schrecken von Auschwitz und dem Phänomen, daß ernsthafte Forscher zu dem Urteil kamen, Auschwitz sei unerklärbar. Der Mensch mit seinem immer umfangreicher werdenden, erfolgreichen Wissen kapituliert vor der Frage des Bösen. Fucke führt Zitate von Forschern an, die im Bereich von Atom- und Biowaffen tätig waren und vor der Frage standen, wie das Schicksal sie an ihren Ort verschlagen konnte und wie sie sich teilweise persönlich so sehr verändern konnten, daß sie sich selbst hassen müssen. – Dann führt Fucke auf ein Feld, das uns alle betrifft: Die Globalisierung mit ihrem gnadenlosen Kon­kurrenzkampf. Daß dieser Kampf mittelfristig 80% aller Menschen arbeitslos machen wird, die dann bescheiden alimentiert und amüsiert werden, ist seit einem Treffen hochkarätiger Unternehmer und Experten im September 1995 bekannt. Fucke verweist darauf, daß auch Hitler seine Ziele lange vorher offengelegt hatte, aber kaum jemand dies für möglich hielt oder halten wollte. „Das menschliche Vorstellungsvermögen versagte, diese Ziele nüchtern zu imaginieren und den daraus folgenden Konsequenzen erlebend gegenüberzutreten.“ Dazu kommt der Verlust eines spirituellen Menschenbildes. – Das Innerste des Menschen, sein Ich, kann von Ideologien aller Art verdrängt werden, in deren Namen alles nicht nur erlaubt, sondern sogar notwendig ist: Rasse, Klasse, Religion, Darwinismus oder Freiheit des Marktes. Noch verschleiern teilweise letzte tradierte Werte den Ernst der Lage. Der Mensch gerät unter die Knechtschaft einer Idee, oft begünstigt durch subtile Begierden nach Erfolg, Anerkennung, Zugehörigkeit.

Anhand der extremen Ideologien entwickelt Fucke den ersten Begriff des Bösen als etwas, das zur falschen Zeit wirkt und geschieht - indem heute etwa der Individualismus unterdrückt wird oder aber künftige Entwicklungen verfrüht erzwungen werden. Fucke verweist darauf, daß nicht nur der Sozialismus, sondern auch die Globalisierung vom Ideal her der Brüderlichkeit entsprechen, die sich aber nur aus freien, individuellen Kräften bilden kann.

Fucke beschreibt dann die Entwicklung des menschlichen Bewußtseins hin zu einem abstrakten Verstand, der weder in der Natur noch in seinen eigenen Gedankengebilden irgend etwas wesenhaft Geistiges erleben kann und die grandiosen Ideen noch eines Herder, Goethe, Lessing oder Novalis als romantische Spekulationen abtut und den auf die Erfahrung des Ich hinweisenden Fichte nicht einmal verstehen kann. Der Materialismus aber führt in die Brutalität, weil instinkthafte Neigungen zumeist durch keine Reste von Religion oder Humanität mehr gehemmt werden. Das erste Zitat Steiners enthält den Satz: „Der gemeinsame Grundzug alles Bösen ist doch nichts anderes als Egoismus“.

Was hat das alles für einen Sinn? Fucke gibt Einblicke in Hans Jonas´ Ringen mit Auschwitz, das diesen zur Erkenntnis führt, daß die Möglichkeit des Bösen die notwendige Voraussetzung für die menschliche Freiheit ist. Der Mensch selbst muß sich die Freiheit in jedem Moment erarbeiten. Die Möglichkeit dazu hat er gerade dadurch, daß das Geistige der Welt und seiner selbst für sein Bewußtsein zunächst ganz zurückgetreten ist.

Vom Wirken der Widersacher

Einen wesentlichen Schwerpunkt des Buches bilden nun Darstellungen darüber, wie es durch das Wirken der „Widersachermächte“ menschenkundlich zum gegenwärtigen Bewußtsein kommen konnte. Die Polarität der luziferischen und ahrimanischen Mächte und auch die Bereiche ihres rechtmäßigen Wirkens werden geschildert. Dann folgt das im Rahmen des Themas entscheidend wichtige Zitat Steiners, wonach es kein Verbrechen gibt, zu dem nicht jeder Mensch des Bewußtseinsseelenzeitalters die Neigung hätte. (GA185, 26.10.18). Der Mensch ist dazu berufen, sich des rechtmäßigen Wirkens der Widersacher zu bedienen und überall jenes freie Gleichgewicht zu finden, das ihn menschlich macht.

Fucke schildert nun, wie eine entscheidende Grundlage für diese Freiheit durch die auf dem alten Mond zurückgebliebenen luziferischen Wesen geschaffen wurde, als sie den Astralleib selbständig machten, allerdings auch das Ich mit diesem verstrickten. Das Ich wäre ganz „versunken“, hätte Luzifer ihm nicht zusätzliche Kraft verliehen, die dann auch die Grundlage für alles „eigene Urteilen“ wurde. Ahrimans Todeskräfte führten schließlich zu dem heutigen Intellekt.

Den Ausgleich für diese von der göttlichen Welt absichtlich zugelassenen Ereignisse bildet die Tat des Christus, der den Tod selbst kennenlernte - und überwand. Seitdem kann der Mensch sich mit dem Impuls des Christus verbinden. Er findet dann auch jene neue Evolutionskraft, die aufs engste mit dem Ich und der Freiheit verbunden ist: Die Liebe. – Und auch hier wieder ist das Böse notwendig: Es liefert durch die Siege des Menschen über sich selbst die Möglichkeit für die Entfaltung der Liebe. (GA143, 17.12.12).

In einem der längsten Zitate gibt Fucke dann Steiners Schilderung wieder, wie die Hierarchien den völligen Verfall des Menschen an die sinnliche Welt zunächst verhinderten, indem sie ins Gefolge sinnlicher Begierden Krankheit und Leiden setzten und für alle aus Geistblindheit begangenen Irrtümer im Karma die Möglichkeit des Ausgleiches schufen. Im Gegensatz zu Luzifer und Ahriman wird jedoch eine dritte Art von Mächten versuchen, direkt in die sich entwickelnde Bewußt­seinsseele einzugreifen. Sie wollen den Menschen in einen absoluten Materialismus führen und werden aus dem Ich selbst unwiederbringlich Stück für Stück herausreißen in dem Maße, wie dieses sich mit der Sinnlichkeit der Erde vereinigt. Will Ahriman die Erde verewigen, verneinen die Asuras die Weltentwicklung insgesamt.

Fucke gibt mehrere detaillierte Schilderungen, wie die Widersacher das ganze Gefüge der Wesensglieder verändert haben, was zu jener leiblich-seelischen Konstitution führte, wie sie heute gegeben ist. Bei Gelegenheit dieser Schilderungen klingen schon verschiedene Hinweise zur Möglichkeit der eigenen Schulung an, die dann den letzten Teil des Buches bilden werden. Mehrfach wird angedeutet, wie tiefgreifend der Weg der Verwandlung sein muß, wenn zum Beispiel Steiner den Verstand mit `seinen´ Urteilen als unfähig bezeichnet, zur Wirklichkeit vorzudringen.

Wie ernst das Prinzip der Freiheit zu nehmen ist, deutet sich in jenen Schilderungen an, die das irdische und das nachtodliche Leben in Beziehung setzen. Der Mensch wird zunehmend auch insofern in die Freiheit entlassen, als alles, was er nach dem Tod in der geistigen Welt von den Hierarchien im Guten empfangen kann, davon abhängt, ob er sie überhaupt wahrnimmt. Die Fähigkeit dazu kann er wiederum nur auf der Erde erwerben. Kommt er gleichsam blind in die geistige Welt, gerät er auch hier in den Bereich der Widersachermächte, allerdings ohne die Möglichkeit, ihnen gegenüber frei zu werden.

Das Böse als Aufruf zur Schulung

Fucke legt großes Gewicht auf die vier Übungen, von denen Steiner in GA 267 sagt, daß alle anderen Übungen ohne diese wertlos oder sogar schädlich seien. Es geht um das Staunen, die Devotion, das Sich-im-Einklang-Fühlen mit den Weltgesetzen und die Ergebung. Sind diese Voraussetzung und zugleich Vertiefung jeder anderen Übung, so sind sie außerdem noch ein eigener Schulungsweg, besonders für die Wahrnehmung. Indem aber der Mensch seine Sinne wieder belebt und durchseelt, kann er wieder zum Geistigen der Welt durchstoßen. Fucke beschreibt, wie die Übungen die Seelenkräfte harmonisieren, läutern und bereitmachen für die Begegnung mit der geistigen Welt. Zu diesen Seelenkräften gehört auch das Denken. Der Mensch muß sich bewußt für die guten Mächte oder das Böse entscheiden, eine Neutralität gibt es hier nicht: „Das Wissen aber, das nicht in den göttlichen Dienst gestellt wird, das wird von Ahriman ergriffen, das geht in Ahrimans Dienst über und bildet Ahrimans Macht...“ (GA170, 7.8.16). Zudem sind die Seelenkräfte durch den Schwellenübertritt der Menschheit dabei, sich zu verselbständigen, wodurch die Menschen ohne Schulung immer mehr zu teilnahmslosen Zuschauern, grenzenlos von Menschen oder Ideologien abhängigen Schwärmern oder aber zügellosen Gewaltnaturen werden – all dies ist ja schon deutlich sichtbar.

Angesichts dessen kann das Böse, wenn es nicht einfach lähmt, der stärkste Aufruf für den Menschen sein, sein Wesen in ureigenster Aktivität und Freiheit zu ergreifen. In einem entscheidend wichtigen Vortrag, der auch das erste ausführliche Zitat im Buch von Fucke bildet, schildert Steiner den eigentlichen Zweck sowohl der Todeskräfte als auch der Kräfte des Bösen im engeren Sinne. Die Todeskräfte begaben den Menschen mit der Fähigkeit der Bewußtseinsseele, die Kräfte und Neigungen des Bösen sind es, mit deren Hilfe der Mensch in der sich entwickelnden Bewußtseinsseele den Impuls finden kann, das geistige Leben zu suchen und zu empfangen. Der Tod kann den Menschen zur Freiheit, das Böse kann ihn zur Liebe führen.

Fuckes Buch ist ein umfassendes Werk über die Frage des Bösen. Es verzichtet auf philosophische oder mythologische Einblicke in das Thema, es legt den Schwerpunkt auf den heutigen Zustand des Menschen, seine menschenkundlichen Grundlagen mit Bezug auf die Widersachermächte, vor allem aber auf das menschliche Bewußtsein als Hauptschauplatz des kosmischen Dramas. Fucke schildert die Symptome des Bösen in unserer Zeit, die Ansatzpunkte der Widersachermächte und zuletzt die Ansatzpunkte für den Menschen, um sich auf den Weg zu machen, jenes Wesen zu werden, das er – mit Hilfe der „bösen“ Mächte – werden kann: Ein freies Wesen, das das Böse in sich erlöst und die Liebe in die Welt bringt.