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22.11.2002

Der NATO-Gipfel und das Geheimnis der Schwäche

Mit der geplanten Eingreiftruppe versinkt der Westen weiter in der Logik der Gewalt

Die NATO hat sieben Mitglieder mehr. Doch der Gipfel in Prag brachte nicht nur die „Osterweiterung“, es konkretisierte sich auch die im September von US-Verteidi­gungsminister Rumsfeld vorgestellte Idee einer schnellen Eingreiftruppe für weltweite Interventionen.


Die auf intensive Kampfhandlungen spezialisierte „Nato Response Force“ (NRF) soll mit 21.000 Mann ab Ende 2006 weltweit einsetzbar sein – binnen weniger Tage. Die grundlegende Neuerung wird dabei immer wieder als „Transformation“ bezeichnet. Dies soll natürlich eventuellen Fragen nach der demokratischen Legitimation vorbeugen. Das atlantische Bündnis ist immerhin dabei, sich selbst umzudefinieren und die ganze Welt als Einsatzgebiet zu betrachten. 

Doch ist der Begriff „Transformation“ insofern richtig, als die grundsätzlichen Entscheidungen schon längst mit der 1999 zum NATO-Jubiläum in Washington beschlossenen neuen NATO-Strategie gefallen waren, eigentlich sogar schon 1991 in Rom. Denn bereits bei dieser ersten Änderung der Strategie nach dem Ende des Kalten Krieges wurden als künftige Risiken – die also fortan die Existenz der NATO begründeten – genannt: Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Terror- und Sabotageakte, aber auch die Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen. Das mögliche Einsatzgebiet war 1991 noch der „euroatlantische Raum“, in etwa verstanden als das Gebiet vom Mittleren Osten bis nach Zentralafrika, doch hieß es bereits damals: „Die Sicherheit des Bündnisses muß jedoch auch den globalen Kontext berücksichtigen“.

In Washington kamen 1999 weitere „Risiken“ hinzu, so das organisierte Ver­brechen und „die unkontrollierte Bewegung einer großen Zahl von Menschen, insbesondere als Folge bewaffneter Konflikte“. Flüchtlinge wurden damit zu einer potentiellen Bedrohung erklärt. Hatte es 1991 in der Schlußbe­merkung immerhin noch geheißen: „Dieses Strategische Konzept bekräftigt erneut den defensiven Charakter des Bündnisses“, war 1999 davon keine Rede mehr. Doch als „Verteidigungsbündnis“ hatte die NATO schon 1991 aufgehört zu existieren. Um die neue Strategie umzusetzen, wurden die NATO-Armeen aufgeteilt in „Hauptverteidigungskräfte“ und „Krisenreaktionskräfte“, die für künftige „out-of-area“-Einsätze ausgebildet wurden.

Die Vereinten Nationen als Gehilfe der NATO

Zwar hieß es sogar noch 1999, die NATO wolle „in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht“ handeln, doch zugleich wurde auf die Beschlüsse bezüglich der Balkaneinsätze hingewiesen, zu denen die NATO sich selbst ermächtigt hatte. Vor dem Hintergrund der UN-Charta kann man den Kosovokrieg völkerrechtlich nur als Angriffskrieg gegen den Staat Jugoslawien sehen. Die UN-Charta erlaubt eine Anwendung von Gewalt nur unter Kontrolle der UNO bzw. des UN-Sicherheitsrates und nur, wenn dieser förmlich eine Bedrohung oder einen Bruch des Friedens festgestellt hat. „Huma­nitäre Interventionen“ kommen in der UN-Charta nicht vor. Im Kosovo zeigte sich auch, daß die wirkliche humanitäre Katastrophe erst nach Beginn und infolge der NATO-Angriffe ausbrach.

Das Abschlußdokument des NATO-Gipfels 1999 versprach, „von Fall zu Fall künftige Zusammenarbeit ... (mit der UNO) ins Auge zu fassen“, betrachtete die NATO aber nicht länger als der UNO untergeordnet. Vielmehr stand die NATO nun im Zentrum: Die neue Strategie formulierte, daß die NATO den euro-atlantischen Raum gestaltet, während Organisationen wie die UNO, OSZE oder EU „ausgeprägte Beiträge“ leisten. Dabei trage die UNO zu Sicherheit und Stabilität bei, die OSZE konzentriere sich auf die Förderung von Demokratie und Menschenrechten, auf vorbeugende Diplomatie, Krisenbewältigung und Wiederaufbau. Man darf vermuten, daß eine OSZE mit diesen Aufgaben wirklich segensreich wirken könnte, wenn nicht die NATO – politisch gewollt – unendlich viel mehr Gewicht als diese hätte. Überhaupt ist es mit dem gesunden Menschenverstand nicht zu fassen, welche Unsummen für Militärtechnologie ausgegeben werden, während für Konfliktbewältigung, Friedensforschung etc. wirklich erschütternd wenig Mittel bereitgestellt werden.[1]

Der Anspruch der All(ein)macht

Die nun konkret werdende offensive „Eingreiftruppe“ führt endgültig dazu, daß in Zukunft die Grenzen zwischen Defensive und Aggression nicht mehr gezogen werden können, zumal jegliche Macht immer der Versuchung des Mißbrauchs ausgesetzt ist. Das beginnt schon bei der Definitionsmacht, wo man denn eingreifen müsse. Gerade die neue „nationale Strategie“ der US-Regierung nimmt sich hier alle Vollmachten heraus und schafft Begriffe wie „präventive Selbstverteidigung“, „defensive Intervention“ oder „präemptive Schläge“. Es wird mit dem letzteren Begriff ausdrücklich auch Militärgewalt beansprucht, die das Entstehen längerfristiger „Bedrohungen“ schon im Keim verhindern soll. Selbst der Einsatz von Atomwaffen zu diesem Zweck wird von den USA nicht mehr ausgeschlossen.

Für die US-Regierung sind die NATO-Partner militärisch von ganz untergeordneter Bedeutung. Wo immer möglich, würde diese US-Regierung ohne lästige Mitsprache jeden ihr nötig scheinenden „Job“ alleine erledigen und die NATO-Partner nur für die politische Unterstützung ihrer Aktionen einbinden. Auch die Osterweiterung erfüllt ähnliche Zwecke. In jedem Fall werden die sieben neuen Mitglieder noch einflußlosere „Partner“ sein und haben zugleich die Möglichkeit verloren, Sicherheitspolitik anders zu definieren, als es die NATO-Kernstaaten, allen voran die USA, tun. Auch Europa aber könnte ganz andere Wege gehen und sich auf seine wahren Aufgaben besinnen, wenn es nicht – eingebunden in die NATO und auch beeindruckt von der Weltmacht – immer wieder auf die Forderungen der US-Regierung einginge oder gar immer wieder in deren Sichtweise einschwenkte.

Blind gegenüber dem eigenen Wesen

Es ist seit dem 11. September oft gesagt worden: Die zivilisierte Welt entzieht sich selbst den einzigen Boden, den sie hat, wenn sie die Rechtsidee, auf die sie ihre Zivilisiertheit begründet, aushöhlt und selbst zerstört, um sich zu „schützen“. Nicht das ist das Schlimme, daß die übrige Welt sich immer mehr gegen die Großmacht „Westen“ aufbäumen wird, wenn diese das Wesentlichste, was sie zu geben hätte, selbst verleugnet. Sondern die eigene Tat selbst, die bewußte Rückkehr in eine Welt, in der der Stärkste überlebt und die meisten Rechte hat, das ist die eigentliche Katastrophe. Sollte dies der einzige Weg sein, den „Terror“ zu bekämpfen – die Welt hätte keinen Sinn mehr. Macht ruft Terror hervor und ist selbst Terror, eben deshalb erzeugt sie die Antwort, die ihr entspricht.

Man will sich dem Terror nicht ergeben und vermutet durchaus nicht unrichtig, daß jedes Zeichen von Schwäche den Terror nur noch ermutigt. Doch diese banale Halbwahrheit vor Augen, entgeht einem das eigentliche Geheimnis. Die Überwindung des Terrors führt tatsächlich durch die Verletzlichkeit, und das heißt auch, durch die Möglichkeit des Todes. Nur weil man das Wesen des Todes heute absolut nicht mehr versteht, kann man schlichtweg nur zu der Logik der äußeren Stärke kommen. Doch sieht man sogar schon im Alltag, daß diese Logik überall eskalieren muß. Und so wie man blind gegenüber dem Tod ist, so auch gegenüber dem eigenen Menschenwesen insgesamt. Gerade deshalb ist man auch blind dafür, daß man mit den eigenen Taten – lange vor dem 11. September – Gewalt über Gewalt in der Welt pflanzt.

Gewalt ist ein Extrem, und der Gegenpol ist jene Schwäche, die mit Sicherheit verletzt und unterdrückt wird. Verharrt man in dieser polaren Logik, will man natürlich immer auf der Seite der Stärke sein und reproduziert auf diese Weise den ewigen Kampf. Die heilbringende Mitte findet man nur durch die Selbsterkenntnis der immer schon von einem selbst ausgehenden Formen der Gewalt. Dann nämlich findet man auch zu einem Verständnis des Anderen und schließlich zu jener Mitte, die stark (also: wehrhaft) ist, ohne daß von ihr selbst Gewalt ausgeht.

Wenn in Europa nicht der Zugang zu dieser Mitte gefunden wird und dies nicht mit dem Mut verbunden ist, sich in diesem Punkt Amerika kompromißlos entgegenzustellen, wird die Rechtsidee und ihr folgend auch das äußere Recht mehr und mehr vollkommen verlorengehen, so sehr auch wohlklingende Europäische Verfassungen ausgearbeitet werden. Diese sind dann eben reine Worthülsen.

Fußnoten


[1] Die deutsche Bundesregierung stellt im Jahr 2000 für Bundeswehr und Rüstungsprogramme 60 Milliarden DM zur Verfügung, für Programme der zivilen Konfliktbearbeitung 0,0175 Milliarden oder 17,5 Millionen DM.