Startseite  >  Aufsätze und mehr  >  2002-11-06 Schulden Süden
06.11.2002

Die Schulden des Südens und die Schuld des Nordens

Veröffentlicht im „Goetheanum“ vom 6.12.2002 (Nr. 50). >> Langfassung.

Die Schuldenkrise der Dritten Welt ist in der Regel weit weg für das Bewußtsein eines Mitteleuropäers. Von Zeit zu Zeit liest man in der Zeitung über einen neuen Kredit, verbunden mit Auflagen des Internationalen Währungsfonds. Man liest über eine Wahl in einem südamerikanischen Land, bei der ein linker Kandidat gewinnt, in den die Menschen ihre Hoffnungen setzen. Aber wie es in den Ländern wirklich aussieht, überliest man – weil es höchstens zwischen den Zeilen steht. Was bedeutet es zum Beispiel, daß in dem einstigen „IWF-Musterland“ Argentinien inzwischen die Hälfte der Bevölkerung in Armut lebt? Was für Folgen haben Auslandsschulden von über 140 Milliarden Dollar für ein solches Land?

Ausmaß und Ursachen der Schuldenkrise

Argentinien ist nur ein schlimmes Beispiel. Sehr vielen Ländern in Schwarzafrika geht es ähnlich oder schlimmer, weil dort von Anfang an nichts vorhanden war und jetzt zu dem Nichts noch die Schulden kommen. Insgesamt haben die Entwicklungsländer am Ende des Jahrtausends 2.100 Milliarden Dollar Schulden und zahlen jährlich über 300 Milliarden Dollar allein an Zinsen. Der Schuldendienst entspricht für Afrika rund 30% der Exporterlöse, für Lateinamerika sogar rund 40%. Das bedeutet: Der Süden verkauft dem Norden Produkte und muß zusätzlich ein Drittel oder mehr seines Erlöses für den Schuldendienst bezahlen. Von dem, was übrigbleibt, kann immer weniger importiert werden, denn die Preise für die Produkte der Dritten Welt sinken ebenfalls seit Jahrzehnten.

Die Entwicklungsländer sind nicht nur gezwungen, mit ihren oft ähnlichen Rohstoffen um die Märkte zu konkurrieren, es wird ihnen sogar ganz direkt vom IWF auferlegt, ihre Exporte zu steigern, um „zahlungsfähig“ zu bleiben. Zusätzlich senkt der Norden ständig seinen Bedarf nach den Rohstoffen – durch Effizienzsteigerungen, Recycling oder synthetischen Ersatz. Dies alles läßt die Preise stetig fallen – der Süden muß froh sein, wenn man ihm überhaupt noch etwas abnimmt: Die Rohstoff-Prostituierte des Nordens.

Die Wurzeln der Schuldenkrise liegen in der Entwicklungseuphorie der 60er Jahre. Geld war im Norden reichlich vorhanden, und bevor es dort Inflation auslöste, gab man es lieber als billigen Kredit an den Süden, ihm versprechend – und dies oft auch wirklich glaubend –, daß mit dessen Hilfe eine schnelle Industrialisierung möglich ist. 1970 hatte die Dritte Welt 70 Milliarden Schulden – ein sehr überschaubarer Betrag. Doch dann wuchsen die Schulden von selbst. Zunächst kam die erste Ölkrise (1973/74) und alle, auch die Dritte Welt, hatten plötzlich deutlich mehr für diesen unersetzlichen Rohstoff zu zahlen. Der Norden brauchte – auch weil das „Wirtschaftswunder“ plötzlich zuende war – sein Geld jetzt vermehrt selbst. Die Privatbanken wurden ohnehin langsam mißtrauisch und verweigerten Anschlußkredite. Allgemein wurden Kredite zunehmend nur noch zu flexiblen Zinsen gewährt. Und die Zinsen stiegen, weil viele Industrieländer so ihre Inflation bekämpften (Verringerung der Geldmenge durch Verteuerung von Krediten) und zugleich Auslandskapital ins eigene Land locken wollten, da sie hohe Haushaltsdefizite hatten (v.a. die USA durch ihr gigantisches Aufrüstungsprogramm). Die Schuldenkrise der 80er Jahre ist so zu einem Großteil darauf zurückzuführen, daß der Norden über seine Kosten lebte!

Erschütternde Ungerechtigkeit

1985 hatte die Dritte Welt bereits über 1000 Milliarden Dollar Schulden, innerhalb von vier Jahren ein Anstieg um ein Drittel. Seit 1960 stiegen die Schulden im Mittel jährlich um über 18% - schneller als jeder andere wirtschaftspolitische Index. Es ist ein Rätsel, wie man ursprünglich denken konnte, daß diese Schulden jemals zurückgezahlt werden könnten. Dies wäre ja nur möglich gewesen, wenn der Süden nach erfolgreicher „Entwicklung“ hätte mehr exportieren dürfen, um die Kredite zurückzu­zahlen. Also dem reichen Norden mehr liefern, als von ihm importieren. Schon sachlich ist dies kaum machbar, aber der Norden selbst läßt dies bis heute auch gar nicht zu: Er will selbst möglichst viel exportieren, öffnet mit neoliberaler Rhetorik und politischer Macht gewaltsam die Märkte des Südens und schottet die seinen gerade für die wichtigsten Produkte des Südens nach wie vor ab. Das geschieht nicht nur direkt über Zölle, sondern auch über Subventionen der eigenen Konkurrenzprodukte: Die Subventionen der Landwirtschaft übertreffen die „Entwicklungshilfe“ bei weitem. Gäbe es also nur wirklich freie Märkte (ohne Zölle und ohne Subventionen) und nichts sonst, keine „Hilfen“ für die Dritte Welt – es wäre dieser unendlich viel geholfen. Man muß das einmal ganz klar durchdenken und sich vorstellen, was das heißt!

IWF und Weltbank erhalten seit 20 Jahren netto Geld von Ländern, die diese Institutionen ursprünglich wegen ihrer Schuldenprobleme um Hilfe gebeten hatten. Allein in den 80er Jahren erhielt der Norden 500 Milliarden Dollar an Zinsen – und verkündete weiterhin, das Blatt würde sich mit neuen Entwicklungsstrategien wenden. Als die Schuldenkrise nicht mehr übersehbar war, hat die Weltbank den Entwicklungsländern Kredite geradezu aufgedrängt, um die kommerziellen Banken vor Verlust zu bewahren. Und die Kredite wurden weiter gewährt, als sogar die Kapitalflucht in einigen Ländern offensichtlich geworden war. Die Privatbanken wiederum gaben in dem Maße weiter Kredite, wie sie darauf vertrauen konnten, daß der IWF sie im Fall einer Krise „freikaufen“ würde (z.B. 1997 in Indonesien mit einem neuen 40-Milliarden-Dollar-Kredit). Und die Weltbank gab noch bis in die jüngste Zeit Kredite für Großprojekte (Staudämme etc.), auf deren Unrentabilität unab­hängige Gutachter immer wieder hinwiesen.

Es waren unsere Experten, die der Dritten Welt das Konzept „Entwicklung durch Schulden“ verkauften. Später waren es unsere Finanzminister und Zentralbankvorstände, die in Gestalt des IWF dem Süden „Strukturanpassung“ verordneten. Nicht etwa die Weltwirtschaft sollte angepaßt werden, um dem Süden zumindest gleiche Chancen zu gewähren. Nein, der Weltmarkt und seine Tendenzen blieben wie sie waren, der Süden hatte einfach mehr zu exportieren, um die – ohne seinen Einfluß stets weiter steigenden – Schulden und Zinsen bedienen zu können. War die Gottlosigkeit des Nordens in der Zeit der Sklaverei offensichtlich gewesen, so war sie nunmehr wesentlich subtiler, weil auch die Sklaverei nicht mehr so benannt wurde. Doch der Süden mußte nun, statt für seine eigene Versorgung die Landwirtschaft zu entwickeln, Exportfrüchte erzeugen, die unser Nahrungsangebot bereichern. Damit die Tilgungen und Zinsen wenigstens teilweise bezahlt werden können, hat der Süden zu liefern, was wir nachfragen. Und da ihm Entwicklung verwehrt ist, bleiben bloß billige Arbeitskräfte („Arbeitsmigranten“), billige Ferienziele, Tropenholz, Südfrüchte und Soja für unsere Massentierhaltung. Man bedenke auch dieses zweimal, wenn nicht zehnmal: Der Süden beliefert den Norden, um Schuldzinsen zahlen, um den Schuldendienst leisten zu können! Nur das tote und ökonomiefixierte Denken hält den Süden für den größten Schuldner - in Wirklichkeit ist es der Norden: gegenüber der Dritten Welt und dem ganzen Planeten.

Man denke noch einmal an die Vorschriften des IWF - Bedingung für neue Kredite: Förderung ausländischer Investoren, Aufhebung von Importbeschränkungen, Kürzungen des Sozialetats (Bildung, Gesundheit etc., nicht etwa Rüstung). Man kann unter Entwicklung verschiedenes verstehen, doch eins ist sicher: Ohne Bildung und überhaupt ohne die Gewährleistung grundlegender sozialer Verhältnisse ist jede Form von Entwicklung unmöglich. Überhaupt stelle man sich vor, ein Staat im Norden stände solchen Eingriffen in seine Souveränität gegenüber. Er würde dem Aggressor den Krieg erklären oder bei der nächsten Wahl hinweggefegt. Der Süden aber steckt schon in der Schuldenfalle und muß alle „Maßnahmen“ über sich ergehen lassen. In den meisten Ländern, die den IWF-„Empfehlungen“ folgten, sanken die Reallöhne, stieg die Arbeitslosigkeit und sank die Lebensmittelproduktion pro Kopf der eigenen Bevölkerung. Es ist geschätzt worden, daß allein im Jahr 1988 in Schwarzafrika 320.000 Kinder an den Folgen von Preisverfall, Überschuldung und „Sanierungsauflagen“ starben.

Ein Insolvenzverfahren für Staaten

Heute genießen Schuldner überall im Norden Schuldnerschutz durch moderne Insolvenzregelungen. In solchen Verfahren wird dem Schuldner nicht nur das Existenzminimum gelassen, sondern es ist geradezu das Ziel, ihn wieder in die Wirtschaft einzugliedern. Ein sachgemäßer Kompromiß führt zur Streichung aller unbezahlbaren Schulden. Sogar ausländische Geldgeber (auch Regierungen!) sind an diese Regelung gebunden, sobald das Verfahren einmal eröffnet wurde. In Deutschland wurde die Möglichkeit einer Restschuldbefreiung auch für Privathaushalte eingeführt, nachdem aggressive „westliche“ Verkaufsmethoden in den neuen Bundesländern zu einer politisch nicht mehr tragbaren Zahl überschuldeter Privathaushalte geführt hatten. In den USA gibt es sogar für öffentliche Körperschaften wie Gemeinden ein Insolvenzverfahren („Chapter 9“, 1975 meldete z.B. New York Zahlungsunfähigkeit an). – Nur für Staaten existiert es noch nicht (obwohl z.B. Deutschland 1953 faktisch eine Insolvenz gewährt wurde, nachdem der Schuldendienst – heute muß man sagen „nur“ – 5% seiner Exporteinnahmen ausmachte).

Die Idee einer Insolvenzregelung für Staaten wurde schon bald nach Beginn der Schuldenkrise von vereinzelten Autoren vorgebracht und etwa durch die Mexikokrise 1994/95 neu angeregt. 1996 stellten IWF und Weltbank zunächst eine Initiative vor, nach der 41 sogenannte hochverschuldete arme Länder (HIPC, die meisten in Schwarzafrika) einen teilweisen Schuldenerlaß bekommen würden, wenn sie erfolgreich eine sechsjährige „Strukturanpassung“ durchlaufen hätten. Das Ziel war allerdings ausdrücklich, die Schulden auf ein „tragfähiges“ Niveau zu reduzieren, in dem das Land gerade wieder „zahlungsfähig“ ist. Eine NGO-Studie von Herbst 2002 zeigt, daß die Initiative nur bei höchstens 10 der über 40 Länder überhaupt greifen wird (die anderen haben u.a. weniger Wachstum als erwartet, so daß die Schuldenlast weiter untragbar ist, oder der Prozeß der „Strukturanpassung“ erfüllt nicht die Anforderungen des IWF, so daß die Schuldenentlastung gar nicht gewährt wird).

Im Jahr der Asienkrise, 1997, brachte der südafrikanische Erzbischof die Idee der illegitimen Schulden („odious depts“) in die Diskussion. Dabei geht es zum einen um Kredite an diktatorische Regime, zum anderen aber um solche an korrupte Regierungen (sogar laut Weltbank fließen bis zu 30% der staatlichen Kredite direkt in die Taschen korrupter Beamter). 1998 fordern die sogenannten Erlaßjahr-Kampagnen gemeinsam ein „Faires und Transparentes Schiedsverfahren“ (FTAP). Im Jahr 2000 regt dann UN-Generalsekretär Kofi Annan in seinem Millenium-Report ein derartiges Verfahren an. Schließlich kündigte die Vizepräsidentin der Weltbank, Anne Krueger, im November 2001 erstmals „einen neuen Ansatz zur Regelung souveräner Schulden“ an. In weiteren Verlautbarungen betonte sie jedoch, daß der IWF als privilegierter Gläubiger zu behandeln sei und die Gläubiger selbst mit qualifizierter Mehrheit über die Entschuldung entscheiden sollten (das Schiedsgericht hätte nur die Beachtung von Verfahrensregeln zu überwachen). 

Faire Verfahren und illegitime Schulden

Ganz anders ist das Konzept der Erlaßjahr-Bewegungen und NGOs: Ein unparteiisches Gremium hat erstens die Legitimität bzw. Illegitimität von Schulden festzustellen, zweitens ein Existenzminimum der Bevölkerung festzulegen, das vom Schuldendienst nicht beeinträchtigt werden darf. Das ganze soll ein öffentliches Verfahren sein, an dem die Zivilgesellschaft unmittelbar teilnimmt. Die Anhörung der verschiedensten Betroffenen macht gerade die Beurteilung und Abwägung der verschiedenen Ansprüche und Bewertungen möglich. Auf dieselbe Weise erfolgt auch eine transparente Selbstverpflichtung des Schuldnerlandes in bezug auf Sozialausgaben, deren Umsetzung wiederum von der Zivilgesellschaft überprüft wird.

Illegitime Schulden sind nach mehrheitlicher Ansicht im Schrifttum solche Schulden, die sich ohne Zustimmung der Bevölkerung und mit vollem Wissen des Gläubigers gegen die Interessen der Bevölkerung eines Staates richten. So haben etwa die weltweit von der Weltbank finanzierten oder durch Exportbürgschaften abgesicherten Großstaudämme die angestammte Bevölkerung vertrieben, Wälder zerstört und Ackerflächen unfruchtbar gemacht - nun müssen die Bürger dafür noch Zins und Tilgung zahlen. In den Philippinen errichtete eine US-Baufirma nach Bestechung eines Marcos-Günstlings ein Atomkraftwerk auf einer Erdbebenspalte nahe dem Pinatobu (der 1991 ausbrach). Obwohl alle Fakten den Gläubigerbanken bekannt waren und das Kraftwerk nie in Betrieb ging, zahlen die Philippinen heute 100 Millionen Dollar Zinsen jährlich allein für diese „Investition“.

Aus der tiefen Schuld des Nordens heraus sind Schuldenerlasse ein wichtiger und erster Schritt in Richtung schlichter Gerechtigkeit – von Milde kann keine Rede sein. Aber selbst ein Erlaß würde morgen die nächste Schuldenkrise im Gefolge haben, wenn sich sonst nichts ändert. Das Schuldenproblem hat Entwicklung in der Dritten Welt bereits weitgehend unmöglich gemacht, indem die Wirtschaftsstrukturen ganz auf den Export ausgerichtet worden sind und die einheimische Wirtschaft schon lange verdrängt wurde. Noch allgemeiner gesehen ist die Schuldenkrise Teil eines Wirtschaftssystems, das ungerechten Handel, Finanzspekulation, nicht nachhaltige Konsummuster und ökologische Zerstörung zuläßt, wenn nicht sogar darauf basiert. Daher kann nur eine radikale Reform Veränderung bringen. Aber man erinnere sich: Allein eine Öffnung der Märkte des Nordens wäre um ein Vielfaches bedeutender als die „Entwicklungshilfe“. Doch heute sehen die hochentwickelten Staaten des Nordens ihr eigenes wirtschaftliches Überleben akut gefährdet, wenn sie den bitterarmen Ländern des Südens auch nur das zugestehen sollten, was sie von ihnen regelrecht erzwingen: einen freien Markt.